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Strohsack und Gitter

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Rom, im Februar

Einige Monate ist es her. Unter den Gästen einer Trattoria in Neapel erhob sich einer und trat zu den Volkssängern, die eben ein Loblied auf das blaue Meer, die Glutaugen eines Mädchens und das Feuer des Vesuvs anstimmen wollten. Alle Augen richteten sich auf ihn, denn der Gast trug die braune Mönchskutte. Er winkte dem Gitarristen zu und begann zu singen: ein voller, tragender Tenor. Aber was für ein merkwürdiges Lied! Es hieß „Strohsack und Gitter“ und erzählte von der Not der Eingekerkerten, von ihrer Sehnsucht nach dem freien Himmel, von ihrem Groll gegen die menschliche Gesellschaft. „Ah, Padre Blandino! Bravo, Padre Blandino!“ Die Gäste applaudierten dem Franziskaner, denn sie hatten ihn nun erkannt: Fadre Blandino della Croce hat sich wegen seines Apostolats unter den Häftlingen des Zuchthauses von Procida einen Namen gemacht. Für sie singt er in den Kneipen und spielt auf der Violine. Er war es, der im vergangenen Jahr Benjamino Gigli dazu gebracht hatte, im Teatro San Carlo in Neapel ein Konzert zugunsten jener Italiener zu geben, die von alliierten Militärgerichten wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurden und nun auf der Insel Procida ihre Strafe abbüßen

An jenem Abend nun, da Padre Blandino in der Trattoria „Strohsack und Gitter“ sang, saßen dort an einem Tisch drei elegant gekleidete Männer, nicht mehr jung, mit grauen Haaren und nicht nur vom Alter gezeichneten Zügen. „Padre Blandino, dieses Lied, wie oft haben wir es drüben in Sing-Sing gesungen. Amerika hat uns weggeworfen wie alte Schuhe. Und Italien? LInsere Heimat will uns nicht kennen. Wie sollen wir leben? Sagen Sie uns, Padre, wie wir leben sollen.“ Die drei waren das, was man „schwere Jungens“ nennt: Lucky Luciano, richtiger Sal-vatore Lucania, über den der Senator Kefauver in seinem Bericht im Jahre 1953 geschrieben hat, daß er an der Spitze jener Liste von Leuten stehe, die für jeden ehrlichen Amerikaner eine Beleidigung darstellen. Leonardo Arena und Vincenzo Passafora, zwei ebenfalls aus den Vereinigten Staaten verwiesene Ex-Gangster.

Durch diese drei ist der Apostel der italienischen Gefängnisse zum erstenmal mit dem Problem bekanntgemacht worden, das die hohe Zahl der zwangsweise aus Amerika nach ihrem heimatlichen Italien zurückgeschickten „kriminellen Elemente“ darstellen. Sie aus reißenden Wölfen in sanfte Lämmer zu verwandeln, ihnen den Weg zur Arbeit und zu einem stillen Leben zu zeigen, ist das, was sich Padre Blandino vorgenommen hat. An der PeripHerle Roms, in einem leeren, unbenutzt gebliebenen Gebäude der Faschistischen Partei, wird ein Umschulungsheim für arbeitslose Gangster entstehen. Der Finanzminister Andreotti, der Innenminister Tambroni, der Bürgermeister von Rom, Rebecchini, haben sich einverstanden erklärt. Sie wollen dem vorurteilslosen dynamischen Franziskaner aus Vi-cenza das Haus und den Grundbesitz an der Via Casilina zur Verfügung stellen und noch einen kleinen Fonds dazu, damit er sein Erziehungswerk beginnen kann. Ein ehemaliger Kinosaal soll als Werkstätte eingerichtet, der heute unbebaute Boden in eine Gärtnerei verwandelt werden. Padre Blandino hofft, zunächst vierzig „Unerwünschte“ unterbringen zu können.

Das ist freilich eine kleine Zahl, denn die in Italien, vor allem in Rom, Neapel, Genua und Sizilien lebenden Italo-Amerikaner mit dunkler, sehr dunkler Vergangenheit sind rund fünfhundert. Keinem konnten die- amerikanischen Behörden ein schweres Verbrechen nachweisen, aber alle haben auf ihrer Karteikarte das Wort „gefährlich“ stehen. Die amerikanischen Gangster sind nicht mehr die von einst: sie zahlen regelmäßig die Steuern („Gewinn beim Spiel“, bezeichnen sie ihr Einkommen), vermeiden jeden Verstoß gegen die Verkehrsordnung, betrinken sich so selten wie möglich. Es ist schwer, hinter ihre Schliche zu kommen. Lucky Luciano galt al? das Haupt der Maffia, der Untergrundbewegung unter den Italienern Amerikas, und als die Seele des Rauschgiftgeschäftes. Er lebt jetzt, immer noch begütert, in Neapel. Offiziell ist er Vertreter einer Firma für klinische Apparate. Er gehört zu den wenigen Glücklichen, die auch jetzt nicht am Hungertuche nagen. Lucky hat so etwas wie Korpsgeist: er versagt den Neuankömmlingen seine Hilfe nicht, aber lieber wäre es ihm, er könnte sich durch eine einmalige Unterstützung der Gründung des Padre Blandino ein für allemal von der Vergangenheit loskaufen. Auch Ralph Liguori hat dem Franziskaner seine finanzielle Hilfe zugesagt. Er ist 1945 von dem damaligen Gouverneur des Sfaates New York, Thomas Dewey, nach Italien zurückgeschickt worden, obwohl sein Sohn in der amerikanischen Armee gedient hat und in Deutschland vermißt ist.

Hingegen hat Joe Adonis rund heraus erklärt, er denke nicht daran, „eine Fabrik zu finanzieren, die fünfhundert unschuldig nach Italien Verschickte beschäftigt“. Joe Adonis, laut dem Bericht Kefauvers der Statthalter Frank Costel-los, Organisator von Spielhöllen und Bordellen, ist erst in diesen Tagen in Italien eingetroffen. Er hat sich die Ueberfahrt in einer Luxuskabine auf dem „Conte Biancamano“ selbst bezahlt. Sein Abgang aus Amerika erfolgte bis zu einem gewissen Grade freiwillig. Wegen Meineides verurteilt (er hatte vorgegeben, in Amerika geboren zu sein und die amerikanische Staatsbürgerschaft zu besitzen).- hätte er zwei Jahre im Gefängnis verbringen müssen; er zog es vor, sich nach Italien ausweisen zu lassen.

Zu den wenigen Begüterten könnte noch Frank Frigenti. einst der Statthalter AI Capones, gerechnet werden. Sein Name ist im vergangenen April wieder genannt worden, als er eine merkwürdige Protestkundgebung organisieren wollte, eine Art Hungermarsch auf Rom der ausgewiesenen Italo-Amerikaner, um die Regierung zu veranlassen, daß diese bei den amerikanischen Behörden wegen Rücknahme der Unerwünschten vorstellig werde. Die Lage dieser Leute, die niemals einer geregelten Arbeit nachgegangen sind, die einst im Luxus lebten und nun in ihrem Geburtsort in Kalabrien oder Sizilien auf Kosten von Verwandten leben, ist allerdings verzweifelt. Ihnen will Padre Blandino seine Hand reichen. Es ist freilich die Frage, wie viele von ihnen bereit sein werden, sie zu ergreifen. Und wie viele von ihnen das Dach verschmähen und die verbotenen Pfade einschlagen werden. Aber Padre Blandino ist kein Neuling mehr, seine Erfahrungen mit Häftlingen haben ihn nicht zum Pessimisten gemacht. Er weiß schon jetzt, daß sich der Versuch lohnen wird.

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