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Das Land am Himalaya spielt als Brennpunkt der Atlantistradition eine wichtige Rolle in der Vorgeschichte der Nazi-Ideologie.

Wenn es darum geht, Argumente gegen "den Buddhismus" und die hohe Wertschätzung für den Dalai Lama im Westen zu sammeln, dann wird oft darauf hingewiesen, dass es "Verbindungen" zwischen dem (tibetischen) Buddhismus und dem Nationalsozialismus gegeben hätte. Die Thematik wurde Ende 2006 wieder durch das Buch Zwischen Hitler und Himalaya des Salzburger Journalisten Gerhard Lehner in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Dieser beschäftigte sich im Speziellen mit der Rolle Heinrich Harrers als Lehrer des jungen Dalai Lama. Dabei spielen auch dessen Beziehungen zum Nationalsozialismus eine Rolle in der Argumentation.

Es mag auf den ersten Blick verwunderlich anmuten, wenn beispielsweise Heinrich Himmler in einem Atemzug mit dem Dalai Lama und dem tibetischen Buddhismus genannt wird. Doch halluzinierte der SS-Führer in der Tat eine Zeit lang über eine "okkulte Achse Berlin-Lhasa" und sein einflussreicher Berater Karl Maria Willgut behauptete, mentale Kontakte zu tibetischen Lamaklöstern zu haben. Den Höhepunkt fand diese seltsam anmutende Beziehung schließlich in den so genannten "Tibet-Exkursionen" der Sonderforschungseinheit "SS-Ahnenerbe": 1938 suchte der Zoologe Ernst Schäfer nach Beweisen für Theorien, die man heute als abstrus bezeichnen würde, die aber nichtsdestotrotz für die nationalsozialistische Forschung große Relevanz hatten. Es ging um nichts weniger als den Nachweis, dass in Tibet Vertreter der nordischen Herrenrasse anzutreffen seien. Deshalb vermaß der Anthropologe (und SS-Obersturmführer) Bruno Berger die Schädel von über 200 Tibetern und forschte in den Gesichtern der Himalaja-Bewohner nach "arischen Zügen".

Großes Interesse der Nazis

Im Zuge dieser Diskussion stellt sich über die reine Faktenlage hinaus die Frage, wie Tibet überhaupt eine so große Bedeutung für den Nationalsozialismus erlangen konnte. Worauf ist das überdurchschnittlich große Interesse an diesem Land zurückzuführen? Die Antwort auf diese Frage kann man nur im Zuge eines tieferen Blicks in die ideologische Vorgeschichte des Nationalsozialismus und die "Vorbereitung" gewisser Themen in bestimmten religiösen und weltanschaulichen Strömungen des 19. Jahrhunderts. bekommen. Der aufkommende Nationalsozialismus war bemüht, seine Ansichten und Ziele nicht nur als politische und wirtschaftliche Notwendigkeiten zu präsentieren, sondern auch weltanschaulich zu untermauern. Ein wichtiger Teil dieser Begründungsstrategien war eine ausgeprägte Rassenlehre, die damals im wissenschaftlichen Kontext durchaus ernsthaft diskutiert wurde. Die Vertreter des Nationalsozialismus sahen das deutsche Volk bekanntermaßen als Vertreter einer "arischen" Rasse. Die Geschichte dieser überlegenen Rasse ist Gegenstand ausgeprägter Forschung gewesen, die sich durch eine verbrämte religiös-mythische Grundlage legitimierte. Als wichtige Überlegung stand dabei im Raum, dass die arische Rasse einen gemeinsamen Ursprung in einem konkret zu lokalisierenden Gebiet gehabt und von dort über die ganze Welt Verbreitung gefunden hätte. Wichtiger Impuls für die Herausbildung dieser Theorie war im übrigen der Atlantis-Mythos, der im 19. Jahrhundert eine Renaissance erlebte.

Atlantis

Bekanntermaßen schuf der griechische Philosoph Platon die Grundlage für die Geschichte vom einstmals blühenden Kontinent, der in einer Naturkatastrophe unterging. Nach Jahrhunderten großen Desinteresses erfuhr dieser Mythos im 19. Jahrhundert eine weitreichende Neuinterpretation. Dabei stand die Idee im Vordergrund, dass sich auf Atlantis eine Art "Urkultur" der Menschheit befunden hätte. Zentral war hier die Veröffentlichung des Juristen und US-Kongressabgeordneten Ignatius Donnelly (1831-1901). In seinem Buch Atlantis, the Antediluvian World (Atlantis, die vorsintflutliche Welt, erschienen 1911) spielte die These eine große Rolle, dass es unmittelbar vor dem Untergang von Atlantis einigen Einwohnern gelang, sich auf andere Kontinente zu retten. Dies wird im Buch bewiesen mit dem Hinweis auf die vielen "Parallelen" zwischen weit auseinander liegenden Kulturen (z.B. "Pyramiden" in Ägypten aber auch in Altamerika; sprachliche Beweise usw.), die nur mit der gemeinsamen Herkunft aus einem Ursprung erklärbar seien. Diese Veröffentlichung legte den Grundstein für nachfolgende Spekulationen um einen gemeinsamen Ursprung der Rassen in einem mythisch verbrämten Ort. Die Nationalsozialisten nahmen diese Theoriebildung begeistert auf. Dies lässt sich am deutlichsten am Werk des ersten Leiters der Sonderforschungsarbeit SS-Ahnenerbe, des holländischen Wahldeutschen Herman Wirth (1885-1981), ablesen. Sein voluminöses Buch Der Aufgang der Menschheit stellt sich auf den ersten Blick als groß angelegter, nach wissenschaftlichen Kriterien verfasster Versuch dar, Rassenlehre mit den Disziplinen der Altertumskunde, der Schrift- und Sprachkunde und der Archäologie zu begründen. Tibet spielt in diesem Werk als Dreh- und Angelpunkt der ostasiatischen Geschichte eine maßgebliche Rolle.

