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Sudeten-Saga

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Am 29. September jährte sich zum 20. Male der Tag, an dem durch das Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Italien, England und Frankreich die deutschsprachigen Randgebiete ohne Volksabstimmung der CSR abgetrennt und dem Deutschen Reich angegliedert wurden; und dem die tschechoslowakische Staatsregierung unter dem Zwang der Verhältnisse, von allen Bundesgenossen verlassen, zugestimmt hat.

Selten' hat ein historisches Ereignis zu verschiedenen Zeiten eine so unterschiedliche Würdigung gefunden wie das Münchner Abkommen. Heute, nach 20 Jahren, besteht genügend Abstand zu den Ereignissen, um sie unvoreingenommen würdigen zu können.

Die deutsch besiedelten Randgebiete der Länder der böhmischen Krone waren 'im'FFieden'S-“ vertrag von Saint-Germain 1919 bei der Aufteilung Oesterreichs unter Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, das nach dem Waffenstillstandsvertrag des Spätherbstes 1918 die Grundlage des künftigen Friedens bilden sollte, der Tschechoslowakischen Republik gegen den Willen der Bevölkerung der betroffenen Gebiete eingegliedert worden. Entgegen den Bestimmungen des gleichzeitig beschlossenen Minderheitenschutzvertrages waren die Rechte der deutschsprachigen Minderheit in den folgenden Jahren nicht respektiert worden. Die Spannungen hatten allmählich ein beunruhigendes Ausmaß angenommen.

In dieser kritischen Situation entschloß sich England, mit Zustimmung der tschechoslowakischen Regierung im August 1938 Lord R u n c i-m a n als politischen Beobachter in die CSR zu schicken. Dadurch war die sudetendeutsche Frag aus einem tschechoslowakischen innerstaatlichen Problem zu einem internationalen Problem geworden und als solches von der Tschechsowakischen Republik anerkannt worden. Die Mission Runcimans stellte bei objektiver Prüfung der Sachlage fest, daß die tschechoslowakischen Deutschen entgegen der Behauptung des berüchtigten Beneschens „Memoire fll“ vorwiegend in geschlossenem deutschem Sprachgebiet siedeln und auch die Zahl der deutschen Einwohner in den altösterreichischen Statistiken - entgegen den Behauptungen Beneschs — richtig angegeben gewesen war, was auch im großen und ganzen den tschechoslowakischen Volkszählungen der Jahre 1921 und 1930 entsprach. Die Mission Runcimans stellte damit nicht weniger fest, als daß die Voraussetzungen, unter denen die Friedenskonferenz von 1919 das Sudetengebiet der CSR zugeteilt hatte, unrichtig gewesen waren. Sie stellte ferner fest, daß die tschechoslowakischen Deutschen mit der tschechoslowakischen Verwaltung überwiegend unzufrieden sind, obwohl ihr Unmenschlichkeiten oder Grausamkeiten nicht nachgesagt werden konnten. R u n c i m a n empfahl also auf Grund seiner Beobachtungen im Lande die Abtrennung der sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowakischen Republik und deren Einverleibung an Deutschland.

Wenn nun die Münchner Konferenz auf Grund dieser Feststellungen der Mission Runcimans und der feierlichen Zusicherung Hitlers, sodann in Europa keine territorialen Forderungen mehr zu erheben und die Grenzen der Rest-Tschechoslowakei nach Regelung der ungarischen und polnischen Grenzfragen zu garantieren, die Abtrennung der deutschsprachigen Randgebiete von der CSR und deren Angliede-rung an Deutschland verfügte, um hierdurch den drohenden europäischen Krieg zu vermeiden, so ist der Tschechoslowakischen Republik und dem tschechoslowakischen Volk nicht jenes unerhörte Unrecht geschehen, wie heute alle Welt anzunehmen geneigt ist.

Dabei soll die einseitige, in München über den Kopf der Tschechoslowakischen Republik getroffene Regelung gewiß nicht gebilligt werden; von allen Bundesgenossen verlassen, blieb der Tschechoslowakei nichts anderes übrig, als die Münchner Beschlüsse anzunehmen und durchzuführen. Nicht gebilligt soll aber auch werden, daß vier Millionen Menschen, ohne befragt zu werden, aus einem demokratischen Staat, dem auch der Charakter eines Rechtsstaates nicht abgesprochen werden kann, in einen totalitären Staat eingegliedert worden sind. Dies betrifft aber vor allem die deutsche Bevölkerung des Sudetengebietes, nicht das tschechoslowakische Volk.

Es kann heute nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden, ob die sudetendeutsche Bevölkerung bei einer Volksabstimmung der Eingliederung in das nationalsozialistische Deutschland vor dem Verbleiben in der Tschechoslowakischen Republik den Vorzug gegeben hätte. Gewiß waren weite Bevölkerungskreise mit dem tschechoslowakischen Regime äußerst unzufrieden, das die der Friedenskonferenz gemachten Zusagen nicht eingehalten hat; auch ist in Betracht zu ziehen, daß Oesterreich, zu dem sich die deutsche Bevölkerung der CSR die ganze Zeit über innerlich zugehörig gefühlt hat, damals als Bestandteil Deutschlands galt. Allein weite Bevölkerungskreise hatten damals bereits, insbesondere nach den Erfahrungen in Oesterreich, gegen das nationalsozialistische Regime ein weitgehendes Mißtrauen, obwohl der Nationalsozialismus sein wahres Gesicht erst nach der Angliederung des Sudetengebietes unverhüllt zu zeigen begann.

