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Südtirol: Warten auf Europa

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Man schrieb das Jahr 1923. Am 24. Oktober dieses Jahres erging das Dekret, nach dem die Lehrer in den Anfangsklassen aller Volksschulen nur noch italienisch unterrichten durften. Die Absicht der Südtiroler, Privatschulen aufzumachen, wurde durch das Verbot durchkreuzt, daß Privatunterricht nur im Höchstausmaß für zwei bis drei Kinder zugleich eingerichtet werden dürfe.

Die ersten, die sich zur Wehr setzten, jvaren die Mütter. Gegen 1000 Frauen zogen vor das Bozner Landhaus, eine Delegation sprach beim Unterpräfekten vor. Seine Antwort: „Die Deutschen brauchen keine Schulen, und wir brauchen keine Deutschen.“

Die Südtiroler Abgeordneten wandten sich an Mussolini selbst. Antwort kam keine. Da wandten sich die Frauen mit einer Bittschrift an die Königin. Telegraphisch kam die Antwort, die Bittschrift sei an Mussolini geleitet worden. Und wieder kam keihe Antwort.

Dafür aber kam ein neues Dekret des Trien- tiner Präfekten: Der deutschsprachige Religionsunterricht sollte aus den Schulen verbannt werden. Erst auf Intervention des Heiligen Stuhles wurde dieses Dekret widerrufen, doch blieb der Gebrauch des deutschsprachigen Katechismus und der deutschsprachigen Bibel verboten.

Wieweit der Fanatismus ging, zeigt ein Dokument vom 12. Dezember 1925, das an den' Pfarrer von Altrei gerichtet und vom Unterpräfekten in Cavalese, P r a n d i, gezeichnet ist. In diesem Schreiben wurde dem Kooperator Josef Gasser, dem bereits der Religionsunterricht in der Schule untersagt war, auch verboten, Religionsunterricht in der Kirche zu erteilen. In dem Schreiben heißt es u. a.:

1. Der Unterricht wird von einem

Priester erteilt, dem man wegen seines traurigen politisch-nationalen Vorlebens den Unterricht in der Schule verbieten mußte. 2. Die Kinder, die obengenannter Priester in der Kirche versammelt, erhalten ohnehin in der Schule zweimal wöchentlich den Religionsunterricht ... in italienischer Sprache, wobei ihnen der Unterricht in der italienischen Sprache viel leichter fällt und vollkommen natürlich ist, weil die Schüler das Italienische mit viel weniger Schwierigkeit lesen und verstehen als das Deutsche. Daraus erhellt klar, daß Hw. Gasser die Kinder nicht aus übergroßem seelsorgerischen Eifer versammelt, sondern offenbar zu dem Zwecke, durch nachteilige Beeinflussung des zarten Geistes jener jungen Leute ein antinationales Werk zu vollbringen ..."

In ganz Südtirol waren nach dem Verbot der deutschen Schulen 50.000 Unterschriften gesammelt und von einer Frauendeputation nach ’ Rom gebracht worden. Nach den Frauen reiste eine Bürgermeisterdelegation nach Rom, die Mussolini selbst empfangen mußte. Er sagte „wohlwollende Prüfung“ zu. Etwa zehn Tage später kam von Rom eine Erleichterung der Schulfrage: Die ersten Klassen sollten deutsch unterrichtet, die höheren Klassen italienisch weitergeführt werden. Dafür sollten in diesen Klassen wöchentlich zwei deutsche „Anhangstunden" erteilt werden, die jedoch bald wieder aufgehoben wurden.

Da- ist die Chronik der Schulverfolgung:

24 Oktober 1923: Unterdrückung aller deutsch sprachigen Schulet!.

13. November 1923: Teilweise Italianisierung des Religionsunterrichts.

3. Mai 1924: Kindergärten und Kinderheime werden italianisiert.

23. August 1924: Die deutschsprachige Lehrerbildungsanstalt in Bozen wird aufgehoben. 22. Februar 1925: Ablehnung der deutschsprachigen Anhangstunden durch das Schulamt in Trient.

2. November 1925: Verbot des deutschsprachigen Religionsunterrichts im Unterland.

27. November 1925: Verbot des deutschsprachigen Privatunterrichts (in der Folge Lehrerentlassungen, Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, Strafen).

18. Jänner 1926: Sämtliche deutschsprachigen Anhangstunden werden aufgehoben.

25. September 1926: Italianisierung des gesamten Religionsunterrichtes.

Am 27. November 1924 forderte der Südtiroler „Volksbote“ in einem Leitartikel zum Hausunterricht der Kinder auf. Darin hieß es: „Bis zu der Zeit, da wir uns die deutsche Schule wieder erkämpft haben werden, gibt es keinen anderen Ersatz dafür als die Hausschule. Nur durch sie werden unsere Kinder ihre Sprache und ihre Seele deutsch erhalten kön-

it r nen.

Mit der Tolerierung des Hausunterrichts war es aber bald vorbei, zuerst wurde die Zahl auf drei Kinder beschränkt, dann hieß es, daß diese Kinder einer Familie angehören müßten. Und genau ein Jahr nach dem Aufruf zum Hausunterricht, am 27. November 1927, erging ein „Dringendes, geheimes Staatsdekret Nr. 11.471 Gab. der Präfektur der Venezia Tridentina“, gezeichnet vom Präfekten Guadagnini. Dieses Dekret sei im völlen Wortlaut zitiert:

„An die Herren Unterpräfekten von Bozen, Meran, Brixen, Bruneck, Cavalese.

Die Aufdeckung einer beträchtlichen Anzahl deutscher Geheimschulen, besonders im Gebiet zwischen Bozen und Saturn, beweist, daß in Oberetsch eine regelrechte Organisation des Widerstandes besteht, die für die Anwerbung von Lehrern, die Einrichtung der dhüPeV1 Uh’d' lirMöiige Finahifm förgf: w müß auch in den Gemeinden Vertrauensmänner haben.

Es ist notwendig, daß diese Versuche mit der größten Entschiedenheit niedergeschlagen werden, um zu verhindern, daß sie sich festsetzen und ausbreiten. E. Hochwohlgeboren werden daher alles Mögliche veranlassen, um die Zentralorgane und die Hilfskräfte dieser Organisation ausfindig zu machen. .Nötigenfalls wollen Sie sich mit der Gerichtsbehörde entweder unmittelbar oder auf dem Wege über mich in Verbindung setzen, um mit Beschlagnahme und Hausdurchsuchungen vorzugehen. Behalten Sie auch mit der Schulbehörde Eüh- lung und erteilen Sie genaue Weisungen, daß die Wachsamkeit aufs höchste gesteigert und die entdeckten Schulen unverzüglich geschlossen werden, wobei die Lehrmittel mit Beschlag zu belegen und die Verantwortlichen gerichtlich zur Anzeige zu bringen sind.

Für Lehrkräfte, die nicht die italienische Staatsbürgerschaft besitzen, haben Sie die

Ausweisung zu beantragen. Für auswärts Wohnende ist Abschub mittels Schubbefehl durchzuführen.

Alle sind außerdem mittels Protokoll zu verwarnen und unter strenge Aufsicht zu stellen, wobei Sie sich auch der Soldaten der Freiwilligen Miliz bedienen werden, die Ihnen über Verlangen gemäß den mit dem Kommando getroffenen Vereinbarungen zur Verfügung gestellt werden.

Wenn sich irgendwie eine Verantwortlichkeit aus Handlungen oder Unterlassungen von seiten eines Beamten oder lokaler Behörden oder Personen ergeben sollte,' die irgendeinen öffentlichen Dienst zu versehen haben, so werden E. Höchwohlgeboren darüber Bericht erstatten, damit die entsprechenden Maßnahmen getroffen werden, ln dieser Sache, der ich eine besondere politische Bedeutung beimesse, erwarte ich von E. Hochwohlgeboren die schärfste Wachsamkeit, die größte Raschheit und Energie.

Wollen Sie mir den Erhalt dieses Schreibens bestätigen und vierzehntäglich über die durchgeführten Schritte und deren Ergebnisse berichten.“

Die Folge dieses Dekrets war eine erbarmungslose Verfolgung des deutschsprachigen Hausunterrichts. Dennoch verbreitete sich der Katakombenunterricht über das ganze Land. Hilfslehrerinnen wurden ausgebildet, oft einfache Bauernmägde, die monatelang geschult wurden.

In dieser Aktion wurde ein Mann zum geistigen und geistlichen Vater des Südtiroler Landes und seines Volkes: Kanonikus Michael G a m p e r, der die Lehrkräfte des Geheimunterrichtes betreute und für sich selbst keine Gefahren scheute. Von diesem Zeitpunkt an wurde Gamper so recht der Vorkämpfer für Südtiroler Belange. Er blieb es bis zu seinem Tod im Jahre 1956.

Die Katakombenschule forderte zwei Todesopfer: Dr. Josef N o 1 d i n, der zwei Jahre auf r, die. Insel Lipari verbannt ..wurde, ..und , als. fids „ kranker in seine Heimat .zurückkehren durfte. Er starb am 14. Dezember 1929 in Bozen.

Das zweite Opfer war Angela N i k o I e 11 i, die in der Wohnung ihrer Tante in Kurtatsch eine Geheimschule gründete, um ihrer Lehrerinnenpflicht nachkommen zu können. Den Verfolgungen war Angela Nikoletti nicht gewachsen. 25jährig starb sie am 30. Oktober 1930 als Opfer einer brutalen Verfolgung.

Im Tagebuch Angela Nikolettis spiegelt sich so recht das Herzeleid der Südtiroler wider. Hier einige Auszüge dieses erschütternden Dokuments:

Oktober 1926

ln Begeisterung und Freude habe ich mich verpflichtet, den armen, beraubten Kleinen Deutschstunden zu erteilen . .. Aus Liebe und Erbarmen zu den Dorfkindern schlug ich eine Stelle als Kinderfräulein aus und blieb daheim. 30 Kinder kamen zu mir. Küche, Zimmer und Garten waren die Schulzimmer. Bis 9 Uhr abends dauerte täglich meine Schule.

il. Mai 1927

Der Podesta (Bürgermeister) ließ mich rufen . .. wegen der Erteilung des Deutschunterrichts. Ich wollte den Grund des Verbotes wissen. Seine Antwort: Weil es das Gesetz verbiete. Auflehnung gegen den Staat sei es, eine Schädigung der Kinder usw.

12. und 13. Mai

Ohne Gewissensskrupel gab ich weiter Deutschstunden ... Ich hatte in den letzten Tagen, 8. bis 12. Mai, Rippenfellentzündung . .. fühlte noch immer Schmerzen und ging zum Arzt um ein Zeugnis. Falls sie Gewalt gebrauchen wollten, daß sie davon ab- steh'en. Ich erhielt es vom Doktor. . .

14. Mai

Die letzte Gruppe hatte ich nach Hause geschickt. Es war 6 Uhr abends. Ein Stückchen habe ich sie begleitet. Nicht ganz heim kam ich, und schon sah ich eine Gruppe Karabinieri auf einer Kutsche im Galopp daherfahren. Die schrien mich an, und ich lief dem Haus zu und rief nach Ąer Tante. Auf dem Wege unter unserem Zimmerfenster haben sie mich eingeholt und niedergedrückt. Tante wollte das ärztliche Zeugnis vorweisen. Samt Zeugnis warfen sie diese Grobiane an .den Zaun. Kein anderes Kleid ätirftt ich ah- ziehen ... im Galopp ging’s nach Tramin ...

Abend: Verhör: Wer mich angestellt, wer mich bezahlt, welche Kinder ich unterrichte und so weiter. Um 11 Uhr nachts führten sie mich in den feuchten Keller. Bis zw t Morgen lehnte ich an der naßkalten Wand. Müde, abgeschlagen.

19. Mai 1927

Gerichtliche Verhandlung. Sieben Männer waren zugegen und ich allein. Ich verstand nichts vom ganzen Geplapper. Erst zuletzt wurde ich gefragt. Der Urteilsspruch lautete: 30 Tage Arrest, bedingt, fünf Jahre Polizeiaufsicht und — das Bitterste für mich — Ausweisung aus meiner Heimat Kurtatsch. Also wohin?

Juli 1927 ~

Ich war bald da, bald dort, ln Neumarkt, in Margreid ... Es nagte und nagte in mir, und dann brach ich zusammen. Nirgends hatte ich Ruhe. Der Podesta ruhte nicht. Er verfolgte mich mit seinen Lügen von Ort zu Ort. . , hörte nichts als Drohungen . . . Todkrank schleppte ich mich heimlich in der Nacht nach Hause. Am 1. Juli 1927 in der finsteren Regennacht. . . Hier lag ich, täglich 39 bis 40 Grad Fieber.

Kurtatsch, August 1927

■ . . Kaum war ich zehn Tage dort, mußte es der Podesta erfahren. Trotz des ärztlichen Zeugnisses eines Spezialisten . .. verwies er mir. . . meinen Heimatort. Der Maresciallo (Karabinieri-Ortskommandant) war der einzige Ausweg . . . dieser Stockwelsche hatte mehr Gerechtigkeitsgefühl...

Februar 1928

Ich kam Oktober 1927 ins Krankenhaus nach Bozen . . . Vier volle Monate mußte ich Spitalluft atmen . . .

Kurtatsch 1929

Im Oktober fing wieder das Leid an . ..

Juni 1930

■ . : ich warte, warte . .. auf den Tod . . . Ade, ade, du Welt! Ich scheide leicht!

Am 30. Oktober 1930 starb Angela Nikoletti an den Schäden, die sie sich während ihrer Verfolgung zu ihrer ohnehin angegriffenen Gesundheit zugezogen hatte.

(Die Veröffentlichung wird fortgesetzt)

Vgl „Die Furche" Nr. 13, 14, 15/1959.

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