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Titow und die anderen

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Moskau stand im Frühling 1961 im Zeichen Jurij Gagarins. Dann wurden Schulreformen angekündigt, welche in ihrem Ausmaß die Fachwelt aufhorchen ließen, kurz darauf wurde die sowjetische Öffentlichkeit auf ein kommendes neues Parteiprogramm vorbereitet, dessen Entwurf am 30. Juli 1961 veröffentlicht wurde. Ein paar Tage später vernahm auch der in abgelegenen Gebieten lebende Sowjetbürger aus der Zeitung die Kunde, daß seit 6. August 1961, 9 Uhr Moskauer Zeit, „Wostok II“ den Erdball umkreise. Und daß es dem Major Titow, der das Raumschiff lenkt, gut gehe. Der ganzen Welt wurde diesmal Gelegenheit ge geben, das Raumschiff in seinem Flug zu verfolgen und die Meldungen des russischen Offiziers zu hören. Wir haben zwar genug irdische Sorgen, aber es steht doch dafür, ernstlich über den Himmelsflug des Majors Titow nachzudenken, denn er ist unbestreitbar eine Tat, die in die Annalen der Geschichte der Menschheit eingehen wird.

Gagarin war kein Propagandatrick

Die größte Bedeutung dieser zweiten Erdumkreisung liegt wohl darin, daß der Major Titow den Flug des Majors Gagarin vor aller Welt akustisch und visuell eindeutig bestätigt hat. Ohne Gagarin ist Titow nicht gut denkbar. Denn genau so wie siebzehn ohne die Zahl eins nicht faßbar ist, so sind 17 Erdumkreisungen ohne die vorhergehende eine psychologisch nicht vorstellbar und technisch wahrscheinlich auch nicht durchführbar. Somit hat Titow Gagarin nicht in den Schatten gestellt, sondern durch seine Leistung Gagarins Erstlingsflug vollauf bestätigt. Darin liegt wohl Titows größte Bedeutung. Jetzt weiß die Welt: die alten Grenzen sind gesprengt. Das ist eine Tatsache. Was man nun weiter machen wird, wird die nächste Zukunft zeigen.

In gewissen Kreisen äußerte man sich mehr oder weniger stark zwei felnd, daß man im Grunde genommen eigentlich gar nicht sicher sei, ob die ganze Sache mit Gagarin stimme. Man wollte sozusagen nicht glauben, daß es den Russen tatsächlich gelungen war, einen uralten Wunschtraum der Menschheit in die Tat umzusetzen. Übrigens, dieses Zweifeln an unbehaglichen Tatsachen ist ein der Menschheit seit jeher anhaftender Charakterzug. Mein Gott, man zweifelte auch einmal an der Existenz Hitlers. Im Jahre 1938 konnte man in Böhmen hören, daß Hitler schon lange tot sei und an seiner Stelle eine Puppe gezeigt werde, man erzählte sich auch seinerzeit, daß sich Stalin durch ein Double vertreten lasse, den polnischen Kavalleristen wurde vorgemacht, die deutschen Panzer seien aus Pappe usw. usw. Es scheint mir, wir stehen vor viel zu wichtigen Dingen, als daß wir uns von solchen lächerlichen Wunschträumen von den Realitäten des Lebens ablenken lassen. Es besteht nämlich bei manchen Leuten eine merkwürdige Meinung über die Russen, welche ihnen jede positive Leistung im vorhinein abspricht, durch Äußerungen von der Art: „Wie ist es möglich, daß diese dummen Muschiks und Iwans so etwas fertigbringen? "Es kann nicht sein . Und wenn, dann ist das ein Zufall, oder es spielen fremde Elemente mit…“