Das Land "Tibet" erlangte so im Rahmen dieser Argumentationsfiguren stufenweise einen zentralen Platz. Dies hängt auch damit zusammen, dass der zentralasiatische Raum erst gegen Ende des 19. Jahrhundert in den Blickpunkt des europäischen Bewusstseins trat. Dabei spielten die abenteuerlichen Expeditionen des Schweden Sven Hedin eine große Rolle. Seine Beschreibungen des Gebietes, der Einwohner und der Religion hatten maßgeblichen Anteil an der Herausbildung eines Mythos Tibet. Die hohe Bedeutung Tibets muss zudem auch vor dem Hintergrund einer bedeutenden religiösen Strömung gesehen werden, die im 19. Jahrhundert ihren Ursprung hat: der Theosophie.

Theosophie

Diese von der Russin Helena P. Blavatsky (1831-91) begründete weltanschaulich-philosophische Strömung prägte das geistige Leben des späten 19. Jahrhundert in einem sehr großen Ausmaß. Mit Tibet steht Blavatsky dabei in besonderer Verbindung. So behauptet sie, die wichtigsten Ideen ihrer späteren Werke von tibetischen "Meistern", den von ihr so genannten "Mahatmas", aus dem Himalaya erhalten zu haben. Diese würden Teil einer geheimen Bruderschaft sein, die sich in einer nicht zugänglichen Region Tibets angesiedelt hätte und in riesigen unterirdischen Höhlenarchiven Zugang zur Überlieferung der (untergegangenen) Atlantiskultur hätte. Tibet erlangte dadurch den Status des Erbes einer bedeutenden Urkultur, in der uralte Menschengeheimnisse gewahrt werden. Die große Entfernung und die - für damalige Verhältnisse - faktische Unerreichbarkeit erhöhten das Image dieses Landes und seiner Einwohner. Bezeichnend ist hier die Geschichte des Begriffs "Shangri-La", der 1933 im Roman Lost Horizon (Der verlorene Horizont) des Schriftstellers James Hilton geprägt wurde. Er bezeichnet einen mythischen Ort völliger Abgeschiedenheit, in dem sich eine Art Idealgemeinschaft zusammengefunden hat. Es ist eine klassische Utopie, die aber bis heute viele Menschen zur realen Suche animierte.

Der Nationalsozialismus speiste seine weltanschaulichen Theoriebildungen somit aus dem Bestand damalig präsenter religiöser und philosophischer Ideengebäude. Dass diese krausen Theorien bis heute auch in ihrer nationalsozialistischen Prägung präsent sind, bezeugt ein Blick in Literatur, die man oft unter dem Namen "esoterischer Nazismus" oder "esoterischer Hitlerismus" versammelt. Darunter versteht man zusammenfassend die Erzeugnisse von Autoren, die ein esoterisch-religiös fundiertes Ideengut propagieren, worin von (heute noch aktiven) geheimen NS-Basen (am Nordpol), von Hitler als mystisch-okkultem Übermenschen, der in uralte Geheimbruderschaften eingeweiht gewesen sei, von Nazi-Ufos usw. die Rede ist. Dabei spielen natürlich Bezüge auf das Material, das zur Zeit des Nationalsozialismus wissenschaftlichen Anspruch hatte, eine große Rolle. Ein gutes Beispiel dafür bildet das Werk des Wieners Wilhelm Landig (1909-1997), der mit seinen drei Thule-Büchern immer wieder aufgelegte Klassiker dieses Genres schuf.

Neonazi-Szene

Seinem Werk ist auch das wiederaufgelebte Interesse an diesen Theoriebildungen innerhalb der Neonazi-Szene seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts geschuldet. In seinem 1971 erschienen Roman Götzen gegen Thule schildert er beispielsweise die Abenteuer einer kleinen Gruppe von SS-Männern und Luftwaffenoffizieren unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie werden stufenweise in das Geheimnis um die letzte Rückzugsbastion des Deutschen Reiches nahe dem Nordpol, die gleichzeitig das Zentrum einer weltumspannenden Revolution ist, eingeführt. Der Weg dorthin gestaltet sich als veritable Odyssee über vier Kontinente, die zu Begegnungen mit allen möglichen "Eingeweihten" in das Geheimnis führt. Tibet spielt dabei eine große Rolle. An zentralen Punkten des Romans treten immer wieder "Lamas" auf, oft als geheimnisvolle vorbeihuschende Schatten mit kurzen Hinweisen, die von deren tiefgründigem Wissen zeugen.

Tibet erscheint somit in der vorgestellten Literatur als idealer Imaginationspunkt, weil sich die Möglichkeit ergab, in dieses unbekannte und als "geheimnisvoll" deklarierte Land Vorstellungen hineinzutragen, die sich wiederum zur Stützung von Theoriegebäuden eignen. Damit sind diese Entwürfe vor allem eines: tief von den weltanschaulichen Wünschen derer getragen, die sie entwarfen. Mit der Realität haben sie freilich nichts zu tun.

Der Autor ist Religionswissenschafter und Klassischer Philologe in Wien.

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