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Südtirols harte Entscheidung

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Unter der Begleitmusik von Bomben, Sprengstoffanschlägen, Gerüchten und Spekulationen müssen die Südtiroler in diesen Wochen eine folgenschwere Entscheidung treffen, die das Schicksal des Landes zwischen Etsch und Eisack auf Jahrzehnte hinaus bestimmen kann. Es geht um die Annahme oder Ablehnung des neuen italienischen Sijd- tirol-„Paketes“, das heißt, der Summe der Konzessionen, die Rom in dieser Frage anzubieten bereit ist.

Welche Ergebnisse hat die neue Geheimdiplomatie um Südtirol gezeitigt? Die Frage ist komplexer als sie scheint, weil bei einer einigermaßen objektiven Wertung des neuen Verhandlungspaketes der Vergleich sowohl mit dem Ergebnis der Besprechungen zwischen Kreisky und Saragat in Baris als auch mit den Vorschlägen der inneritalienischen Neunzehner-Kommission gezogen werden muß.

Nach der von Außenminister Toncic anläßlich seiner Unterredung mit Fanfani in Straßburg akzeptierten Form der Geheimverhandlungen (die durch das geheime „Gipfeltreffen“ zwischen Klaus und Moro am 26. August 1965 in Predezzo eingeleitet wurden) kam es am 25. und 26. Mai in London, am 17. und IS. Juni in Montreux bei Genf und schließlich am 18. bis 20. Juli wiederum in der englischen Hauptstadt zu Expertengesprächen, deren Ergebnisse sich in den wesentlichsten Punkten folgendermaßen zusammenfassen lassen:

• Gegenüber dem „Pariser Paket“ Kreisky-Saragat vom Dezember 1964 können folgende Zugeständnisse als Fortschritte bezeichnet werden: Die Provinz erhält die bisher regionale Zuständigkeit auf dem Gebiet der Industrieförderung, von der die Industrien mit staatlicher Beteiligung allerdings ausgeschlossen bleiben; gewisse Verwaltungsbefugnisse auf dem wichtigen Sektor des Kreditwesens, u. a. das Recht auf die Ernennung des Sparkassenpräsidenten sowie maßgebliche Kompetenzen für die Nutzung der öffentlichen Gewässer.

• Gegenüber Paris müssen Verschlechterungen auf folgenden Gebieten festgestellt werden: Auf dem Sektor des Schulwesens, wo die Befugnisse des deutschen Schulamtsleiters hinsichtlich des ladinischen Lehrpersonals fallen; auf dem Sektor des Gesundheitsdienstes und der Krankenhausbetreuung; auf dem besonders wichtigen Gebiet der Arbeitsvermittlung und bei der Stellenbesetzung.

• Im Vergleich zu den Ergebnissen der Neunzehner-Kommission sieht die Bilanz eher noch betrüblicher aus: Den bereits erwähnten Verbesserungen auf den Gebieten der Industrieförderung, des Kreditwesens, dem Plan für die Nutzung der öffentlichen Gewässer sowie auf dem Sektor der öffentlichen Arbeiten, des Transportwesens, des Enteignungswesens und der Wasserbauten stehen Verschlechterungen auf dem Gebiete des Schulwesens, der Arbeitsvermittlung, der Stellenbesetzung, des Gesundheitsdienstes und der Krankenpflege, der, öffentlichen Fürsorge und Wohltätigkeit, der Mitverantwortung hinsichtlich der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gewässer, der öffentlichen Betriebe usw. gegenüber.

Gleichzeitig verlangten die italienischen Experten einen Sicherheitsfaktor für die italienische „Minderheit“ bei der Abstimmung über das Provinzialbudget, der praktisch einem Vetorecht gleichkommen würde, durch das nicht wenige der autonomen Befugnisse des Landes de facto wieder unwirksam gemacht werden könnten. Es wurde von der Einsetzung eines paritätischen Organs durch den Landtag unter dem Vorsitz des Landtagspräsidenten, dessen Stimme ausschlaggebend wäre, gesprochen. Der Vorsitz soll alle zwei Jahre zwischen einem Angehörigen der Südtiroler und einem Italiener gewechselt werden.

Wenngleich diese Form des Versuches, der italienischen „Minder heit“ eine Art Vetorecht zum Haushalt einzuräumen, im Vergleich zur italienischen Forderung im Rahmen der Neunzehner-Kommission schon wesentlich gemäßigter klingt, so muß sie denn doch ruhig, aber bestimmt zurückgewiesen werden. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, was die SVP in einem Memorandum an Ministerpräsident Moro (das ihm zu Ostern 1965 vom Obmann der SVP und von den Parlamentariern überreicht wurde) diesbezüglich festgestellt hat: „Unannehmbar in jeder Hinsicht ist der Vorschlag, wonach ein fünfgliedriges Komitee den Haushalt genehmigen sollte, falls ihn die Mehrheit einer Sprachgruppe im Landtag nicht genehmigt. Jede Formel in diesem Sinne, welche die (Südtiroler) Mehrheit (in der Provinz) der (italienischen) Minderheit ausliefert, ist zutiefst undemokratisch und würde die von allen erstrebte Lösung unmöglich machen.“ Auch bei der letzten Landesversammlung der Südtiroler Volkspartei am 4. Juni d. J. in Meran wurde diese italienische Forderung eindeutig zurückgewiesen.