Um hier auf einen grünen Zweig zu kommen, muß vorausgesetzt werden, daß sowohl Gagarin wie Titow sicher Russen sind, sicher sehr tapfere Männer, welche das Glück und die Gelegenheit hatten, durch ihren persönlichen Mut zu einem Idol emporzusteigen. Gagarin hat nun schon öfters die Möglichkeit wahrgenommen, der Menschheit auch seine natürliche Art zu demonstrieren. Ohne die Größe seiner Tat schmälern zu wollen, kann man jedoch mit Sicherheit sagen, daß man in dem Heer der an dem Riesenprojekt der Raumfahrt Mitarbeitenden viele junge Leute findet, welche bereit sind, ihr Leben für eine solche Tat aufs Spiel zu setzen. Es geht also nicht um Gagarin und Titow, es geht um die anderen. Es geht um die Wissenschaftler und Konstrukteure, die diese Tat ermöglichten, es geht um die Auftraggeber, welche genug Phantasie und Macht hatten, den Auftrag zu erteilen, es geht um die Gesellschaft, in der diese Leute leben …

Intelligenz im Hintergrund

Es sickern wohl mit der Zeit einige Namen durch, besonders bei den Verleihungen von Leninpreisen für Bestleistungen. Aber da die Lenin- preise auch an Literaten, Musiker, Schauspieler, Hirten und Kolchosvorsitzende verliehen werden, erwecken die Ausgezeichneten keine außergewöhnliche Popularität. Das sind eigentlich die wahren Großen, bei denen sich die Phantasie mit dem Wissen zu einer einmaligen Leistung gepaart hat. Wer sind diese Leute? Einige Namen sind uns bekannt wie etwa: K. Ziolkowsky, P. Kapitza, Grigorij Gamow, Andrej Niko- laevitsch Tupolew, die meisten aber bleiben anonym im Hintergrund. Man muß jetzt eine entscheidende Korrektur zur allgemeinen im Westen vorherrschenden Meinung über die Russen machen. Es gibt nämlich auch in der Sowjetunion eine Schiebt der russischen Intelligenz, welche schon längst ihr Katakombendasein aufgegeben und sich in das aktive Leben eingeschaltet hat. Im großen und ganzen ist die ältere Generation heute froh, daß sie zwei Kriege und mehrere Terrorwellen, eventuell mehrere Jahre Zwangslager überstanden hat und nun ihrem Beruf nachgehen kann und schöpferisch arbeiten darf. Das sind keine Einzelerscheinungen. Es gibt deren viele. Noch viel größer ist die tüchtige Schicht der mittleren Generation. Gesunde Bauern- und Arbeitersöhne. Sie haben herrliche Zähne, sicheres Auftreten und enormes Fachwissen. Oft sind sie Kinder ohne Eltern, Kinder der großen Armee der Verwahrlosten, welche in der Zeit der ersten Jahre der Sowjetmacht das Land unsicher machten. Das einzige, was sie ins Leben mitbekamen, war ihre Begabung. Sie sind fleißig und hart. Sie lesen nicht Dostojevskij, er interessiert sie nicht, sie lesen lieber Niko- laz Ostrovskij. Dort erfahren sie. was Pflicht und Kampf bedeutet, dort lesen sie ihre eigene Jugend. Grob gesprochen — sie sind weder den primitiven Iwans noch den alten russischen Intelligenzlern westlicher Prägung ähnlich. Erst wenn man mit diesen Leuten in ein persönliches Gespräch kommt, kann sich so manches klären. Dort wie hier.

Gefährlicher Selbstbetrug

Wir dürfen nicht vergessen: Moskau hat heute 87 (siebenundachtzig) Hochschulen. Man nimmt im Westen fälschlich an, daß diese Institute unseren Gewerbeschulen entsprechen. Es ist dies einer der Irrtümer, mit denen wir uns selbst betrügen! Diese

Hochschulen sind keine Kulissen der Wissenschaft. Dem durch Moskau wandernden Ausländer erscheint es unbegreiflich, wie eine solche Konzentration überdimensionaler wissenschaftlicher Institute jemals Wirklichkeit werden konnte. Das dort beschäftigte Personal bildet eine eigene soziale Schichte. Mag sein, daß ihre „Väterchen“ und „Mütterchen" noch Muschiks und Iwans waren, diese Menschen sind aber keine Iwans mehr, sondern lebendige Glieder eines großen Gemeinwesens, Lehrer und Wissenschaftler, welche Gagarin und Titow erst möglich gemacht haben.

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