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Theater und Kritik

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Jede Theaterkritik ist ein Urteil über den Erfolg der Arbeit mehrerer -Menschen. Sie beurteilt den Autor, der Monate, vielleicht Jahre über seinem Werk gesessen ist. Sie beurteilt Schauspieler, Regisseur, Bühnenbildner, vielfach sogar technisches Personal, die in wochenlangen Proben ihr Bestes getan haben. Sie mag noch so blendend geschrieben sein, sie ist auf jeden Fall abhängig, daß bereits vor ihrem Entstehen andere Menschen gearbeitet und geschaffen haben. Und deshalb sei es einmal erlaubt, die Kritik nicht von der literarischen, wissenschaftlichen oder ästhetischen Seite aus zu betrachten, sondern bloß die vielleicht sehr, subjektive Meinung jener darzulegen, die durch ihre Tätigkeit den unmittelbaren Anlaß zur Entstehung der Kritik geben, nämlich die Meinung der Leute vom Theater.

Was besagt die Kritik, von diesem Standpunkt aus gesehen? Was bewirkt sie? Inwiefern ist sie für das. Theater von Bedeutung? — Der erste Punkt, der bei diesem Fragenkomplex geklärt werden muß, ist die Einwirkung der Kritik auf den Besuch des Theaters, und hiezu ist es notwendig, zu wissen, wer überhaupt die Theaterkritiken liest. Da sind zunächst und vor allem die Theaterleute selbst. Dann die Premierenbesucher, die sich leider vielfach erst nach dem Studium der Kritik ihre sogenannte eigene Meinung bilden. Dann, in einem gewissen Abstand, Kunst- und Theaterinteressierte und schließlich jene Zeitungsleser, die ihr Blatt tatsächlich täglich vom Anfang bis zum Ende durchlesen… Das ist auf den ersten Blick mehr, als man denken würde.

Auf den zweiten jedoch viel zu wenig, um für die Zugkraft eines Stückes ausschlaggebend zu sein. Das Entscheidende ist und bleibt nämlich beim normalen Stüde die Mundpropaganda, die allerdings die Bemerkung einschließen kann, daß das betreffende Stüde gute Kritiken gehabt habe. Es gibt Stücke mit schlechten Kritiken, die große Einnahmen erzielten, es gibt Stücke mit blendenden Kritiken, die man nach ein paar Vorstellungen absetzen mußte. Ist die Kritik also ohne jeden Einfluß auf die finanzielle Rentabilität? Durchaus nicht. Im allgemeinen kann man sagen, daß die gute Kritik nidits nützt, daß aber die schlechte schaden katm, wenn das Stück nicht dem Geschmack des breitesten Publikums entspridit. Ein literarisches Stück wird durch die ungeteilt schlechte Kritik aller Zeitungen zum Mißerfolg gestempelt. Die sogenannte Diskussion also: bejahende und ablehnende Stimmen verschiedener Zeitungen hilft nur dann, wenn sie genügend Beachtung findet. Hier entscheiden Quantität und Intensität der Stellungnahme. Ganz wichtig wird schließlich die Kritik, wenn sie die Parteimeinung einer geschlossenen Gruppe von Kartenabnehmern bildet. So nimmt zum Beispiel die Kulturabteilung eines großen Verbandes nur dann Karten ab’ Wenn eine bestimmte Zeitung das Stück gut rezensiert hat…

Wie rechnet also das Theater mit der Kritik? Das hängt zunächst von dem in Frage stehenden Stück ab. Bringt das Theater einen heiteren Reißer, dann kümmert es sich wenig um die Kritik. Bringt es ein literarisches Experiment, dann wird es um die Kritik bangen. Bringt es Politik, so muß es die Einstellung seiner Besucherschicht und die entsprechende Zeitungsmeinung ins Auge fassen …

Soweit über die finanziellen Belange. Die Kritik hat aber noch eine andere Seite — die den Schauspieler betrifft. Für ihn bedeutet nämlich die Kritik beruflichen Erfolg, weitere Verwendung, Aufstieg oder Abstieg, öffentliche Meinung und schließlich noch Antrieb und künstlerischen Rat. Gewiß: es gibt Direktoren, denen es gleichgültig ist, wie ein Schauspieler kritisiert wird, eine derartige Haltung ist aber nicht für jede Bühne vertretbar. Der Name des Schauspielers wird nun eben doch vielfach von der Presse „gemacht“, und das Theater braucht den „Namen“. Deshalb bangt der Schauspieler vor der Kritik, und in dieser Tatsache liegt viel Tragik. Ein bekannter Wiener Regisseur, der selbst nichts von der Kritik fürchten hatte, stellte einmal die Forderung auf, ein Theaterkritiker müßte Bühnenpraxis haben und selbst als Schauspieler oder zumindest Regieassistent tätig gewesen sein, bevor er sich ein Richteramt über andere anmaße und mit seinem Urteil Existenzen gefährde. Es gibt literarische Kritiker, die mit Sicherheit immer die unechten Leistungen loben und die hochwertigen übersehen. Es gibt Kritiker, die in Unkenntnis des Bühnenbetriebes ausgesprochene Regietaten den Schauspielern zuschreiben, und umgekehrt. Es gibt Kritiker, welche die Grenzen zwischen Darstellung und Stück oder zwischen Regie und Bühnenbild nicht richtig ziehen können. Es gibt Kritiker, die von der Regie nur sagen können, ob sie straff war und Tempo hatte. Von einem künstlerischen Rat, durch den der Schauspieler lernen und durch den er in seiner Entwicklung gefördert werden könnte, darf in Wien kaum gesprochen werden, obwohl sich manchmal in den Kritiken Schulklassifizierungen vorfinden, die zwar von Überheblichkeit, selten aber Fachkenntnis künden! Eine der schwierigsten Fragen der Bühnenkunst ist die Frage des sogenannten Outrierens oder Chargierens, ein Terminus, der Übertreibung schauspielerischer Mittel ausdrückt. Es gibt Schauspieler, die kraft ihrer Persönlichkeit outrieren dürfen. Andere dürfen es nicht. Das zu entscheiden, verlangt ein gewisses Verständnis. Oft werden nun in der Presse Schauspieler gelobt, deren Leistung bei allen Fachleuten als schamloses Outrieren abgelehnt wird. Der Kritiker hat in diesem Fall meistens die Entschuldigung, daß dem Publikum gerade diese Art der Darstellung gefallen habe was leider stimmt! und daß er nur die Meinung der Zuschauer weitergebe! Damit kommen wir zu einem äußerst wichtigen Punkt des ganzen Kritikproblems, nämlich zur Frage, inwieweit der Kritiker die Meinung des Publikums zur Grundlage seiner Besprechung macht und machen darf.

Ein Stüde wird unter Gelächter und Applaus aufgeführt. Die Kritik stellt fest, daß es schal, kitschig und primitiv gewesen sei. In einem anderen Stück ist das Haus gelangweilt, der Applaus langt für knapp fünf Vorhänge. Die Kritik aber bringt eine Lobeshymne. Offenbar ist also der Kritiker keinesfalls zur Weitergabe der Publikumsstimmung verpflichtet, er dient einer höheren Aufgabe, die oft als Erziehung zu besserem Geschmack bezeichnet wird, wenn man es nicht praktischer findet, auf dieses Postulat zu verzichten und die rein individuelle Meinungsäußerung des Kritikers als Sinn und Zweck der Kritik erklärt. Diese letzte Anschauung wäre ja nun annehmbar, wenn nicht eben die Zeitung doch immer noch die öffentliche Meinung repräsentierte… Die Schaffung dieser öffentlichen Meinung einem verantwortungslosen, nicht sachkundigen Menschen zu übertragen, erscheint doch ein wenig sonderbar! Die Mitwirkung an der Bildung der öffentlichen Meinung ist nun eine der wichtigsten Aufgaben der Preßfreiheit. Da aber Freiheit unter den Menschen immer nur bei einem hohen Maß von Selbstdisziplin und Verantwortungsbewußtsein möglich ist, muß man vom Kritiker verlangen können, daß er sich über die Wirkung seines Urteils im klaren ist, daß er also nicht nur sich selber verantwortlich ist! Der Kritiker hat in bezug auf Publikum und Schauspieler eine unbedingt erzieherische Aufgabe, beim Schauspieler fällt ihm noch dazu eine bestimmte Entscheidung zu über dessen Fortkommen, also: eine Art Machtposition! Macht ohne Verantwortung ist aber untragbar.

Wie stellt sich nun der Theaterfachmann eine wirklich ernstzunehmende Kritik vor? Er erwartet, daß der Kritiker zunächst, einmal die Kritik nicht als Selbstzweck ansieht und die Arbeit anderer nicht lediglich dazu benützt, um mit seinem eigenen „Geist“ zu prunken. Geist ist im Rahmen einer Kritik gewiß zu begrüßen, er soll aber der Besprechung dienen; die Besprechung darf nicht Vorwand sein für die Entfaltung eigener literarischer Brillanz! Das Theater fordert ferner, daß der Kritiker die Arbeit würdigt, die für jede Aufführung nötig ist; daß er den talentierten jungen Schauspieler ermutigt und durch besondere Nennung zu weiteren Taten anspornt, auch wenn die vorliegende Leistung nicht hundertprozentig gereift erschien. Daß er dem arrivierten Schauspieler sagt, warum er gewirkt oder nicht gewirkt habe, und es unterläßt, ihn bloß ohne Angabe von Gründen wie einen Schüler zu klassifizieren. Daß er ausgesprochene Inszenierungsfehler erkennt und diese nicht dem Schauspieler anlastet, andererseits aber auch die Regie an sich zu werten weiß. Nicht zuletzt: daß er seine politische Meinung von der Beurteilung der Darstellung trennt. Er soll ferner alt genug sein, um Vergleidts- möglichkeiten verschiedener Aufführungen zu haben, aber nicht so alt. sein, daß er stets in sentimentalen Tönen von der „guten alten Zeit“ träumt, so daß es ihm in der Gegenwart niemand mehr recht machen kann. In Krisenzeiten wie der heutigen aber erwartet jede verantwortungsbewußte Theatermann vom Kritiker, daß er die ernste Darbietung mit Nachsicht behandle. Daß er nicht aus literarischem Snobbismus gerade dem Reißer seine Nachsicht zuwendet, der dieser Hilfe gewiß nicht bedarf und dergestalt gerade dann die Meinung des Publikums übernimmt, wenn die Erziehungsarbeit am wichtigsten wäre!

Wenn der Kritiker diesen Forderungen des Theaters nur etwas entsprechen würde, dann könnte nicht, wie heutzutage allgemein in den Fachkreisen, die Ansicht vorherrschen, es sei eigentlich nicht der Mühe wert, eine Kritik zu lesen, weil sie ja mit wenigen Ausnahmen doch nur entweder dem Schreiber als Folie zur Entfaltung seiner schriftstellerischen Artistik diene ‘‘der aber schlechthin bloß seine Unkenntnis ui:d Verantwortungslosigkeit verrate…

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