Auch die Wirtschaftskreise dürften gegen einen Anschluß des Sudetengebietes an Deutschland eingestellt gewesen sein. Von einer Autonomie innerhalb des tschechoslowakischen Staates hatten sie einen außerordentlichen Aufschwung zu erwarten; beim Anschluß an Deutschland mußten sie die Ueberfremdung des böhmisch-mährischen Raumes durch die leistungsfähigere und kapitalsstärkere deutsche Wirtschaft befürchten.

Wenn auch die Münchner Konferenz also in einer durch Hitler provozierten Zwangslage ohne Volksabstimmung die deutschsprachigen Randgebiete von der CSR abtrennte und Deutschland zusprach und dadurch formale Rechte der Tschechoslowakischen Republik sowie gleichzeitig auch das Recht der deutschen Volksgruppe auf Selbstbestimmung im Interesse der Aufrechterhaltung des Weltfriedens verletzte, so entsprach dies doch dem Gedanken des paceful change, wie er nach der Völkerbundsatzung und vor allein auch deren Schöpfer Wilson vorschwebte, wobei das der Tschechoslowakischen Republik zugemutete Opfer von allen Staaten gewürdigt wurde.

Das Münchner Abkommen konnte, wie sich gezeigt hat, den Ausbruch des zweiten Weltkrieges nicht verhindern, sondern nur auf kurze Zeit verschieben.

Den Gegnern des Münchner Abkommens muß zugegeben werden, daß durch die Abtrennung des Sudetengebietes mit den starken Grenzbefestigungen die Verteidigung der Rest-Tschechoslowakei gegenüber Deutschland so gut wie unmöglich geworden war und Deutschland daher nach der kampflosen Besetzung der Rest-Tschechoslowakei den Kampf um Europa von einer viel günstigeren Ausgangsposition eröffnen konnte. Allein mit einem so eklatanten Wortbruch, wie ihn Hitler fünf Monate nach dem Münchner Abkommen durch Besetzung der Rest-Tschechoslowakei und Schaffung des Protektorates Böhmen und Mähren unter flagranter Verletzung des Münchner Vertrages und der der Tschechoslowakischen Republik grundsätzlich gegebenen Garantie ihrer Staatsgrenzen sowie unter Mißachtung der in München mit den Westmächten abgeschlossenen Konsultativpakte begangen hat, konnten die englischen und französischen Staatsmänner nicht rechnen. M i t vollem Recht hat Chamberlein nach Errichtung des Protektorates Böhmen und Mähren im Unterhaus konstatiert, Hitler habe das Münchner Abkommen vernichtet (d e s t r o y e d).

Erst durch die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren, durch das die Tschechoslowakische Republik als Staat vernichtet wurde, ist dem tschechischen Volk jenes Unrecht zugefügt worden, das ihm während der Zeit der deutschen -Besetzung -die Anteilnahme 'der ganzen zivilisierten Welt eintrug. Niemals war auch das Verhältnis der deutschen Volksgruppe zum tschechischen Volke so gut wie zur Zeit des deutschen Regimes im Protektorat Böhmen und Mähren.

Das tschechische Volk hat allerdings — von zahlreichen rühmlichen Einzelfällen abgesehen — diese Anteilnahme nicht in gleicher Weise vergolten. Durch die nach der Wiedererrichtung der CSR im Jahre 1945 unter dem Benesch-Regime gegen die Deutschen unter flagranter Verletzung des Minderheitenschutzvertrages verübten Rechtswidrigkeiten und Grausamkeiten, die Hunderttausende von Todesopfern gefordert haben und in der Austreibung von mehr als drei Millionen Menschen in ein übervölkertes und kriegsverwüstetes Land gipfelten, hat das tschechische Volk die Sympathien in vielen Kreisen der freien Welt weitgehend wieder eingebüßt.

Weit mehr: noch als durch die Grausamkeiten and Rechtswidrigkeiten gegen die deutsche Volksgruppe haben aber die Tschechoslowakische Republik und das tschechoslowakische Volk die Sympathien des Westens im Feburar 1948 durch den Uebertritt zum rußlandhörigen Kommunismus eingebüßt, als die Kommunisten im Februar 1948 formell legal die Macht im Staate übernehmen konnten. Dies ist vor allem auf das vollkommene Versagen des Staatspräsidenten Benesch in den kritischen Tagen zurückzuführen, der damals bereits ein todkranker Mann war. Das tschechoslowakische Volk, in seiner überwiegenden Mehrheit Kleinbürger ohne nennenswertes Proletariat, war im allgemeinen prowestlich eingestellt. Wenn trotzdem Rußland und die Kommunisten in weiten Kreisen des tschechoslowakischen Volkes einen großen Einfluß und Rückhalt gewinnen konnten, so ist dies einerseits auf den Panslawismus zurückzuführen, anderseits darauf, daß das tschechische Volk nach der Massenaustreibung seiner deutschsprechenden Mitbürger durch viele Jahrhunderte einen starken und verläßlichen politischen Rückhalt im Osten suchte, den es im Jahre 1938 im Westen nicht gefunden hatte. So wurde das tschechische Volk im Widerspruch zur Mentalität des überwiegenden Teiles der Bevölkerung dem russischen Kommunismus in die Arme getrieben.

Es hat damit 1945 die einmalige Gelegenheit versäumt, seinen alten Wunschtraum zu verwirklichen, im Raum der Länder der böhmischen Krone einen tschechischen Nationalstaat zu errichten, in dem sich die Deutschen mit der Rolle einer respektierten Minderheit begnügt hätten. Die Deutschen des tschechoslowakischen Raumes, von den Rechtswidrigkeiten und Grausamkeiten des Nationalsozialismus angewidert, wären damals bereit gewesen, loyale Bürger einer wiedererrichteten demokratischen Tschechoslowakischen Republik zu werden, wenn man sie nur ruhig 'uf ihrem Heimatboden hätte leben lassen.

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