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Teure Jeans und leere Herzen

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Wenn es draußen kalt ist, schlafen sie in leeren Zugwaggons, öffentlichen WC-Anlagen oder in Notschlafstellen. Natascha, Daniel. Im Sommer weichen sie auf die Wiener Donauinsel, in den Prater oder in Parks aus. Michael, Robert und Klaus. Tagsüber halten sie sich in U-Bahn-Stationen, etwa im Umkreis der Drogenszene am Wiener Karlsplatz, auf oder streunen in Fußgängerzonen herum. Andreas, Birgit. Sie treten meistens in Grüppchen auf und sind im Teenager-Alter. Einige nehmen Drogen, andere trinken, manche sind Punks mit lila gefärbtem Haar.

Viele aber sind äußerlich unauffällig, ganz normale Kids eben, nur mit dem kleinen Schönheitsfehler, daß sie abends nicht nach Hause gehen, sondern ihre Nächte irgendwo anders verbringen. In Städten hat dieses „irgendwo" immer mit Straßen, Plätzen oder Parks zu tun und man nennt die Kinder dann „Straßenkinder".

Straßenkinder in Wien? Sollte ein Phänomen, das wir bislang weit weg in den großen Metropolen Brasiliens und anderswo in der Dritten Welt vermutet haben, in einer der - wie immer gesagt wird - „friedlichsten und ungefährlichsten Großstädte" der Welt Einzug gehalten haben?

„Eine richtige Straßenkinderszene gibt es bei uns nicht", erklärt Maria Gebhard, Kinder- und Jugendanwäl-tin der Stadt Wien, und meint, daß man Wien keinesfalls mit Brasilien vergleichen könne, wo die Zustände viel schlimmer seien. Auch Elisabeth Köppl vom Amt für Jugend und Familie meint, daß es bei uns keine Jugendlichen oder Kinder gäbe, die nicht irgendeine Möglichkeit zum Übernachten hätten; diese würden vielmehr auf das vorhandene Angebot nicht reagieren und sich diesem entziehen.

Der Pressesprecher des Vizebürgermeisters und der Sozialstadträtin der Stadt Wien, Walter Kouba, formuliert es ähnlich: „Klassische Straßenkinder orte ich in Wien nicht." Und wenn welche auf der Straße leben, so seien sie einfach nur Ausreißer, die es immer schon gegeben habe und immer geben werde. Dafür, daß Kinder von zu Hause oder aus Heimen nicht ausreißen, gebe es halt keine Garantie.

Daniel Wink vom Jugendhaus der Caritas sieht die Sache hingegen ganz anders: „Es gibt sie, die Straßenkinder in Wien. Leider." Diese Beobachtung werde immer wieder gemacht, wenn die Busse des Jugendhauses zu den von Obdachlosen bevölkerten Plätzen der Stadt fahren, um sie mit Nahrung zu versorgen und medizinisch zu betreuen. Im Umkreis der Drogenszene bilden sich kleinere Gruppen von Kindern und Jugendlichen, in denen auch schon Zwölfjährige zu finden sind.

Auch der Streetworker Michael Kofler weiß von „Straßenkindern" zu berichten. Manchmal handle es sich nur um „Abenteuergeschichten", wo tagelanges Wegbleiben von zu Hause als eine Art Sport betrieben wird. Viele Halbwüchsige laufen jedoch immer wieder von zu Hause weg, weil sie es dort einfach nicht mehr aushalten. Ebenso gibt es Eltern, die ihre Kinder regelrecht „hinausschmeißen".

Viele Akte, die durch seine Hände gehen, bestätigen das, sagt auch Udo Jesionek, der Präsident des Wiener Jugendgerichtshofes, zur Problematik. Die Straßenkinderszene Wiens bezeichnet er als „auffällig", auch wenn sie zahlenmäßig (noch) nicht dramatisch sei. Dennoch sei jedes Kind ohne ein Heim und ohne Dach über denji Kopf eines zuviel.

Apropos Zahlen: Es gibt bislang keinerlei Erhebungen über die Anzahl der Jugendlichen, die in den Straßen Wiens leben. Major Alfred Czech früher im kriminalpolizeilichen Bera tungsdienst und Kenner der Situation wagt nicht einmal eine Schätzung. In einer österreichischen Tageszeitung war einmal von 100 Straßenkindern die Bede - eine Zahl, die allerdings durch nichts zu belegen und deshalb mit Vorsicht zu genießen sei. Grund für den Mangel an Erhebungen is: auch die Inhomogenität der Gruppe Viele Kinder geben, fragt man sie, auch gar nicht zu, daß sie kein Heim haben.

Bedenkt man die beachtliche Anzahl an offiziellen Einrichtungen für Kin der und Jugendliche, so dürfte es die se jungen Obdachlosen eigentlich nicht geben.

Was steht zwischen denen, die Hil fe brauchen und denen, die Hilfe an bieten? „Das Hauptproblem ist die Schwellenangst", formuliert Udo Je sionek eine Erfahrung, die von allen jenen, die mit der Praxis vertraut sind, nur bestätigen können. „Wem es so schlecht geht, der meldet sich nich; mehr bei einer öffentlichen Stelle" meint auch Lisbeth Kupferschmid; vom „Kindertelefon".

Die Hauptsorge der meisten Kinde: ■ besteht in der Angst vor einer mögli chen polizeilichen Anzeige. Zum an deren ist immer wieder eine gewisse Scham, von anderen beim Hilfe-Su chen gesehen zu werden, festzustellen, berichtet Udo Jesionek. Insofern sei e i notwendig, vor Ort etwas zu tun. „Man kann nicht warten, daß die Kin der kommen - man muß zu den Kin dem gehen!"

Genau das erachtet der Präsiden des Jugendgerichtshofes für die Zu kunft als notwendig. Konkret heißi das: keine Bürokratie, Wahrung de:' Anonymität, Versorgung mit dem Le bensnotwendigen, keine polizeiliche Anzeige. Andererseits gibt es auch jene: Kids, die gar keine Hilfe wollen. „Ei wird immer Straßenkinder geben, d;. kann man noch so niederschwellige Einrichtungen schaffen", meint Ma jor Czech. „Wer es im Heim oder zi Hause nicht mehr aushält, der hau; ab", sagt auch Walter Kouba. „Egal was Sie tun".

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