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Südtirol: Warten auf Europa

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Wäre der Faschismus noch an der Macht, so gäbe es heute keine „Südtirolfrage” mehr, dann wäre das Gebiet zwischen Brenner und Salurn längst rein italienisch.

Die „radikale ethnische Lösung” war eine der Hauptbedingungen für den Abschluß des Militärbündnisses mit Deutschland vom 22. Mai 1959. Am 23. Juni 1939 wurde diese „Lösung” in dem geheimgehaltenen deutsch-italienischen Protokoll der „Berliner Vereinbarung” besiegelt. Hitler, der stets sein Ziel, den Zusammenschluß aller Deutschen, betonte und sich als Volkstumsfanatiker gab, hatte die Südtiroler Volksgruppe eines militärischen Vorteiles, des „Stahlpaktes”, zuliebe fallen lassen. Das Abkommen hätte nach Artikel 5 der italienischen Verfassung der Ratifizierung beider Kammern bedurft. Diese Ratifizierung ist niemals, erfolgt, das Um- siedlungsabkommen hat in Italien niemals Gesetzeskraft erlangt!

Trotzdem wurden auf Grund von Zusatzvereinbarungen vom 21. Oktober und 17. November 1939 zwischen den örtlichen deutschen Konsular- und Llmsiedlungsstellen und den italienischen Provinzialbehörden in deh Jahren 1940 bis 1943 ein Drittel der Südtiroler nach Deutschland ausgesiedelt. Um es nochmals zu betonen: ohne jede gesetzliche oder staatsrechtlich verbindliche Grundlage!

„Diejenigen, welche von der Möglichkeit, für Deutschland zu optieren, keinen Gebrauch machen, werden in die Provinzen südlich des Po verpflanzt werden”, erklärte der faschistische Präfekt Mastromattei im Juli 1939 zu den Vertretern der Südtiroler Gemeinden. Mit dieser Drohung sollten möglichst viele Südtiroler zur Option getrieben werden.

Der Präfekt ließ Eisenbahnwaggons bereitstellen. In der amtlichen Verlautbarung hieß es: „ln der nächsten Zeit werden Transporte von Personen und Sachen für Rechnung des Kommissariates für Wanderung und Kolonisierung beginnen, welche von Stationen der Provinz Bozen und Trient ausgehen und bestimmt sind, entweder nach einer Grenzstation oder einer beliebigen des Staatseisdn- bahnnetzes (mit Ausschluß jener der tinie Trient—Brenner und ihrer Abzweigungen)’.” Die Linie Trient—Brenner ist der durch Südtirol führende Teil der Bahnlinie Innsbruck- Rom. Es ist also klar ausgesprochen, daß die Südtiroler entweder außerhalb Italiens oder ins Landesinnere gebracht werden sollten.

Mussolini weigerte sich, den Fürstbischof von Brixen zu empfangen, der mit einer Abordnung nach Rom gefahren war, um ein Dementi der Drohung des Präfekten zu erreichen, ja, er versuchte sogar, die Wiederansiedlung der Südtiroler auch in den an Italien grenzenden österreichischen Gebieten zu verhindern. Daraufhin entschloß sich der greise Bischof von Brixen, Doktor Geißler, mit seinem ganzen Domkapitel zur Option und Auswanderung nach Deutschland, trotz seiner Abneigung gegen Hitler und den Nationalsozialismus. „Wo meine Herde hingeht”, sagte er, „da gehe auch ich hin!”

Zur weiteren Verstärkung des Druckes wurde das Gesetz vom 7. Jänner 1937, das die Enteignung jedes für die Ansiedlung von italienischen Bauern geeigneten Grundstückes ermöglichte, auch auf den städtischen Besitz ausgedehnt. Alle Pachtverträge der Südtiroler an öffentlichen Grundstücken wurden aufgehoben, die Beschäftigung von Südtirolern auf solchen Grundstücken und die Neueinstellung von Südtirolern im Gastgewerbe verboten.

Dieser vom Staat ausgeübte Druck wurde durch die italienische Presse unterstützt. Die italienische Zeitvpg „II Quotidiano” kennzeichnete in einem Artikel am 10. Juli 1945 die damalige Lage:

„Wiele, die gar keine Sympathie für das Deutsche Reich hatten, eifrige Katholiken und Sozialisten, haben für das Deutsche Reich optiert, um aus dieser Hölle herauszukommen. Nichts ist bezeichnender als die Tatsache, daß die Ladiner, also ein Volk, dessen Sprache der italienischen nähersteht als der deutschen, für …das Deutsche Reich optiert haben.”

Eines ist erwiesen: Der Plan einer Umsiedlung der Südtiroler ging von den Italienern aus! Bereits ein Jahr vor Abschluß des Hitler-Musso- lini-Abkommens wurden auf italienischer Seite die Vorbereitungen dazu getroffen. Treibende Kräfte waren die nach 1919 in Südtirol zugewanderten Italiener. Die Dokumente lauten: „Nationaler Verband der Kriegsfreiwilligen. Trentinische Legion. Italienische Frei-

willigen-Legion ,Giulio Cesare. Bataillon Bozen.

Bozen, 7. April 1938 XVI.

Betr.: Das Oberetsch endgültig italienisch.

An unsere politische Führerschaft (Gerar- chi).

Wir bitten, eine politische Ueberlegung anstellen zu dürfen. Deutschland hat Oesterreich angeschlossen: der Nazismus hat eine weitere Forderung durchgesetzt, ein weiteres seiner Ziele erreicht. Es war schicksalhaft und nach dem Stand der Dinge unvermeidlich. — Südlich des Brenners steht die italienische Nation des römischen Imperialismus, nördlich die deutsche Nation des germanischen Reiches. So wurde ein mächtiger, schwerer und drückender Verband vor unseren Toren geschaffen!

Es ist wahr, die Freundschaft, die zurzeit die beiden Völker, das italienische und das deutsche verbindet, gibt uns für den Augenblick Ruhe und Sicherheit — aber wird es immer so sein?

Wäre es nicht ausgezeichnet, in dieser günstigen Situation der Freundschaft und der Konzessionen wahrhaft klare Positionen zu erringen und zu schaffen? Was bedeuten für uns die 150.000 fremdstämmigen deutschen Bewohner des Oberetsch? Auslagen und Besorgnisse jeder Art. Wahre und aufrichtige Italiener werden sie niemals werden.

Uns Freiwilligen dieses Gebietes, die wir die liebe nordische Rasse, mit der wir leider noch in ‘ täglichem Kontakt sind, sehr gut kennen, scheint der richtige Moment gekommen, um wahrhaft klare Positionen zu schaffen: Italien den Italienern, den Deutschen Deutschland!

Ein Vertrag zwischen unserem bewunderungswürdigen Duce und dem Führer — ein Vertrag, der von den besten Gefühlen der jetzigen Freundschaft inspiriert wird — könnte vorsorglich und endgültig das Problem der vollständigen, wahren Italianität der Bürger des Oberetsch lösen: Die Deutschen der Provinz Bozen werden aller ihrer Liegenschaften enteignet und dafür entschädigt und übersiedeln endgültig auf die Nordseite des Brennerš. — (So könnte auch endlich für immer das widerliche fremdstämmige Priestertum ausgeschaltet werden, das der größte Feind der Italianität des Oberetsch ist.)

Das Idealziel für die praktische Anwendung dieses freundschaftlichen Vertrages ist die ausnahmslose Umsiedlung aller Deutschen des Oberetsch, indem wir sie dem Freund Deutschland als Geschenk verehren. Geleitet von der zurzeit bestehenden Freundschaft, könnte die Maßnahme selbst jedoch, wenn notwendig, durch die Zubilligung des Optionsrechtes gemäßigt werden. Diese Option würde vollkommen und frei, aber endgültig sein.

Wer italienischer Staatsbürger bleiben will, muß sich materiell, politisch und sprachlich in absoluter Form als von der deutschen Nationalität getrennt fühlen und sich für Leben und Tod mit Italien vereinigt betrachten — er muß stolz sein, auf die Sitten und Gebräuche, auf die Sprache, die religiösen Zeremonien und auf alle anderen lokalen Aeußerungen, die nicht rein italienisch sind, verzichten —, er muß diesę Option spontan durchführen, voll Stolz auf die Ehre, der großen, ruhmvollen italienischen Nation anzugehören.

Wer sich jedoch als Deutscher fühlt, muß dies in ebensolcher Freiheit und ebenso großem Freimut ausdrücken — dieses sein innerstes Bewußtsein wird ihn mit Leichtigkeit die Unbequemlichkeit der Uebersiedlung über den Brenner ertragen lassen, um in sein deutsches Vaterland heimzukehren. Dann wird er unser Freund werden.

Wir Freiwilligen von Bozen richten an euch, hochgeehrte Gerarchen, diesen Vorschlag und bitten euch, ihn mit eurer maßgeblichen Befürwortung zur Prüfung S. E. dem Regierungschef unterbreiten zu wollen.

her Präsident der Sektion: gez. Dr.-lng. Guido Dorna.”

Der Verfasser dieser Eingabe, Dr.-lng. Dorna, Chefingenieur des Bozner Bauamtes, richtete auch am 20. April 1938,einen Brief an Tolomei, Mussolinis Beauftragten für die Italianisierung

Südtirols und Mitglied Nr. 1 der Faschistischen Partei Bozens. Darin heißt es:

„Ich sprach neulich mit dem Präfekten über meinen Vorschlag, unsere 150.000 (oder 200.000) Deutschen Hitler offiziell zum Geschenk zu machen. Glaubst Du nicht, Graf, man sollte beim Regierungschef darauf dringen, daß er Hitler diesen freundschaftlichen Vorschlag mache? Ich bitte Dich sehr, sehr, darauf zu dringen! Der Duce hört auf Dich, Du genießest mit größtem Recht seine Achtung und sein Vertrauen. Ich bin überzeugt, daß er mit Wohlwollen den Vorschlag prüfen wird, wenn er von Dir vorgelegt und befürwortet wird!. . .

Dein treuer Schüler und Gefolgsmann gez. Guido .Dorna.”

Nach der Veröffentlichung der „Berliner Vereinbarung” schrieb Dr. Dorna am 6. Juli 1939 an Tolomei:

„Verehrter teurer Meister, wir bringen unseren ganzen freudigen Jubel für den schönen, wunderschönen Sieg dieser Tage zum Ausdruck (wessen Sieg ist es im Grunde? Dein Sieg, Graf!), befriedigt, daß auch ein Vorschlag von uns — von uns, Deinen treuen Schülern und Gefolgsleuten — hundertprozen tig verwirklicht wurde, der von vielen als unrealisierbarer Traum gewertet worden war. . .”

Diese Dokumente zeigen, daß faschistische Kreise Italiens bereits drei Wochen nach dem Anschluß Oesterreichs, ein Jahr vor Abschluß des Umsiedlungsabkommens, die restlose Austreibung der Südtiroler anstrebten und die Zustimmung Mussolinis zu erhalten suchten.

86 Prozent, das sind von den 247.000 Südtirolern italienischer Staatsbürgerschaft 2X3.000, optierten für die deutsche Staatsbürgerschaft, für die Auswanderung, für den Verlust der Heimat. Zusammen mit den 7000 Oesterreichern und Deutschen hätten somit bis 31. Dezember 1942, 220.000 Personen mit Eigentums- und Realrechten an 6450 Quadratkilometer Boden und einem Gesamtvermögen von 20 Milliarden friedenslire auszuwandern gehabt.

Bis zum Zusammenbruch des Faschismus waren 75.000 Südtiroler mit einem Gesamtvermögen von einer Milliarde Lire ausgesiedelt worden. Die Auswanderer ließen sich etwa zu 65 Prozent in Nordtirol und Vorarlberg und zu 20 Prozent im übrigen Oesterreich nieder. 10 Prozent wurden in Deutschland angesiedelt, die restlichen 5 Prozent in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien und in Luxemburg, von wo sie 1945 neuerlich vertrieben wurden.

(Fortsetzung uttd Schluß folgt.)

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