7132214-1997_31_01.jpg
Digital In Arbeit

Toleranz und Wachsamkeit

19451960198020002020

Sekten gehören zur religiösen Realität der Gegenwart. Der Staat ist herausgefordert. Die etablierten Kirchen nicht minder.

19451960198020002020

Sekten gehören zur religiösen Realität der Gegenwart. Der Staat ist herausgefordert. Die etablierten Kirchen nicht minder.

Werbung
Werbung
Werbung

Landauf, landab kennt man sie als diejenigen, die an neuralgischen Punkten stehen und meist wortlos Ausgaben ihrer Zeitschrift „Erwachet!” vor sich herhalten. Oder als lächelnde Paare, die an der Haustür läuten und mit großem Elan eigenwillige Bibel- und Weltinterpretation zu verbreiten suchen. In Medien tauchen die Zeugen Jehovas vor allem dann auf, wenn sie Bluttransfusionen verweigern und Ärzte in Gewissenskonflikte treiben.

Weniger im Bewußtsein verankert ist die Tatsache, daß sie auch im Dritten Beich an ihrer Uberzeugung festhielten und den Wehrdienst verweigerten: wie etwa der Kärntner Holzarbeiter und Zeuge Jehovas Anton Uran, der 1943 wegen „Zersetzung der Wehrkraft” hingerichtet wurde; seit 17. Juni 1997 ist das Urteil rechtskräftig aufgehoben - der erste (!) Fall, bei dem ein österreichisches Gericht ein NS-Todesurteil aufhob.

Die Zeugen Jehovas sind zur Zeit wieder öffentliches 1 'hema: Ihnen wurde - nach jahrelangem Rechtsstreit - der Status einer anerkannten Religionsgemeinschaft verwehrt.

Schlagzeilenträchtig erwies sich in den letzten Tagen mit Scientology auch eine andere umstrittene Gruppierung. Was OVP-Sicherheitssprecher Paul Kiss dazu verlauten ließ, unter anderem im „Kurier”: „Ich habe große Probleme mit undifferenzierten Vorwürfen (zu Seien-tology, Anm.)”, löste einen Sturm ebenso wenig differenzierter Entrüstung aus.

Scientology seinerseits ist seit einiger Zeit mit einer Gegenoffensive unterwegs und bedient sich dabei ungeniert des Dritten Reichs: Anfang Jänner 1997 unterschrieben 34 Größen des amerikanischen Showbusiness - von Dustin Hoffman bis zu Oliver

Stone - in der „Herald Tribüne” ein ganzseitiges Inserat, das Sätze wie: „In den 30er Jahren waren es die Juden. Heute sind es die Scientologen” enthielt. Auch in der jüngsten Ausgabe des scientologischen Infoblattes „Freedom” ist davon die Bede, daß Scientology in Deutschland mit einem „elektronischen Davidstern” versehen werde.

Allein obige Schlaglichter aus der letzten Zeit zeigen, wie vielschichtig sich die Sektenproblematik darstellt, wobei die immer wieder ins Treffen geführte Gefährlichkeit einzelner Organisationen die Unübersichtlichkeit nur noch größer erscheinen läßt. Auch eine Begriffsklärung ist schwierig. Sicher scheint nur, daß es unmöglich ist, einfache Muster anzuwenden; ein Gleichsetzen etwa der „Sekte” Zeugen Jehovas mit der „Sekte” Scientology kann kaum redlich genannt werden.

Der Blick in ganz andere Zusammenhänge zeigt, daß die Sektendiskussion nicht nur hierzulande im Schwange ist: So war das Stichwort „Sekten” während der Ökumenischen Versammlung in Graz ausgesprochen und unausgesprochen präsent. Vor allem die Aktivität religiöser Gruppierungen unterschiedlicher Provenienz in der ehemaligen Sowjetunion ließ die Zornesadern auf orthodoxen Stirnen ordentlich anschwellen. Gemeint waren nicht nur Scientology & Co: Kleinere protestantische Kirchen wie die Methodisten gehören in dieser Sichtweise ganz selbstverständlich zur Sektenszene. Walter Klaiber, deutscher Methodistenbischof, beklagte erstkürzlich in einem Interview für den „Bheinischen Merkur”, daß sogar in deutschen Medien seine Kirche unter „Sekten” subsumiert werde.

