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Stolz auf die eigene Geschichte

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Während man im Ursprungsland vergeblich nach revolutionären Äußerungen im gesellschaftlichen und kulturellen Leben sucht, wird immer stärker das Bekenntnis zur eigenen Geschichte spürbar. Das hat zweifellos zunächst der „Vaterländische Krieg“ gegen das nationalsozialistische Deutschland bewirkt, doch wird es heute mit einer gewissen Systematik betrieben. Peter I. und Katharina II. werden auch in den sowjetischen Lehrbüchern als „Große“ bezeichnet. Bewundernswert, mit welcher Liebe und Sorgfalt die durch Kriegseinflüsse zerstörten Schlösser beispielsweise in und um Leningrad wiederhergestellt werden, aber auch historisch wertvolle Basiliken, wie etwa die des Kreml, wenn sie auch nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck, dem Gottesdienst, gewidmet sind.

Der Sowjetbürger ist stolz auf die Weltmachtstellung und die Errungenschaften seines Landes, von deren Größe eine eigene Ausstellung in Moskau kündet. Er ist aber auch stolz auf seine Geschichte. Der Staat unterstützt diese Tendenz und sorgt nur, daß die Oktoberrevolution von 1917 im Bewußtsein seiner Bürger als der Höhepunkt und die größte Wende zum Guten im der russischen Geschichte verankert bleibt. Lenin genießt deshalb gottähnliche Verehrung, und neben ihm darf es keine anderen Götter geben. Sein Bild hängt in jedem öffentlichen Gebäude, schmückt jede Ausstellung und jede größere Straße. Zu seinem Mausoleum vor der Kremlmauer auf dem Roten Platz pilgern auch heute noch täglich Tausende und stellen sich stundenlang in Schlangen an.

Stalin dagegen, dessen Bild noch vor Jahren überall neben dem Lenins prangte und dessen Mumie auch neben der Leninschen im Mausoleum ruhte, ist heute daraus verbannt. Sein Bild ist in keinem einzigen öffentlichen Gebäude mehr zu sehen. Ihn hat das biblische Wort von der Vergänglichkeit des Ruhms mit der ganzen Wucht getroffen. Er, der mit der gleichen Härte wie Peter I. die Bevölkerung seines Reiches zu etwas zwang, was ihr innerlich widersprach, ist schon heute, eineinhalb Dezennien nach seinem

Tod der Vergessenheit preisgegeben, obwohl noch nach Bekanntwerden seines Todies die einfachen Leute auf der Straße weihten, als ob der Vater des Vaterlandes gestorben und der Friede dier Welt gefährdet sei.

Das Andenken Peter des Großen dagegen wird hochgehalten. Er steht heute neben Lenin als die stärkste Herrschergestalt der russischen Geschichte dar. Wohl trägt auch seine von ihm miit den Opfern Zehntausender von Toten errichtete Stadt nicht mehr den Namen St Petersburg, sondern nahm den Namen Lenins an, des Messias der Sowjetunion, demgegenüber auch Karl Marx nur den Rang eine® Propheten einndmmt. Leningrad ist jedoch immer noch die Stadt Peters des Großen und Katharinas II. Der Stolz Leningrads, die herrlichen Paläste und Plätze, zeugen für die „Großen“ unter den russischen Heirrscher- gestaiten. Selbst das Kirow-Ballett, benannt nach einem der populärsten KP-Führer Leningrads, hat in einem ganz anderen Ausmaß als das Moskauer Bolschoi-Ballett einen Hauch von Erinnerung an jene zaristische Zeit bewahrt, in der es als das berühmteste der Welt galt. Und die Stadtverwaltung sorgt nicht nur für die vorbildliche Instandsetzung und Pflege der zaristischen Prachtbauten und Anlagen, sondern trug auch ihren Architekten auf, bei allen Neubauten auf die architektonische Seele und Silhouette der Stadt zu achten.

Diffiziler Kirchenkampf

Seit zwölf Jahren hat sich auch das Verhältnis von Kirche und Staat in der Sowjetunion entscheidend gewandelt. Die Zeit der Verfolgung scheint beendet zu sein. Die russisch-orthodoxe Kirche hat ihren Lebensraum gefunden, wenn dieser auch überaus klein geworden ist. Sie hat sich aus der Politik völlig zurückgezogen. Wenn sie politische Erklärungen abgibt, wie etwa über Vietnam und den Frieden, bedeutet dies eine Unterstützung der offiziellen Regierungspolitik und bleibt auf außenpolitische Themen beschränkt. In der Innenpolitik gibt es für die russisch-orthodoxe Kirche wenigstens offiziell keine Gewissensfrage.

Der priesterliche Nachwuchs ist für das Riesenreich klein. Es gibt insgesamt drei Seminare — 1958 waren es noch acht — und zwei theologische Akademien in Sagorsk und Leningrad. Zum Vergleich: Das kleine Österreich! hat vier theologische Fakultäten und mehrere theologische Hauslehranstalten. Im Ge- gegensatz zu früheren Zeiten dürfte der Nachwuchs eine gute Schulung erhalten. Dies ist auch notwendig, weil der Atheismus seinen Kampf wesentlich diffiziler führt als noch vor einem Jahrzehnt. Ich sah in der ehemaligen Kasan-Kathedrale in Leningrad das Museum für „die Geschichte der Religion und des Atheismus“‘. Hier wird die Entwicklung der christlichen Religion in Abbildungen und Texten dargestellt, wobei zu allen Hauptereignissen und Hauptlehren des Christentums, wie etwa der Geburt und Auferstehung Jesu oder dem Dogma der Dreifaltigkeit, Parallelerscheinungen in anderen Religionen aufgezeigt werden. Der Zweck ist durchsichtig genug: Die christliche Religion gründet sich ebenso auf Mythen wie die asiatischen und afrikanischen Religionen. Vor der Wissenschaft hält sie nicht stand. Sie hat deshalb ihren Sinn verloren, sobald der Mensch geistig aufgeklärt und sozial befreit ist. — Wer dem Christentum in der Sowjetunion noch Chancen gibt, muß an ein Wunder glauben.

Der Lebensstandard der Bevölkerung hat sich ln den letzten Jahren wesentlich gebessert, wenn er auch noch! wteit von dem der westlichen

Länder einschließlich dem Österreichs entfernt ist. Daran ist nicht nur das Zurückstellen der Konsumgüterindustrie schuld, sondern mehr noch das Wirtschaftssystem und der Verteilungsapparat. Die Leute stellen sich in den Großstädten immer nochj in Schlangen an. Das Warenangebot ist • gering und die Schaustellung der Waren zeigt, daß die Geschäfte nicht um den Kunden kämpfen müssen. Persönliche Wünsche beispielsweise bei der Auswahl von Fleischsorten gibt es nicht. Es werden die Stücke einfach hfer- untergeschnitten und den Käufern der Reihe nach zugetedlit. Auf dem Gebiet der Herstellung, der Verteilung und des Verkaufs von Kon- sumgütem versagt das System der Sozialisierung.

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