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Stürme über Norwegen

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Skandinavien ist der ruhige, ereignislose Winkel Europas; dort geschieht nichts, was einen Mitteleuropäer oder gar Südamerikaner aufregen könnte; die dort lebenden politischen Beobachter könnten einem beinahe leid tun: Nordeuropa ist der tote Winkel der Wtltpolitik!

Auffassungen solcher Art sind beinahe zu einem Axiom geworden, die sich in den Redaktionen gewisser Zeitungen einer anscheinend unbegrenzten Lebensdauer erfreuen. Doch wie ist es nun wirklich? Geschieht tatsächlich nichts in diesem Teil Europas? Oder führt nur eine einmal gefaßte Meinung ein zähes Leben? Die Antwort kann nur lauten, daß im Norden Europas, in den alten demokratischen Ländern Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und Island, ebenso zäh und entschlossen um die politische Macht und um die künftige Form der Gesell-

schaft gerungen wird, wie anderswo in der Welt, nur geschieht das ohne die Verwendung von Panzerwagen und Terrorgruppen und in demokratischen, von allen Bürgern dieser Länder respektierten Formen. Der Mythos von einem ereignislosen Norden gehört längst in die Rumpelkammer der publizistischen Requisita.

Der Sturz der Linken ...

Norwegen erlebte in den letzten Monaten einige der heftigsten politischen Kämpfe seiner Geschichte. Das

Kalendarium der Krise — oder der Kette von Krisen — spricht eine deutliche Sprache.

Es begann mit dem Bericht einer Untersuchungskommission, die feststellte, daß die Schutzvorrichtungen in den staatlichen Kings-Bay-Gruben auf Spitzbergen äußerst mangelhaft waren. In diesen Steinkohlengruben waren in vier aufeinanderfolgenden Explosionen 63 Arbeiter getötet worden, bei einer Gesamtbelegschaft von weniger als 200 Personen! Da für die Zustände in diesen Gruben das Arbeitsminiąterium in Oslo verantwortlich ist, zog der zuständige Minister, der junge Kjell Holler, die Konsequenzen und verließ die Regierung. Die aufgebrachte Opposition, an ihrer Spitze die kleine Sozialistische Volkspartei, war jedoch mit diesem Opfer nicht zufrieden; sie erregte sich besonders über den Umstand, daß alarmierende Berichte aus

Spitzbergen dem Parlament vorenthalten worden waren, und forderte den Rücktritt der Regierung Gerhardsen. Die regierende Arbeiterpartei wandte dagegen ein, daß es höchst verwerflich sei, ein Unglück zum Sturze einer Regierung auszunützen. Am 23. August wurde jedoch nach einer lang andauernden und leidenschaftlichen

Parlamentsdebatte der Regierung Ger- hardsen mit 76 gegen 74 Stimmen das Mißtrauen ausgesprochen: Nach

28 Jahren der Alleinregierung war damit die Arbeiterregierung über die Versäumnisse in einem Staatsbetrieb gefallen!

Nach norwegischen Gepflogenheiten hat in einem solchen Fall die parlamentarisch stärkste Gruppe der Opposition das Recht und die Pflicht, den Versuch einer Regierungsbildung zu machen, eine Parlamentsauflösung ist dagegen nicht möglich. Der Führer der Konservativen, John L y n g, legte auch schon am nächsten Tag, am 24. August, eine neue Ministerliste vor, die Namen aus den vier bürgerlichen Parteien enthielt. Am 28. August übergab Gerhardsen seine Ämter! an die neue bürgerliche Koalitionsregierung. In diesen Tagen herrschte noch die Meinung vor, daß die Arbeiterpartei der neuen Regierung „eine ehrliche Chance“ geben werde, auch Gerhardsen selbst sprach sich in diesem Sinne aus.

... und der Rechten

Die Stimmung sowohl im bürgerlichen als auch im sozialistischen Lager erfuhr jedoch eine zunehmende Radikalisierung, und die Erregung in Oslo tieg von Stunde zu Stunde. Aus den Reihen der neuen Regierungsparteien kamen triumphierende Fanfarenstöße, und in Gewerkschaftskreisen, die der Arbeiterpartei nahestanden, wurde die Forderung laut, die neue Regierung so schnell als möglich wieder gu stürzen. Die Sozialistische Volkspartei, deren zwei Vertreter im Parlament eben zum Sturz Gerhardsens beigetragen hatten, bemühte sich, in den C]hor einzustimmen, um das Vertrauen der Linken wiederzugewinnen. Bald war erkennbar, daß die Arbeiterpartei! a’Ies tun werde, um die Regierung Lyng noch vor Ausgang des Monats September zu stürzen.

Am 18. September präsentierte Lyng ein Arbeitsprogramm, das durch seine Fortschrittlichkeit und seinen sozialen Gehalt allgemein überraschte; es hätte ohne weiteres auch von der Arbeiterpartei und der übrigen Linken akzeptiert werden können. Gerhardsen setzte diesem Regierungsprogramm sofort ein radikales Handlungsprogramm der Arbeiterpartei entgegen, itl Jid t die Forderung nach einer allgemeinen Dienstpension nach schwedischem Muster, nach dem Vierwochenurlaub und nach einer Kontrolle des Kreditmarktes und des Bankenwesens durch den Staat auf genommen ist. Am 20. September wurde Lyng durch die Stimmen der Arbeiterpartei und der Linkssozialisten gestürzt. Drei Tage später fanden unter hoher Spannung die Kommunalwahlen statt, die in einen Wahlerfolg für die Arbeiterpartei mündeten. Am Abend des 24. September präsentierte Gerhardsen sein neues Kabinett, und am nächsten Tag übernahm er vom zurücktretenden Lyng wieder die Regierungsgeschäfte. Nach einer solchen Kette von Verwicklungen und dramatischen Ereignissen dürfte es eigentlich etwas schwerfallen, Norwegen als einen „toten Winkel“ der Politik zu bezeichnen!

Was nun?

Die schwerwiegendste Frage lautet natürlich, welche Schlüsse aus einer solchen Entwicklung zu ziehen sind und welche Konsequenzen die Entscheidung vom 23. September haben wird, nicht nur für Norwegen, sondern auch für das übrige Skandinavien.

Die bürgerlichen Parteien haben zu ihrem eigenen Erstaunen erfahren, daß es sehr wohl geht, verschiedene Richtungen in kürzester Zeit auf ein gemeinsames Programm zu einigen; über die Außenpolitik bestanden keine Meinungsverschiedenheiten, und die soziale Reförmpolitik wird von allen norwegischen Parteien akzeptiert. Das demoralisierende Gefühl, zur ewigen Opposition verurteilt zu sein, war mit einem Schlage gewichen. Im Parlament war man ebenso stark wie die Arbeiterpartei, und die Stimmenunterlage in der Wählerschaft war breiter als die für die Sozialdemokraten. Unter geringfügig besseren Umständen hätte sich Lyng an der Macht halten können, und eine Bürgerregierung in Norwegen hätte sich zwangsläufig auf die Politik aller anderen bürgerlichen Parteien in Skandinavien auswirken müssen. So nahe war man an einer Änderung des politischen Stromes in Norcfeuropa!

Mit dem Sturz der Regierung Lyng so knapp vor den Wahlen setzte

Gerhardsen tatsächlich alles auf eine Karte. Auch ein nur geringfügiger Rückschlag hätte ihm jede moralische Grundlage für diese Handlungsweise entzogen, und die sportlich gesinnten Norweger hätten eine Regierung Gerhardsen mit zerbröckelnder Unterlage nicht tolerieren können.

Neuwahlen im Frühjahr?

Aber auch die Arbeiterpartei hat nun zur Kenntnis nehmen müssen, daß eine linkssozialistische Opposition existiert, mit der sie mindestens bis zu den nächsten Parlamentswahlen rechnen muß. Die zwei Volkssozialisten bilden im Parlament das Zünglein an der Waage, und sie haben schon einmal bewiesen, daß sie auch gegen die Arbeiterpartei stimmen können.

Eine weitere Folge dieser politischen

Hochstimmung war, daß die Arbeiterpartei gezwungen war, binnen wenigen Tagen ein radikales Reformprogramm vorzulegen, zu dessen Ausformung sie sich ohne diese Krise wahrscheinlich noch lange Zeit gelassen hätte. Die Forderung nach einer staatlichen Planwirtschaft auf lange Sicht ist nun im Programm festgehalten und wird erfüllt werden müssen, ebenso wie die große Pensionsreform, die in Schweden erst nach langjährigen Kämpfen und nach dem Zerbrechen der Koalitionsregierung mit der Zenterpartei durchgeführt werden konnte.

Alle Beobachtungen ergeben, daß die starke politische Aktivität in Norwegen viel Flauheit und Selbstgenügsamkeit auf der einen und lähmende Unentschlossenheit und Ratlosigkeit auf der anderen Seite hinweggefegt hat. Mit diesen Tagen beginnt jedenfalls ein neuer Abschnitt in der Geschichte Norwegens.

In der nächsten Zukunft wird sich für Gerhardsen das Problem erheben, ob er einen bürgerlichen Vorschlag aufgreifen und die gesetzliche Möglichkeit für die Selbstauflösung des Parlamentes schaffen will oder nicht. Nützt er den günstigen Wahlwind aus, dann könnte es schon im Laufe des nächsten halben Jahres zur Auflösung des Parlamentes und zu Neuwahlen kommen. Mit der Stimmenunterlage des 23. September würde das eine absolute Mehrheit für die Arbeiterpartei im Parlament bedeuten — wenn nicht die kleine, doch so aktive Sozialistische Volkspartei ihr einen Strich durch die Rechnung macht! Diese Partei aber verdient eine eigene Betrachtung.

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