Dort wo die katholische Kirche klein und aufstrebend ist, gerät selbst sie in Verdacht. Auch dies war in Graz zu spüren: Wenn Russisch-Orthodoxe sich über die Sekten ärgerten, waren die Katholiken oft mitgemeint. Das kürzlich von Präsident Jelzin nicht unterzeichnete Religionsgesetz Rußlands ist jedenfalls gerade vor dem Hintergrund der Sektenproblematik zu verstehen.

Für die heimische Diskussion folgt daraus einerseits die Forderung nach größtmöglicher Differenzierung; jede Gruppe muß für sich bewertet werden - und nicht aufgrund der Punzierung als „Sekte” an sich. Mitunter sollte die Differenzierung sogar innerhalb einzelner Institutionen geschehen. (Was würde man sagen, wenn die katholische Kirche nur aufgrund einer bestimmten Gruppierung in ihr beurteilt würde?)

Andererseits sind die Verhältnisse im Osten Europas bloß ein krasseres Beispiel der allgemeinen Verhältnisse: Etablierte Institutionen sind Konkurrenz ausgesetzt und müssen sich bewähren. Nur auf die Geschichte zu pochen, reicht nicht aus: Wer etwa von der russischen Orthodoxie verlangt, sie müsse auch andere religiöse Realitäten akzeptieren, darf nicht im eigenen Bereich ähnliche Verhaltensmuster zeigen.

Schon allein aus diesen Gründen ist zu begrüßen, daß sich in Österreich ein neues „Religionsgesetz” anbahnt. Das alte Regelwerk von 1874 ist zu „altmodisch” geworden, vielleicht auch - wie Juristen äußern - zu sehr auf die Situation einer großen (katholischen) Kirche neben marginalen anderen Gemeinschaften zugeschnitten. Nun soll es neben den anerkannten Religionen einen „Zwischenstatus” geben. Dieser Status einer „staatlich angezeigten religiösen Bekenntnisgemeinschaft mit Bechts-persönlichkeit”, wie er im Entwurf enthalten ist, sollte den Staat vom Verdacht reinigen, er bevorzuge ihm genehme Gruppierungen über Gebühr.

Der religiöse Markt ist wirr und treibt durchaus problematische Blüten. Kritik an Sekten muß daher nicht notwendigerweise ausschließlich im Interesse der etablierten Kirchen stattfinden. Das meint auch die Journalistin El Awadalla, die ein demnächst erscheinendes Buch über Sekten in Österreich verfaßt hat. Auch der säkulare Staat hat legitimes Interesse daran, daß seine Grundlagen gesichert bleiben. Dennoch darf es sich der Staat nicht zu einfach machen. Ob es genügt, wie Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer in der Fernsehsendung „Orientierung” bei der Begründung der Nichtanerkennung der Zeugen Jehovas einen Zettel hervorzuziehen und vorzulesen, man habe in deren Schriften auch den Satz gefunden, daß „politische Systeme einen ... Bestandteil der Welt Satans bilden”? Sind nicht ähnlich „staatsgefährdende” Aussagen in „anerkannten” Schriften wie der Bibel oder dem Koran zu finden?

Gesellschaft und Staat sehen sich zwei Aufgaben gegenüber:

■ der Notwendigkeit, möglichst tolerant den weltanschaulichen Institutionen gegenüber zu sein;

■ der Verpflichtung, Gefährdungen des Bechtsstaates und der Menschenrechte durch religiös verbrämten Mißbrauch hintanzuhalten.

Auf diesem Hintergrund ist die „Sektendiskussion” zu führen. Vor allem das letztere Anliegen nimmt den Staat in die Pflicht - wie auch die großen Religionsgemeinschaften. Die Grenzen zur Gefahr für die Gesellschaft verlaufen nicht immer eindeutig - und schon gar nicht ausschließlich zwischen „guten” Kirchen und „bösen” Sekten. Der Kritik, in den eigenen Reihen manch Sonderbares zu dulden, haben sich auch anerkannte Kirchen im eigenen Interesse zu stellen. Differenzierte Auseinandersetzung darf diesen Aspekt nicht aussparen - obwohl zur Zeit in ähnlich gelagerten Diskussionen zwischen katholischer Kirche und Staat in Deutschland wie in Österreich die Kirche alles daran setzt zu verhindern, daß der Staat umstrittene kirchliche Gruppierungen unter die Lupe nimmt.

Die Sektenfrage, die eigentlich eine Auseinandersetzung um das Religiöse im säkularen Staat ist, gehört zu den zentralen Herausforderungen der Zeit, sie ist von ähnlicher Brisanz wie die Debatte um den Ethikunterricht. Etablierte Kirchen können sich ihr ebensowenig verschließen wie die Gesellschaft überhaupt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung