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Digital In Arbeit

Theodor Kardinal Innitzer:

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1. Mai: Tag des sozialen Gewissens

In unseren Tagen geht eine Welle des Optimismus durch unser Volk. Ohne für die Gefahren, die noch vor uns liegen, blind zu sein, spüren alle, dafj wir in einer historischen Stunde leben. Zum ersten Male in der Geschichte der Nachkriegszeit, liegt es im Bereich des historisch Möglichen, dah Oesterreich frei wird.

Diese Stunde gebietet auch dem katholischen Volk, seine bisherige Arbeit, vor allem auf karitativem und sozialem Gebiet, zu überprüfen und neue Wege zu suchen.

Das Christentum hat die Welt auch im sozialen Bereich dadurch revolutioniert, dafj es die Würde der Arbeit anerkannt hat. Wenn Christen vorübergehend für die Würde der Arbeit blind waren, so ist das eine traurige Episode gewesen, die vorüber ist. Der 1. Mai ist in diesem Sinne auch ein Feiertag für uns.

Wir dürfen jedoch dabei nicht stehen bleiben und müssen den 1. Mai zu einem Tag der sozialen Gewissensabrechnung machen.

Die Not der ersten Nachkriegsjahre, die damals wirklich eine unübersehbare Not war, ist heute doch zu einem sehr wesentlichen Teil überwunden. Zu behaupten, sie wäre nicW mehr vorhanden, wäre jedoch Heuchelei. An die Stelle der Proletarier, der Hand-und Fabriksarbeiter von einst, die den 1. Mai als stolzen Gedenktag ihrer Errungenschaften feiern, ist ein neues Proletariat getreten. Die Väter der kinderreichen Familien, die Menschen, die in Elendswohnungen hausen, die Flüchtlinge, die Alleinstehenden, die als Untermieter ausgebeutet werden, die Alten und Einsamen, um die sich niemand kümmert, die armen Kranken.

Auch die grofje Masse der nicht qualifizierten Arbeifer hat heute gewih noch keinen Lebensstandard erreicht, der der allgemeinen wirtschaftlichen Prosperität entsprechen würde.

In einem Hirtenbrief, der am 1. Mai in den Kirchen verlesen wird, wird darauf hingewiesen, dafj gerade im zehnten Jahr der Zweiten Republik die Katholiken aufgefordert sind, sich in einer grohen sozialen Aktion dieser Notleidenden anzunehmen. Träger dieser Aktion sollen alle Katholiken sein, alle kirchlichen Institutionen und katholischen Verbände: Katholische Aktion, Caritas, SOS und alle katholischen Vereinigungen, wie sie in der Arbeitsgemeinschaft der kalholischen Verbände zusammengeschlossen sind. Diese Aktion hat sich den Namen „Die soziale Tat“ gegeben. Noch immer ist das Wohnungselend eines der brennendsten Probleme in unserem Land. Täglich erhält die Caritas Briefe, die ein erschütterndes Wohnungselend zeigen.

Alles, was bisher in dieser Hinsicht von privater Seife unternommen wurde, so be-grüfjenswert es auch immer ist, war doch in erster Linie für jene gedacht, die über ein gewisses Kapital verfügen, um die für eine Eigentums- oder Genossenschaffswohnung erforderlichen Mittel aufzubringen.

Es ist klar, dafj es hunderte Bedürftige gibt, die nicht über tausende und zehn-fausende Schilling verfügen, die für die Beschaffung einer Wohnung notwendig sind, die auch nicht ein entsprechendes Einkommen haben, um neben einem hohen Zins noch eine Rückzahlungsquote von einigen hundert Schilling leisten zu können. Für diese kamen z. B. in Wien nur Gemeindewohnungen in Frage. „Die soziale Tat“ will zusätzlich eine Reihe von Wohnungsprojekfen in Angriff nehmen, für die sie die erforderlichen Eigenmittel als Schenkung zur Verfügung stellt.

Das konkrete Ziel, das sich „Die soziale Tat“ für das kommende Jahr gestellt hat, ist die Errichtung von 380 Wohnungen. Es wird von der Opferfreudigkeit des katholischen Volkes abhängen, wie weit die bestehenden Projekte verwirklicht werden können. Der 1. Mai 1956 wird dann zeigen, wie weit es den Katholiken gelungen ist, dieses Programm zu erfüllen.

Um die für diesen Wohnungsbau notwendigen Mittel hereinzubekommen, isf an eine Reihe von einzelnen Aktionen gedacht: eine Postwurfsendung an die Wiener Haushalte und verschiedene Veranstaltungen der einzelnen katholischen Organisationen und Verbände.

Die Dankbarkeit für das in den letzten zehn Jahren Erreichte, die Hoffnung auf die Verwirklichung unserer Freiheit, dürfen uns nichf verführen, die unmittelbar dringenden Aufgaben, die vor uns liegen, nichf zu sehen. Gerade weil die Not übersehbar qeworden ist, wäre es eine Todsünde, sie zu übersehen. Die Proletarier von gestern müssen mit der Kirche versöhnt, die Proletarier von heute aus ihrem Elend befreit werden.

Zahlungen sind zu richten an „Die soziale Tat“, Wien IX, Währinqer Gürtel 1, Telephon A 11 5 84, Posfsparkassenkonto: Caritas der Erzdiözese Wien 173.253 und SOS-Gemeinschaff Wien 94.206.

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