6787250-1970_19_01.jpg
Digital In Arbeit

Tag der Falken

Werbung
Werbung
Werbung

Nach dem amerikanischen Einmarsch in Kambodscha ist die Frage, ob sich die USA aus ihrei; blutigen Verstrickung in fremde Angelegenheiten lösen wollen und bereit sind, den politischen Preis für die Fehlentscheidungen der Präsidenten Kennedy und Johnson zu zahlen, müßig geworden. Nixon und die Männer im Pentagon prophezeiten zwar wieder, in ein paar Wochen werde alles erledigt und entschieden sein, aber für realitätsfern genug, das selbst zu glauben, kann man sie nach all den Blamagen mit ähnlichen Vorhersagen kaum mehr halten. Die Annahme, den Vietkong durch Vernichtung seiner kambodschanischen Stützpunkte und Nachschublinien endgültig zu schlagen, basiert auf einer Milchmädchenrechnung, sie gleicht der Kombination eines Schachspielers, der vergißt, daß auch der Gegner wieder zum Zug kommt. Der Vietkong geht natürlich vor allem im südlichen Südvietnam schwereren Zeiten entgegen, aber er wird den Kampf deshalb nicht aufgeben. Der Vietnamkrieg wird sich nun mit unerbittlicher Konsequenz in die Nachbarländer verlagern. Der amerikanische Verteidigungsminister ließ bereits wissen, daß man bereit sei, wenn nötig, auch in Laos einzumarschieren. Es wird wohl bald nötig werden. Genügend amerikanische „Berater“ halten sich in Laos schon auf. Man kann sich ausrechnen, wann auch Thailand Operationsgebiet wird.

Die amerikanische Führung könnte ihren neuen Coup mit dem Hinweis auf militärische Notwendigkeiten wenigstens etwas beschönigen, hätte sich der Zugriff nicht so brüsk und unvermittelt ereignet. Amerika hatte es so eilig, daß man sich nicht erst Zeit nahm, sich eine Einladung nach Kambodscha zu besorgen. Einmal mehr haben die Vereinigten Staaten das formale Völkerrecht gegen sich. Zum 158. Mal (laut Dirksen-Report) überging damit ein amerikanischer Präsident das Vorrecht des Kongresses, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Wie oft amerikanische Präsidenten die Souveränität anderer Staaten einschränkten, wurde nicht gezählt. Faktum ist, daß die USA — die nach dem zweiten Weltkrieg auf Todesstrafe für die Initiatoren von Angriffskriegen drängten, was wir durchaus als einen Fortschritt werten wollen — eine aus freien Wahlen hervorgegangene, ihnen nicht genehme Regierung der Dominikanischen Republik von ihren Fallschirmjägern aus dem Amt jagen ließen. Faktum ist, daß sie Arbenz, den frei gewählten Präsidenten von Guatemala, mit einer von der CIA patronisierten Söldnerarmee aus seinem Land vertrieben und durch eine Marionettenregierung ersetzten. Faktum bleibt, daß Kennedy das Völkerrecht ignorierte, als er in der Kubakrise 1962 Chruschtschow auspokerte. Es ging um amerikanische Lebensinteressen, mag sein — aber als Kennedy Chruschtschows Vorschlag, sich auf den Abzug der russischen Raketen auf Kuba und der die Sowjetunion aus nicht geringerer Nähe bedrohenden amerikanischen Raketen in der Türkei zu einigen, öffentlich ablehnte, ging er genau um einen Schritt zu weit. Es war der Schritt in den Bereich nackter, unverblümter Machtpolitik, in dem sich die Politik der beiden Supermächte seither immer bedenkenloser bewegt. Die Sowjetunion ist in diesem Spiel ein idealer Komplize. Vom Selbstbestimmungsrecht der kleineren Völker ist, wo ihre Interessen mit denen der Supermächte kollidieren, nichts übrig.

Interessant wird an der Schwelle zu neuen Eskalationsstufen in Indo-china vor allem die Frage, ob jene Kräfte in Pentagon und CIA, die immer wieder auf harten Kurs und Ausweitung des Vietnamkrieges drängten, den amerikanischen Präsidenten bloß ein weiteres Mal überspielten — was er sich von dieser Seite gefallen lassen muß. Oder ob sie ihn von der Notwendigkeit überzeugt haben, völlig auf ihre Linie einzuschwenken.

Die Frage nach ihren Motiven ist nicht nur auf dem Boden der klassischen Theorien über Krieg und Konjunkturpolitik zu beantworten. Der unkontrollierbare Dschungel militärisch-wirtschaftlich-politischer Interessen ist heute einer der wichtigsten Machtfaktoren der USA. In diesem Dschungel gedeiht ein unsichtbares Milliardengeschäft, dessen Nutznießer weder Absatzschwierigkeiten noch Preissorgen kennen und dessen Expansion gesichert ist, solange die Eskalation fortschreitet. Der militärisch-wirtschaftliche Komplex ist aber auch Nährboden für alle jene Ideologen der starken Hand im Inneren, gegen Neger, Linke und so weiter, mit denen Nixon als Mann der Mitte zurechtkommen muß. Die Auflösung des demokratischen Konsensus der USA und die politische und soziale Desintegration sind so weit fortgeschritten, daß die Anklage, hinter der US-Eskalationspolitik stünden Interessen kleiner Gruppen, heute in weiten Kreisen der USA kaum mehr als Ungeheuerlichkeit empfunden wird. Mit der Konsequenz eines Sartre-schen Räderwerkes bewegt sich die Entwicklung auf ein weiteres Hereinziehen Chinas in den Indochina-krieg zu. Es ist bekannt, daß es in der Generalität der Vereinigten Staaten eine breite Lobby gibt, die sedt dem Koreakrieg auf einen Präventivkrieg gegen China hinarbeitet und aus den letzten Entwicklungen sicher gestärkt hervorgegangen ist. Sowjetische Duldung einer solchen „Aktion“ — das klingt nicht mehr ganz unmöglich.

Nixon wird heute niemand mehr die geradezu übermenschliche Kraft zutrauen, einer sukzessiven Entwicklung in dieser Richtung Einhalt zu gebieten. Alles hängt davon ab, ob die demokratischen Einrichtungen der USA noch intakt genug sind, eine Entwicklung zu verhindern, welche die Mehrheit der Wähler bestimmt nicht will. Es besteht die Gefahr, daß ihre Bemühungen schon durch die miiit dem Einmarsch nach Kambodscha freigegebene Mechanik der gegenseitigen Zugzwänge zum Scheitern, verurteilt sind.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung