6693920-1962_50_04.jpg
Digital In Arbeit

Theorien und Realitaten

Werbung
Werbung
Werbung

Heute ist es leider eine internationale Erscheinung, daß Thesen und Theorien, die von verschiedenen Zentralen der Agitation und Propaganda ohne Unterlaß und mit größter Lautstärke verbreitet werden, durchaus nicht immer dem realen Sachverhalt entsprechen. So rechtfertigt etwa das bescheidene Volumen des österreichi-ichen Handels mit dem Ostblock — 12,5 Prozent des Gesamtvolumens — gegenwärtig in keiner Weise irgendwelche Kritiken oder gar anderweitige Bedenken. Die Sowjetunion und ihre Satelliten unterliegen außerdem Tendenzen, deren Wirkungen sich oft gegenseitig paralysieren. Gerade die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die von Jänner bis August des laufenden Jahres 59,6 Prozent aller Importe und 51,4 Prozent aller Exporte Österreichs in Anspruch genommen hatte, wurde durch den Umfang des Osthandels überhaupt nicht berührt. Brüssel beruft sich mit Recht auf den gewaltigen Umfang seines Warenverkehrs, besonders auf das rasche Ansteigen seines internen Güteraustausches. Dagegen entfaltet sich der österreichische Handel mit dem Ostblock ungemein langsam, ständig unterbrochen von Rückschlägen und Enttäuschungen. Schon die bilateralen Verrechnungsabkommen wirken als automatische Bremsen, die jede einseitige und daher voreilige Expansion verhindern. Zuletzt ist infolge der Agrarkrise Osteuropas nicht damit zu rechnen, daß der Osten neben Kohle, Erzen und Erdölprodukten in absehbarer Zeit andere Äquivalente in einem größeren Umfang zur Verfügung stellen kann. Die besten Aussichten bieten noch Polen und Rumänien, aber bei den kommunistischen Volksdemokratien bleibt alles relativ, ungewiß und an äußerst kurze Fristen gebunden. Jedenfalls darf sich Österreich niemals auf Experimente einlassen.

Der höchst bürokratisch organisierte Güteraustausch mit den sieben Ländern des Ostblocks ist ungemein primitiv, soweit er die Warengruppen und die einzelnen Produkte betrifft. Da die Sowjetunion und ihre Satelliten einer Zwangswirtschaft und einem Außenhandelsmonopol unterworfen sind, gibt es keinen freien und normalen Warenverkehr, sondern nur einen Tauschhandel. Die jeweiligen Kontingente umfassen eine äußerst beschränkte Zahl von Positionen, deren Werte zwar regelmäßig auf dem Papier erhöht, aber in der Praxis sehr selten eingehalten werden. Der Ostblock bezieht nämlich ausschließlich Waren, die er für seine Industrien und Investitionen unbedingt benötigt, liefert dagegen selbst nur Güter nach Maßgabe seiner schwankenden Leistungsfähigkeit. Alle Beteiligten operieren daher mit einigen Hauptprodukten, ein Verfahren, das schließlich in einem „Punktesystem“ mündet. So importierte Österreich aus Polen Steinkohle und Eier, aus Ungarn Erdölprodukte und Pflanzenöl, aus Rußland Steinkohle und Koks, Rohöl, Eisenerze und Baumwolle, aus der Tschechoslowakei Steinkohle und Koks, Maschinen und Erdölprodukte, aus Ostdeutschland Schwefel, Braunkohlenbriketts und natürlichen Dünger, die auf der ganzer Linie mit Eisen und Stahl, Maschiner und elektrischen Apparaten bezahl) wurden. Daneben exportierte Öster reich nach Ungarn noch Papier, nach Rußland außerdem Lacke, Furniere und Schuhwaren. Die Tendenzen des laufenden Jahres registrierten steigende Importe von Erdölprodukten, während Rußland infolge der Agrarkrise seine Lieferungen von Pflanzenöl (— 29,3 Prozent), von Gerste und Roggen (— 31,8 Prozent) sowie von Mais (— 57,3 Prozent) herabsetzen mußte. Zuletzt beklagte der Export empfindliche Rückschläge nach Polen bei Maschinen, nach Ungarn bei Papier, nach Ostdeutschland bei elektrischen Apparaten (— 50 Prozent), Eisen, Stahl und Walzmaterial (— 62,3 Prozent). Es ist eigentlich überflüssig, aber trotzdem notwenig, zu unterstreichen, daß im Osthandel heute nach jeder Richtung natürlich ganz andere Verhältnisse herrschen als unter der Ersten Republik.

