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Straßburg in kritischer Beleuchtung

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An jene Kritiken, die in der Straßburger Europa-Rednertribüne nichts anderes als eine Gelegenheit für Politiker aus aller Welt sehen, brillante Redner, aber sehr allgemeine Ideen anzuhören, eine Meinung, die allerdings vornehmlich als eine in England angesehen wird, knüpft A. P. Ryans mit einem Artikel im .Osservatore Romano“ an.

Die Idee von der Einheit Europas sei nicht neu, bemerkt Ryans, denn sie sei bereits von Aristide Briand und Winston Churchill vorgetragen worden. Aber Anthony Eden habe sich zum Sprachrohr vieler gemacht als er sagte: „Um die Welt gegenüber der Atomenergie zu schützen, sehe ich keine definitive Lösung und vermag auch keine anzugeben, es sei denn, wir alle bequemten uns zu einem Verzicht auf unsere Auffassung über die Souveränität.“ Dieser Wunsch nach Uberwindung des Nationalismus sei in vielem lebendig, doch frage es sich, auf welche Weise er sich am besten verwirklichen lasse. Die Idee eines neuen Europa habe beträchtlich an Boden gewonnen, aber noch niemand habe eine Antwort gefunden auf die Frage: „W i e soll nun diese Einheit Europas s c h 1 u ß e n d 1 i c h aussehen?“

Bei der ersten Versammlung in Straßburg hätten viele Delegierte hochfliegende Pläne gehegt und geglaubt, dahin gelangen zu können, daß eine europäische Zentralregierung gebildet werde. In Wirklichkeit mußte sich der Rat mit einer weit bescheideneren Rolle begnügen und streng darauf achten, die Grenzen einer beratenden Körperschaft nicht zu überschreiten.

Des weiteren sei der Konflikt ausgebrochen zwischen den sogenannten „Föderalisten“ und den „Funktionalisten“. Die Föderalisten streben eine verfassungsmäßig verankerte Verschmelzung der verschiedenen Staaten an, während die Funktionalisten internationale Verbindungen nur für bestimmte Zwecke militärischer oder wirtschaftlicher Natur fördern, wobei die Souveränität der beteiligten Staaten auf allen anderen Gebieten intakt bleiben würde. D i e Labour-Party würde niemals i t g e n d e i n e Verpflichtung eingehen, die eine Einschränkung ihrer Freiheit oder der Freiheit anderer auf dem Wege zur Durchsetzung des demokratischen Sozialismus und er dafür erforderlichen wirtschaftlichen Maßnahmen bedeute.

Der französische Sozialist Andre Philip hat in Straßburg die Haltung seiner englischen Kollegen heftig kritisiert und Ryans ist auch der Meinung, die Europäer in Sozialisten und Nicht-sozialisten einzuteilen, habe dem Europarat zweifellos geschadet, aber die Ver-

treter der Labour-Party hätten vielmehr die richtige Perspektive aufgezeigt, wenn sie bemerkten, daß England eben nicht eine kleine übervölkerte Insel am Rande der Westküste Kontinentaleuropas sei. „In Wahrheit ist England der Mittelpunkt einer Völkergemeinschaft in allen Teilen der Welt. Die Wirtschaft der Länder des britischen Commonwealth ergänzt die

Wirtschaft Englands In einer Weise, wie es die Wirtschaft der Länder Westeuropas niemals vermögen wird. Außerdem ist England der Bankier des Sterlingblocks, das heißt des größten multilateralen Handelssystems, das es überhaupt gibt.“

Hinsichtlich dessen, was bisher in Straßburg erreicht worden sei, glaubt Ryan feststellen zu müssen, daß die Worte „erhebend, aber konfus“ aufs beste die Atmosphäre der Diskussionen von Straßburg kennzeichnen. Der britische Autor der Ausführungen im „Osservatore Romano“ bemerkt abschließend: „Zwischen diesen erhebenden Empfindungen und einem brauchbaren Plan, der diese Empfindungen, die jeden zum Freund seines Nachbarn machen möchten, in die Tat umsetzen würde, gähnt freilich ein Abgrund, der immer noch weit und tief ist. Der Wert des Rates zu Straßburg besteht darin, daß dort um diese Probleme gerungen, Enthusiasten wie Kritikern Gelegenheit gegeben wird, die eigenen Gedanken zu klären. Höchstwahrscheinlich wird dieser Prozeß noch viel Zeit beanspruchen, es lohnt sich aber trotzdem, ihn in Gang zu halten.“

Wenn diese Beurteilung die Meinung einer maßvollen Mitte der englischen Öffentlichkeit in der Tat gegenüber dem Europaplan darstellen ßollte — und man wird in dieser Auffassung der zitierten Darlegungen nicht fehlgehen —, dann hieße dies allerding, daß noch viele Ladungen von papierenen Entwürfen und Protokollen notwendig sind, um den tiefen Abstand zwischen Wollen und Wirklichkeit, zwischen Plan und Ausführung auszufüllen. Die Aussicht wäre trübe. Aber es bleibt die Frage, ob England sich in der Tat so weit von dem übrigen Europa entfernen, seine in anderen Zonen mit bösem Erfolg durchgeführte Politik der Aussiedlung fortsetzen kann.

Fladnitz, die Welt

Die vergangenen vierzehn Tage waren gewiß nicht ereignisarm. Am Gewitterhimmel der Weltpolitik standen als düstere Sterne neben dem alten Fanal Korea der persische ölkonflikt, die Flucht der englischen Diplomaten, die Ungewißheit über den Weg Frankreichs und die bittere Gewißheit neuer konsequenter Erdrosselung der Menschenrechte im ungarischen Bischofsschauprozeß. Dennoch war kaum einer dieser schicksalsschweren Tatsachenketten in unseren Zeitungen eine solche Publizität zugewendet wie diesen „Fladnitzern“. Zwischen erster und dritter Seite, an Umfang unüberbietbar, wandern sie durch das Bewußtsein unserer erschreckt aufgescheuchten Öffentlichkeit — der Weltöffentlichkeit, wie Einwohner dieses kleinen steiermärkischen Ortes verdrossen vermerken. Ein düsterer Ruhm: vier des mehrfachen grausamen Mordes beschuldigte junge Kerle: Bauern, Landarbeiter. Die Kaltblütigkeit ihrer „Taten“, die Unbekümmertheit, die sie im Gerichtssaal zur Schau tragen, vermöchte, wenn dies möglich wäre, noch die Räuberhelden der Ein-Schilling-Romane, die Stars der Mörderfilme zum Erröten bringen.

Ein bitterer Fall. Für alle Beteiligten. Verständlich erscheint so der Wunsch ehrsamer Fladnitzer Bürger, ihr Dorf von diesem Schandruhm zu befreien: sie beantragen also eine Namensänderung für ihren Ort. Wer will in Handel und Wandel mit einer Heimstatt gefürchteter Verbrecher zu tun haben? Verständlich die Klage, die Sorge der Fladnitzer, der Fladnitzer Bürger. Dennoch drängt sich eine Bemerkung auf: Ist es mit einer Namens-, mit einer Firmenänderung getan? Nein, es geht nicht um einen Namen. Es geht um uns alle, wir alle sind befragt: Wie konnte solches geschehen ...? Wie wachsen heute junge Menschen heran, jenseits jeder menschlichen Empfindung? Das also ist die Frage, ist das Problem: Was tun wir jetzt da dieser Prozeß zu Ende ist, um dieser inneren Barbar 1-sierung Einhalt zu gebieten, die vor uns allen einen langen blutigen Zeigefinger auf ge-

reckt hat? Was tun wir in unseren Schulen, in unserem Pressewesen, in unseren Kinos, ein jeder von uns — Tag um Tag gegen das Scheusal, das uns in Fladnitz in furchtbarer Wirklichkeit seine Fratze gezeigt hat?

nämlich ein armenischer Heimkehrer folgendes seinen Landsleuten und Freunden versprochen:

.Ihr werdet wahrscheinlich nie erfahren, wie es uns wirklich geht. Aber ich werde Buch eine Photographie von mir schicken.

Laufe ich auf dem Bild, dann geht es mir ausgezeichnet, gehe ich, dann ist es erträglich, stehe ich, danin ist es schon unerträglich. Wenn ich aber sitze, dann fst es einfach furchtbar.“

Sprach's und verschwand hinter dem Eisernen Vorhang.

Vor drei Wochen kam die angekündigte Photographie: Der Ausgewanderte lag der Länge nach auf dem Boden.

In Beirut wundern sich indessen noch immer einige Herren, warum ihr Vorzimmer leer steht..,

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