Wie sieht es nun mit der internationalen Verankerung beziehungsweise Klagbarkeit des „Paketes" aus? Beim Treffen Kreisky-Saragat in Paris hatte sich kein Geringerer als der heutige italienische Staatspräsident bereit erklärt, einem Schiedsvertrag zwischen Italien und Österreich zuzustimmen. Dieser sah die Bildung einer fünfköpfigen Schiedskommission vor, die das Recht gehabt hätte, über die Auslegung und Anwendung aller zwischen Italien und Österreich bestehenden Verträge zu urteilen. Der wesentlichste Effekt dieses Schieds- vertrages bestand darin, daß Österreich innerhalb einer Frist von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrages bei der Schiedskommission jederzeit die Erfüllung der italienischen Zusagen hätte einklagen können. Dabei hätte nicht bewiesen werden müssen, daß diese Zusagen durch das Pariser Abkommen von 1946 gedeckt seien. Die italienische

Regierung hätte sich verpflichtet, die Entwürfe für die Verfassungsgesetze innerhalb von sechs Monaten nach Unterzeichnung des Schiedsvertrages im Parlament einzubringen und dieselben im Beschleunigungsverfahren verabschieden zu lassen.

Zwischen Kreisky und Saragat wurde im Dezember 1964 eine echte internationale Verankerung des Süd- tirol-Paketes erzielt, die für die Südtiroler einen Sicherheitsfaktor von einer gar nicht überschätzbaren Bedeutung dargestellt hätte.

Heute lehnt Italien jede echte Form einer internationalen Verankerung, die diesen Namen verdienen wüi’de, ab. Statt dessen schlägt Rom vor, bezüglich künftiger Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten über den Pariser Vertrag den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu befassen. Nach Ansicht der Farnesina gehen die nun angebotenen Zugeständnisse Italiens jedoch weit über den Pariser Vertrag hinaus. Sie wären also beim Internationalen Gerichtshof nicht klagbar, es sei denn, Rom und Wien würden dies in einem eigenen Abkommen ausdrücklich beschließen, wozu die römische Diplomatie bisher jedoch keine Neigung gezeigt hat.

Als-„Trostzuckerl“ für die gefallene fünfjährige Verankerung erklärt sich Italien nun bereit, auf die sogenannte „Endfertigungsklausel“, also auf die Erklärung des österreichischen Parlaments, daß man die Südtirolfrage als gelöst und abgeschlossen betrachte, zu verzichten. Jetzt muß diese Erklärung erst nach der Erfüllung der italienischen Zugeständnisse abgegeben werden. Dieser auf den ersten Blick eindrucksvolle Umstand wird denn auch vom Ballhausplatz als eine „politische Garantie“ bewertet, der große Bedeutung beizumessen sei. Wer dies tut, vergißt allerdings, daß die Erklärung Österreichs, daß der Streitfall nunmehr beigelegt sei, auch nach der in Paris im Dezember 1964 erfolgten Vereinbarung nur unter der Bedingung abgegeben worden wäre, daß „die im Annex aufgestellten Maßnahmen in angemessener Frist und im Geist des Verständnisses für die Südtiroler Volksgruppe erfüllt werden“.

Aus dem bisher Gesagten lassen sich folgende Schlüsse ziehen:

1. Eine Lösung für Südtirol, die nicht eine echte internationale Verankerung der italienischen Zugeständnisse enthält, ist schwer akzeptabel, da damit die Südtiroler wieder einmal allein auf den „guten Willen“ Roms angewiesen sein würden. Eine Verankerung des gegenwärtigen Pakets in einer für beide Seiten tragbaren Form bildet nach wie vor das Alpha und Omega, nämlich die unerläßliche Schutzklausel jedes zukünftigen Südtirolabkommens.

2. Die von Italien vorgeschlagene Befassung des Internationalen Gerichtshofes kann dafür nicht als Ersatz gelten. Der IGH ist Österreich schon 1960 vom rechtsgerichteten italienischen Ministerpräsidenten Tam- broni (der einige Monate mit Hilfe der Neofaschisten au regieren versuchte) angeboten, von Wien jedoch damals und später immer entschieden zurückgewiesen worden.

3. Die Nominierung des Internationalen Gerichtshofes als Instanz für die Auslegung des Pariser Abkommens würde wohl endgültig eine Befassung der Vereinten Nationen öder des Europarates mit dem Südtirolproblem ausschließen, da beide Gremien Österreich in diesem Fall auf die bestehende bilaterale Vereinbarung über den IGH als einvernehmlich bestimmtes friedliches Mittel verweisen würden.

4. Die Tatsache, daß Italien keiner tragbaren Form einer internationalen Verankerung des angestrebten Südtirolabkommens zustimmen will, muß nachdenklich stimmen. Ein Staat, der einen Vertrag loyal zu erfüllen gedenkt, braucht keine Scheu davor zu haben. Mit Recht hat Chefredakteur Posch im Innsbrucker „Volksboten“ bemerkt, die Haltung Italiens gleiche der eines Schuldners, der seinem Gläubiger das Angebot macht, die geschuldete Summe zu erhöhen, wenn er dafür keine Unterschrift zu leisten brauche.

Am 5. September werden es genau 20 Jahre sein, seitdem zwischen Gru- ber und Degasperi das Pariser Abkommen geschlossen wurde, in dem mit rund 50 Schreibmaschinenzeilen für zwei Jahrzehnte die weitere Entwicklung Südtirols bestimmt wurde. Dr. Gruber, heute wieder Staatssekretär, hat sich erst kürzlich wieder in einer Wiener Tageszeitung mit ausführlichen „Erinnerungen aus Anlaß einer historischen Katzenmusik“ gegen dieses Urteil zur Wehr zu setzen versucht. Der Tenor seiner Erklärungen lautet: Mehr war damals nicht zu erreichen! Das Ergebnis überbot unsere Erwartungen; eine Aussage übrigens, die von der italienischen Presse von Bozen bis Messina sofort freudig aufgegriffen wurde.

Wie dem auch immer sein mag: Im Pariser Abkommen ist keine nähere Bestimmung enthalten, die klar sagen würde, wie die zu gewährende Autonomie konkret aus- sehen soll. Viele der Schwierigkeiten, mit denen Wien diplomatisch und die Südtiroler praktisch seit Jahren zu kämpfen haben, resultieren daraus. Aus diesem Grund kann die italienische Diplomatie trotz aller Umdeutungen dieses Abkommens, trotz der Nichteinhaltung gewisser Schutzbestimmungen (zum Beispiel Sprache, Stellenbesetzung usw.) heute frisch und frei erklären, daß die Ausgestaltung dieser Autonomie eine innere Angelegenheit Italiens ist.

Die von Österreich zuletzt akzeptierte Methode der Geheimdiplomatie hat auf der Südtiroler Bühne manche Nebenwirkungen. Wo früher Klarheit herrschte, herrscht heute Verwirrung und Unruhe. Noch schlimmer ist vielleicht, daß sich die bereits bestehenden Gegensätze innerhalb der Sammelpartei SVP dadurch noch vertieft haben.

Dem gegenwärtigen Südtirol- Paket in der vorliegenden Form die Zustimmung zu geben, hieße nach manch bitteren Erfahrungen der römischen Diplomatie plötzlich ein ungeahntes Maß an Vertrauen einzuräumen. Dies, obwohl sie sich heute weigert, eine bereits vom heutigen Staatspräsidenten gewährte internationale Verankerung nochmals zu bestätigen. Es hieße weiter, plötzlich auf Befugnisse und Forderungen zu verzichten, die man sowohl in Wien als auch vor allem in Bozen seit Jahren immer wieder als „unerläßlich“ und „unabdingbar“ bezeichnet hat. Gerade in der letzten Landesversammlung der SVP am 4. Juni in Meran erklärte die überwältigende Mehrheit der Delegierten, daß man eine Lösung ohne eine echte Verankerung niemals akzeptieren würde.

Die Südtiroler haben ihre Forderungen Jahr für Jahr reduziert, sie haben schweren Herzens auf die Trennung von Trient und somit auf eine Landesautonomie im Sinne des Wortes verzichtet. Wer den Süd- tirolem rät, den Spatz in der Hand zu wählen, weil die Taube noch auf dem Dach sei, zwingt sie zu einer Wahl zwischen wenig und nichts.

20 Jahre nach Abschluß des Pariser Vertrages wäre es verhängnisvoll, nochmals einem Vertrag ähnlicher Art zuzustimmen. Der Sperling in der Hand, der heute als Lösung angepriesen, sich morgen schon in dieser Form als Scheinlösung entpuppen könnte, würde schließlich all jenen Abenteurern und politischen Galgenvögel, die meinen, das Problem mit Bomben und feigen Mordanschlägen lösen zu können, neue Trumpfkarten in die Hand spielen. Und das muß auf alle Fälle verhindert werden.

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