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Steuermann ohne Kompaß

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Der Wettergott hat es in diesem Sommer ganz besonders schlecht mit England gemeint. Schon im Juli war mehr als das Doppelte des für diesen Monat normalen Regenfalls zu verzeichnen, und der August, mit seinen für die Jahreszeit ungewöhnlich heftigen Stürmen, machte es nicht besser; sehr zum Leidwesen der Landwirte, die ihre in warmen Maiwochen gehegte Hoffnung auf eine überdurchschnittlich gute Ernte zerstört sahen, und zur gelinden Verzweiflung ungezählter Urlauber. Begreiflich, daß eine solche Ungunst der klimatischen Verhältnisse nicht dazu beitragen konnte, die Mißstimmung, die Malaise, die seit geraumer Zeit und in steigendem Maße auf dem englischen Volke lastet, zu lindern.

Dieses Unbehagen ist nicht etwa auf die breite Schichte der kleinen „Kapitalisten“ beschränkt, die darauf angewiesen sind, von den bescheidenen,, ziffernmäßig gleichbleibenden Einkünften aus ihren früheren Ersparnissen zu leben und im ständigen schweren Kampf um die Erhaltung ihres budgetären Gleichgewichts kaum noch ein Lächeln aufbringen können, wenn ihnen die offizielle Statistik weismachen will, daß die Lebenshaltungskosten von Juni 1947 bis Juni 1956 „nur“ von 100 auf 157 Prozent angestiegen sind. Unbehagen herrscht in den führenden Kreisen der beiden großen Parteien, bei den Konservativen, die nach jeder Ersatzwahl der letzten Zeit einen bedrohlichen Rückgang ihrer Anhängerzahl feststellen mußten, ebenso wie bei den Sozialisten, die gut genug wissen, daß mit ihren seinerzeit so erfolgreichen Wahlschlagern der Verstaatlichung und des „fair share for all“, des „gerechten Anteils für jedermann“, heute keine Lorbeeren mehr zu holen wären, und auf ihrer bisher ergebnislosen Suche nach einem neuen, zugkräftigen Programm wenig Trost aus dem Gedanken schöpfen können, daß die Konservativen seit ihrem Wahlsieg von 1953 auch nicht viel mehr zu tun wußten, als den bis dahin von Labour gesteuerten Kurs, den sie von den Oppositionsbänken aus aufs schärfste kritisiert hatten, im Wesentlichen beizubehalten. Und Unruhe und LInbehagen machen sich ganz besonders in der industriellen Sphäre bemerkbar: unter der Arbeiterschaft aller Kategorien und nicht weniger bei den Spitzenfunktionären des Trades Union Congress, der gewerkschaftlichen Dachorganisation.

Vor fünf Monaten ging der Generalrat des T. U. C. daran, einen ausführlichen, alle Aspekte der industriellen Produktion und des Lohn-und Preisproblems umfassenden Bericht auszuarbeiten, um ihn dem im September zusammentretenden 88. Jahreskongreß des britischen Gewerkschaftsbundes vorzulegen. Der Bericht ist noch nicht fertiggestellt; nicht einmal der Generalrat ist sich über das Kernproblem im klaren. S6 wird es wohl weiterhin jeder der ISO affinierten Gewerkschaften überlassen bleiben, ob sie nach wie vor ihre wichtigste Aufgabe in der Erhebung und Durchsetzung von Lohnforderungen erblicken will oder sich dazu entschließt, die gesamtwirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen; die Tatsache vor allem, daß die englische Wirtschaft heute in einem unerbittlichen Konkurrenzkampf steht, dessen Ausgang eine nationale Existenzfrage bedeutet. Einem Teil der Arbeiterschaft ist dies, wie sich jüngst bei dem geradezu selbstmörderischen Streik in der englischen Automobilindustrie gezeigt hat, klar zu Bewußtsein gekommen. Aber eben nur einem Teil; und solange nicht die große Mehrheit der Arbeitnehmer und der heute den echten Anliegen der Arbeiterschaft weitgehend entfremdeten Gewerkschaftsfunktionäre zur Einsicht gelangt, daß nur durch erhöhte Leistung von Mensch und Maschine, durch erhöhte Produktivität, mit allem, was dieser Begriff einschließt, der Lebensstandard der breiten Massen weiter verbessert oder auch nur auf seinem gegenwärtigen Niveau gehalten werden kann, und daß ein jeder, auch der letzte Lohnempfänger, mithaftbar ist und mitzählen muß für die ungeheuren Verluste, die dem Nationaleinkommen aus den gewerkschaftlieh vorgeschriebenen Beschränkungen der Arbeitsleistung und den vielen Millionen durch „Sitzstreiks“ und offizielle oder nichtoffizielle Ausstände alljährlich versäumten Arbeitstagen erwachsen, solange wird der kürzlich von Premierminister Eden ausgesprochene Satz nunallzu wahr bleiben: „Linser Land verzehrt mehr, als es erzeugt. . . wir sind in tödlicher Gefahr, fortschreitend zu verarmen.“

Aber so richtig, wenn auch verspätet, diese Worte waren, so hat der Premier wenig getan, um den Ernst der wirtschaftlichen Lage allen Schichten der Bevölkerung, und der Arbeiterschaft im besonderen, eindringlich vor Augen zu führen, und noch weniger, um den Weg kenntlich zu machen, auf dem er einer weiteren Verschlechterung dieser Lage zu begegnen hofft. Das ist ein Vorwurf, der sehr allgemein gegen ihn erhoben wird und sich übrigens nicht allein auf die Art seiner Behandlung oder vielleicht besser gesagt, Nichtbehandlung wichtigster wirtschaftlicher Fragen einschließlich des Problems der „human relations“ in der Industrie beschränkt. Und hier liegt auch zutiefst der Grund des in weitesten Kreisen herrschenden unguten Gefühls, daß die Regierung Eden auf keinem Gebiet so recht weiß, was sie will; daß sie deshalb eine Von-Tag-zu-Tag-Politik der Opportunität nach der Richtung des jeweils geringsten Widerstandes verfolgt: mit anderen V/orten, daß das Land unter Edens Premierschaft einer zielbewußten, nach einem festen

Konzept vorgehenden Führung entbehrt. So war die Stimmung bis zum 27. Juli. Und dann brachte Oberst Nassers Theatercoup einen Umschwung.

Wer in den letzten Augusttagen 1939 einen der von London-Waterloo nach Portsmouth fahrenden Züge benützte und jetzt vor vier Wochen die gleiche Fahrt unternahm, konnte von den in die Flottenbasis einrückenden Reservisten und Urlaubern der königlichen Kriegsmarine fast wörtlich dasselbe zu hören bekommen; nur daß es damals „der Mann Hitler“ und jetzt „der Mann Nasser“ war, den man „stoppen“ und „zur Räson bringen“ müsse. Damit drückten die Seeleute ein Empfinden aus, welches in diesen Tagen wohl in ganz England vorherrschend war; frei von jedem Hurra-Patriotismus, aber nicht ohne eine Beimischung von Stolz über das plötzliche Erwachen des schon fast tot geglaubten britischen Löwen, der nun zeigen würde, daß er es satt habe, in den Schwanz gekniffen zu werden. Aber merkwürdig, von dem Augenblick an, da Eden in seiner Rundfunkansprache vom 8. August versucht hatte, eine Parallele zwischen Hitler und dem ägyptischen Staatschef zu ziehen und letzteren als Nazi und Diktator gleicher Art. und gleicher Gefährlichkeit hinzustellen, trat ein neuerlicher Stimmungswechsel ein: das Bemühen eines Großteils der englischen Presse, die vom Premier ausgegebene Parole volkstümlich zu machen, konnte daran nichts ändern. Sir Anthony hatte eben übersehen, daß das an Präzision gewöhnte englische Volk Uebertreibun-gen ebensowenig liebt wie lose Phrasen; und er hatte die Denkfähigkeit dieses Volkes unterschätzt. Man begann sich Fragen zu stellen. War denn Nasser, der noch keine Aggression verübt und dessen Fellachenarmee es nicht einmal gewagt hatte, mit den numerisch weit unterlegenen Truppen des kleinen Staates Israel ernstlich anzubinden, als Gefahr für Großbritannien wirklich in einem Atem zu nennen mit dem seinerzeitigen deutschen „Führer“, der schon lange vor Kriegsausbruch 1939 mit dem Einmarsch ins Rheinland und der Invasion Oesterreichs den Weg bewaffneter Gewalttaten beschritten hatte, gestützt auf die Machtmittel einer großen, hochindustrialisierten und militärisch tüchtigen Nation? Und was verstand Eden, genau genommen, mit den Bezeichnungen „Nazi“ und „Diktator“? Wenn diese Ausdrücke auf Nasser angewendet werden konnten, warum dann nicht, und mehr noch, auf jene großmächtigen Herren aus dem Osten, die erst unlängst als hochgeehrte Gäste der britischen Regierung und der Königin in London geweilt hatten? Oder nicht auch auf viele andere Staatenlenker unserer Zeit, mit denen britische Staatsmänner und Diplomaten ganz friedlich an einem Tische beisammen sitzen?

Sir Anthony hat auch das Erinnerungsvermögen seiner Landsleute unterschätzt, jener vielen zumal, die lange Jahre in Krieg und Frieden in der arabischen Welt verbracht und die dortige Entwicklung seither genau verfolgt haben; die nicht vergessen haben, daß es der jetzige Premier und damalige Außenminister Eden war, der ungeachtet schärfsten Widerspruchs in den Reihen seiner eigenen Partei und entgegen dem Rat militärischer und politischer Sachverständiger im Jahre 1954 die Räumung der Kanalzone und ihre Uebergabe an Aegypten durchgesetzt und damit genau das erreicht hat, was er jetzt als durchaus untragbar bezeichnet und mit Hilfe einer Demonstration bewaffneter Stärke wieder aus der Welt schaffen will — den Zustand nämlich, daß es im Belieben einer einzigen Macht, also Aegyptens, und eines,einzigen Mannes, zur Zeit also Oberst Nassers, steht, die Durchfahrt durch den Kanal von Suez zuzulassen oder zu sperren. Gewiß, die Freiheit dieses Wasserweges ist für den Weltverkehr, und nicht allein für Großbritannien, zu wichtig, als daß nicht sehr ernste Anstrengungen gemacht werden müßten, um sie durch eine internationale Garantie zu sichern; soweit zumindest zu sichern, als der LImstand es gestattet, daß Aegypten immer in der Lage sein wird, über den Kopf einer jeden internationalen Kon-tiollbehörde hinweg, die Durchfahrt zu verhindern. Nichts konnte daher verfehlter sein, so argumentiert man in den Kreisen Englands, die wirklich wissen, um was es hier geht, als eine Drohung mit militärischen Machtmitteln, die ja doch nicht zum Einsatz gebracht werden könnten, ohne — ganz abgesehen von der Gefahr einer weit um sich greifenden Konflagration — die Durchfahrt durch den Kanal und den Fluß arabischen Oels sofort zu unterbinden und Großbritannien und dem gesamten Westen den tödlichen Haß aller arabischen Völker zuzuziehen. Dafür ist das Verhalten zweier der bewährtesten und treuesten Freunde Englands, des Königs Idris von Libyen und des irakischen Regierungschefs, Nuri, ein genügend deutlicher Fingerzeig.

Es wird heute wenige Menschen in England geben, die an den tatsächlichen Ausbruch einer bewaffneten Auseinandersetzung um den Suezkanal glauben, um so mehr aber, die sich die sorgenvolle Frage stellen, wie ihr Land und Frankreich sich nun aus der Affäre ziehen könnten, ohne den letzten Rest ihres Ansehens und Einflusses im nahöstlichen Raum zu verlieren. Lind das ist eine Frage von vitaler Bedeutung für alle Völker des Westens; denn hier steht die Zukunft Europas auf dem Spiele.

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