Da jeder Staat die Hypothek seiner geographischen Lage trägt, obliegt Österreich — nach der Zweiteilung Europas durch den Eisernen Vorhang ein weit nach Osten vorgeschobenes Territorium — die unabdingbare Pflicht,, seinen Außenhandel im Sinne der eigenen Notwendigkeiten und nach Maßgabe der bestehenden Möglichkeiten zu gestalten. Selbstverständlich kann die Republik weder an einem Wirtschaftskrieg gegen den Ostblock teilnehmen noch dauernd hohe Kredite an den Osten gewähren. Im Hinblick auf Rußland besteht der Staatsvertrag. Polen gilt seit jeher als Sonderfall. Endlich gehören die Donauländer selbst in Perioden der Krisen i und Enttäuschungen zum angestamm- ten ökonomischen Wirkungskreis, ein Standpunkt, dessen mannigfache Folgen und Begleiterscheinungen man kurz unter dem Begriff einer „Sonderstellung“ zusammenfaßt, die sogar von j der Europäischen Wirtschaftsgemein- ' schaff anerkannt wird. Die Erfahrungen, die alle Sachverständigen seit dem Jahre 1945 in Osteuropa sammeln konnten, bieten eine Gewähr, daß hierzulande niemand Illusionen hegt, die im wechselvollen Auf und Ab von Optimismus und Pessimismus den Westen noch immer verwirren.

In einer objektiven Betrachtung bleibt der Osthandel mit seinen unbekannten und unsicheren Faktoren eben ein mühsames und langwieriges Unternehmen, das äußerste Vorsicht und ständige Aufmerksamkeit verlangt, doch nicht aussichtslos erscheint, weil sich die Exporte nach Übersee, West-und Osteuropa auf durchaus verschiedene Warengruppen stützen. Es wäre eine dankbare Aufgabe, einmal die Streuung der wichtigsten Exportgüter nach den einzelnen Staatengruppen zu vergleichen, vermutlich mit dem Ergebnis, daß nach allen drei Richtungen große Chancen bestehen, die allerdings eine rationelle Koordination der jeweiligen Exportindustrien benötigen. Der beste Beweis, daß das Wirschaftsieben zahlreiche Möglichkeiten bietet, ist die Vitalität der Bundeshauptstadt. Heute ist Wien auf das engste mit den Alpenländern und dem Handel mit dem Westen verbunden, dagegen die einstige Abhängigkeit von den anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Donaumonarchie nur noch ein Alpdruck der Vergangenheit.

Nachdem im Wahlkampf die Politiker aller Parteien reichlich widerspruchsvolle Reden gehalten haben, ist es unerläßlich, daß während der neuen Legislaturperiode die schwebenden Probleme des Osthandels und der europäischen Integration mit der notwendigen Sachlichkeit und im Bewußtsein einer großen Verantwortung gelöst werden. Es handelt sich neben der schwankenden Terminologie auch um oft eigenwillige Anschauungen, die in Brüssel die durchaus falsche Vorstellung erwecken, als ob Österreich — „getragen von nationaler Begeisterung — aus der gemeinsamen rront der Neutralen ausbrechen und einen Alleingang wagen möchte. Selbstverständlich besteht das Recht zur freien Meinungsäußerung. Nichts wäre verfehlter als eine unliebsame und unglückliche „Sprachregelung alten Stiles“. Um die ernste Gefahr von Mißverständnissen zu bannen, müssen sich jedoch die Volkspartei und die Sozialistische Partei auf eine gemeinsame Handelspolitik einigen, die keine Zweideutigkeiten und keine willkür-

lichen Interpretationen zuläßt, die im Inland eine peinliche Verwirrung stiften und im Ausland nur einen schlechten Eindruck hinterlassen. Eine klare Festlegung des handelspolitischen Kurses erscheint um so notwendiger, als die Sicherung, Verteidigung und Erweiterung des Exportvolumens nach wi vor eine Grundlage des künftigen wirtschaftlichen Fortschritts bleibt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung