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Südtirol: Warten auf Europa

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„Italien, die große und geeinigte Nation, in welcher volle, Freiheit des Gedankens und des Wortes herrscht, will den Mitbürgern der anderen Sprache die Erhaltung der eigenen Schule, der eigenen Einrichtungen und Vereine zugestehen. Itp Geiste dieser Grundsätze vertraue jeder darauf, daß alles, was die Sprache und die Kultur des Hochetsch betrifft, sorgfältig und liebevoll geregelt werden wird.

Gegeben zu Trento ant 18. November 1918.

Pecori - Giraidi.”

Diese Proklamation hatte der italienische Armeekommandant Pecori-Giraldi nach dem Einzug der italienischen Truppen in Südtirol anschlagen lassen.

Im dritten Punkt des Waffenstillstandes vom 4. November 1918 war vereinbart, daß sich die österreichischen Truppen bis zum Brenner zurückziehen und Italien das Recht hat, das freigewordene Gebiet militärisch zu besetzen.

Sobald das Gebiet besetzt wat, wurde es nach außen streng abgesperrt. Die Presse wurde zensuriert, das Versammlungsrecht aufgehoben, jede freie Meinungsäußerung unterdrückt. In willkürlicher Ausdehnung des Kontrollrechtes wurden die einheimischen Verwaltungsbehörden in italienische Zivilkommissariate umgewandelt, die Gerichte sprachen Recht im Namen des italienischen Königs.

Dies alles deutete bereits darauf hin, daß mehr als eine bloße Besetzung geplant war. Und bald sagte es die italienische Presse ganz of fön: Das besetzte Gebiet bis zur Brennergernze wird dem Königreiche einverleibt werden. Der Londoner Geheimvertrag vom Jahre 1915 gebe Italien das Recht dazu.

London 1915: Am 26 April hatten die Alliierten Italien für seinen Beitritt zum Krieg bestimmte territoriale Zusicherungen gemacht. Der Artikel 4 dieses Vertrages bestimmte:

„Im Friedensvertrag wird Italien das Tren- tino und das zisalpine Tirol erhalten mit der geographischen und natürlichen Grenze (Brennergrenze).”

Daraufhin erklärte am 23, Mai Italien an Oesterreich-Ungarn den Krieg.

Präsident Wilson hat später selbst diese Zusagen bedauert, wie sein Sekretär in seinen Erinnerungen schreibt:

„Unglückseligerweise hatte der Präsident die Brennergrenze Orlando zugesagt, wodurch etwa 150.000 (richtig: 230.000!) Tiroler Deutsche Italien überantwortet wurden — eine Tat, die er später als einen groben Fehler ansah und tief bedauerte. Es war geschehen, bevor er diese Frage sorgfältig studiert hatte, und jetzt war er gebunden und mitschuldig an Orlandos Forderung nach einer strategischen Grenze. Vielleicht glaubte er auch, ein Zugeständnis in den Alpen würde die italienischen Ansprüche an dem adriatischen Gebiete mäßigen, doch die Italiener wollten beides.” Im Februar 1919 beschloß eine Vollversammlung sämtlicher Gemeindeausschüsse Südtirols eine Denkschrift an Präsident Wilson. Im Schlußwort heißt es:

„…Sie haben das gewaltige Wort des Selbstbestimmungsrechtes der Völker geprägt, Sie haben die Weltversöhnung verkündet, lassen Sie nicht zu, daß mehr denn 200.000 deutsche Tiroler volklich entrechtet werden, daß statt Liebe Haß gesät werde. Lassen Sie nicht zu, daß unser Land ein zweites ,Anno 1809’ durchleben muß, daß es gewaltsam die Fesseln sprengen muß, die man ihm jetzt schmiedet. Sie als Amerikaner, als Nachfolger Ihres Freiheitshelden George Washington, können es begreifen, daß Freiheit das höchste Volksgut ist und ein freies Volk seinen Untergang der Knechtschaft vorzieht…” Der Wille des Südtiroler Volkes mußte entscheidend sein, wenn Wilson seinen Erklärungen treu blieb: In seiner Rede am amerikanischen Unabhängigkeitstag, 4. Juli 1918, hatte Wilson zu den Zielen, für die die Alliierten kämpfen müßten, gesprochen. Als zweites Ziel nannte er „Regelung aller Fragen, sowohl der Gebiets- wie der Souveränitätsfragen auf Grundlage einer freien Annahme dieser Regelung durch das Volk, das unmittelbar davon betroffen. ist und nicht auf der Grundlage des materiellen Interesses oder Vorteils irgendeiner anderen Nation oder eines Volkes, das eine andere Regelung zur Ausbreitung seines Einflusses oder seiner Herrschaft wünscht.”

Und noch klarer war der Verbleib Südtirols bei Oesterreich im Punkt 9 der „14 Punkte” Wilsons formuliert:

„Es soll eine Berichtigung der Grenze Italiens durchgeführt werden nach den klar erkennbaren Linien der Nationalität.”

Robert Lansing, Staatssekretär des Aeußeren der USA, hatte in Punkt 10 seines Friedensentwurfes gefordert:

„Italien erhält die italienischen Provinzen Oesterreichs.”

Die gleiche Forderung hatte Senator Lodge in seinen Richtlinien für die Friedensverhandlungen vertreten. Und die Alliierten, Italien eingeschlossen, hatten diese amerikanischen Grundsätze für den Friedensschluß anerkannt. Damit aber waren auch die Widersprechenden Bestimmungen des Londoner Vertrages als überholt außer Kraft gesetzt. Der Rechtssachverständige der US-Delegation, David Hunter Miller, hat das in seinem (Jutaęhten ausdrücklich festgehalten. Auf dem gleichen Standpunkt stand -der persönliche ß’eraterAVifsons, Colonel House, der Südtirol nicht von Oesterreich trennen wollte.

Amerikanische, englische und französische Friedensdelegationen wollten, daß Südtirol bei Oesterreich vef bleibt f Wieso konnte es dennoch zur Abtrennung kommen? Wilson, der lange um sein Programm kämpfte, zeigte sich schließlich bereit, mit Italien einen Kompromiß abzuschließen: Die Brennergrenze für Italien sollte zu einem Nachgeben in der Adriafrage führen.

Orlando hat selbst später eingestanden, daß er nur scheinbar auf diesen Vorschlag eingegangen war, ohne in der Adriafrage nachzugeben.

Dazu kam die Unkenntnis des amerikanischen Präsidenten: Orlando selbst hat als Chef der italienischen Friedensdelegation im Kleinen Saal des „Eduard VII.” folgende Geschichte Journalisten zum besten gegeben, die Severino Colmano erst vor wenigen Jahren, am 4. März 1950, im Bozner „Alto Adige” berichtete:

Als der Augenblick gekommen war, auf der Karte unsere Grenzen festzustellen, zog der schweigsame Sonnino aus seiner Aktentasche ein Blatt hervor und …begann mit der eintönigen Stimme eines Notars …Tal- schaften und Gipfel aufzuzählen. Die Vertreter der drei großen alliierten Nationen, Wilson, Clemenceau und Lloyd George, hörten zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber als der Minister die Vetta d’Italia als äußersten Punkt des italienischen Vorstoßes gegen Norden angab, als mancher Bevollmächtige andeutete, Einspruch erheben zu wollen, kam Wilson zuvor: ,Vetta d’Italia? Der Name spricht für sich!’ Sonnino hatte sich der Tolomeischen Namensgebung bedient, statt der Namen, die in den k. u. k. Generalstabskarten aufschienen. Wenn er jenen Gipfel mit dem deutschen Namen bezeichnet hätte — wer weiß, ob unsere Forderungen ebenso widerspruchslos durchgegangen wären.”

Diese offenen Worte sprechen für sich. Zur Ergänzung sei nur gesagt, daß die „Vetta d’Italia” in Wahrheit Glockenkarkopf heißt, 2911 Meter hoch ist und 1906 von Ettore Tolomei „italianisiert” wurde, obwohl dieser Berg etwa 140 Kilometer Luftlinie von der Sprachgrenze entfernt liegt.

Am 10. September 1919 wurde in Saint-Ger- main-en-Laye von Oesterreich der Friedensvertrag unterzeichnet, der die Zerreißung Tirols fixierte. Colonel House schrieb:

„Der Präsident beging noch einen Fehler, den er selbst nachträglich einsah, daß er näm- ‘ lieh Italiens Forderung nach der Brennergrenze genehmigte, vielleicht die am wenigsten zu rechtfertigende von allen italienischen Forderungen.”

Harald Nicolson, Mitglied der britischen Friedensdelegation, schrieb die bemerkenswerten Worte:

„Die italienische Frage wurde für die Wissenden zum Prüfstein der ganzen Konferenz. Danach, wie Woodrow Wilson sich zum Londoner Vertrag verhalten würde, wollten wir seinen wahren Wert beurteilen. Er wurde gewogen — und zu leicht befunden: er ließ sich auf ein Kompromiß ein …wir waren erschüttert über dieses Versagen …Es gibt nichts, was erklären könnte, wie es möglich war, daß der Präsident sich bereit fand, 230.000 Tiroler unter italienische Herrschaft zu bringen im flagranten Widerspruch zum zentralsten aller seiner Grundsätze …

Die Auswirkungen dieses Zugeständnisses waren verheerend. Die Folge war die, daß…weite Kreise sich darüber im klaren waren, daß der Präsident den Grundsatz der Nationalität zum Opfer gebracht habe, und zwar in einem Falle, wo keinerlei Grund zu einem Verzicht vorlag.. Wenn Wilson imstande war, den Brenner zu schlucken, so war er imstande, alles zu schlucken …Nicht nur in moralischer, sondern auch in praktischer Hinsicht erwies sich sein Zugeständnis als ein furchtbarer Fehler.”

Als Südtirol im Jahre 1919 Italien definitiv zugesprochen wurde, sprachen die Vertreter des italienischen Staates schöne Worte des Verständnisses für das Südtiroler Volk. Der König sicherte ihnen die Achtung der autonomen Einrichtungen zu. Und Ministerpräsident Nitti erklärte in der römischen Kammer, daß „die italienische Regierung gegenüber den neuen Untertanen deutscher Nationalität in bezug auf deren Sprache, Kultur und wirtschaftliche Interessen eine im weiten Maß liberale Politik verfolgen werde”.

Es dauerte jedoch nicht lange und der Generalkommissar für Südtirol, Professor Credaro, erklärte unbefangen, diese Versprechungen hätten nur noch „historischen Wert”.

(Die Veröffentlichung wird fortgesetzt)

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