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Tote am Ussuri

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Gerade jetzt, wo sich wichtige Änderungen im Kräftespiel Washington—Moskau—Peking abzeichnen, drängt Peking Sowjeitrußland in die Rolle einer Macht, die den Besitz wesentlicher Teile ihres Staatsgebietes verteidigen muß. Die rotchinesischen Territorialforderungen in Asien, die sowjetische Gebiete im mehrfachen Ausmaß der Boden-fläcihe der Bundesrepublik umfassen, hängen mit früheren Pekinger Anklagen zusammen, daß die Sowjetunion „einen Teil der eingesessenen Bevölkerung aus Ostdeutschland herausgetrieben und widerrechtlich deutsche, rumänische und oolnische Gebiete annektiert“ habe.

Schon vor zweieinhalb Jahnen bezeichnete in einem Interview mit skandinavischen Journalisten ein rotchinesischer Außenminister,

Tschen-yi, die sowjetischen Machthaber als „Diebe“, die „eineinhalb Millionen Qfuadratkilometer gestohlene chinesische Gebiete nicht herausgeben wollen“. Und sogar zu einer Zeit, als die Sprünge in der Achse Moskau—Peking noch wenig deutlich wahrnehmbar waren, sagte Chruschtschow bei einer Rückkehr aus Peking durch riesengroße, äußerst dünn besiedelte Gebiete Sowjetasiens: „Wir müssen diese Gebiete so schnell wie möglich bevölkern. Selbst dann, wenn die Bevölkerung Sowjetrußlands auf dreihundert Millionen stiege, wäre dies noch immer nicht genug.“ Inzwischen hart die Bevölkerungszahl Chinas die Siebenhumdertmillionengrenze überschritten. Die siebentausend Kilometer lange sowjetisch-chinesische Grenze ist inzwischen zu einem „Pulverfaß“ geworden, mit zum Teil gut ausgebauten Grenzüberwachungs-aniagen und Vielen militärischen Stützpunkten. Im Laufe der Jahre hat die Anzahl der zugelassenen Grenzübergänge Immer mehr abgenommen, und es gibt immer schärfer werdende Grenzkontrollen mit stundenlangen Wartezeiten. Die antisowjetische Einstellung indoktri-nierter untergeordneter Organe, die dazu gebracht wurden, den großen kommunistischen Bruder als ver-abscheuungswürdiigen Verräter der rotchinesischen „Welterlösungsmission“ anzusehen, wurde immer deutlicher. Außerdem ist an vielen Stellen die „Grenze“ zwischen' den beiden Machtbereichen nicht eindeutig feststellbar. Auch wird bei der Beurteilung von Grenzkämpfen von vielen westlichen Kommentatoren die Tatsache übersehen, daß im ostasiatischen Bereich manche Flüsse an den Grenzen dazu neigen, dn relativ kurzer Zeit ihren Lauf zu ändern. Außerdem verläuft die für Sowjetrußland strategisch ungemein wichtige Hauptbahnlinie nach Wladiwostok — schon der Name dieser Stadt, „Beherrscherin des Ostens“, verletzt den chinesischen Nationalstolz — zweimal in nicht ailzugroßer Ferne vom Grenzfluß Ussuri, in dessen Bereich sich, die kürzlichen schweren Kämpfe abgespielt haben, bei denen auf beiden Seiten schätzungsweise zweitausend Offiziere und Soldaten zum Einsatz kamen. Beide Mächte beschuldigen die Gegenseite, auch die eigene Zivilbevölkerung für Grenzkämpfe militärisch herangebildet zu haben und auf die Bevölkerung der gegenüberliegenden Seite propagandistisch und „zersetzend“ einzuwirken.

Viele gute Asienkenner halten die chinesische Behauptung, daß fünf Millionen Mann für den Einsatz in den Grenzoirten bereitstehen, für übertrieben, doch dürfte immerhin eine Million Mann einsatzbereit sein. Unter Wohlinformierten überwiegt der Eindruck, daß Peking nicht beabsichtigt, eine groß aufgezogene Auseinandersetzung mit Moskau in Gang zu setzen, obwohl Rotenima weiß, daß die Sowjetunion keinen uneingeschränkten Atomkrieg zur Vernichtung Großchinas riskieren kann, ohne die ganze Erde, einschließlich der Sowjetunion, praktisch unbewohnbar zu machen. Es wird vermutet, daß, falls die blutige Auseinandersetzung am Ussuri wirklich von chinesischer Seite geplant worden wäre — man hält dies für nicht sehr waihrscheinrlch —, dies der Absicht zuzuschreiben sei, im Zusammenhang mit den derzeit vor sich gehenden machtpolitischen Veränderungen im Dreieck Moskau—Peking —Washington die Sowjetunion „abzutasten“.

Ein ähnliches „Abtasten“ ist ja auch in betreff der künftigen Gestaltung der amerifcanisch-o-otehinesischen Beziehungen im Gang. Aus vielen Gründen ist die nach dem Wahlerfolg Nixons geplante amerikanisch-rot-chinesiische Annäherung nicht zustande gekommen, doch Hegt sie noch immer im Bereich der Möglichkeiten. Gewährsmänner berichten über interessante diesbezügliche private Äußerungen maßgebender Rotchinesen und verweisen u. a. auf die Tatsache, daß seit kurzem der rotchinesische Rundfunk nicht mehr eine bedingungslose Rückgabe Formosas als Vorbedingung einer amerikanisch-chinesischen Entspannung bezeichnet, sondern lediglich eine Zurücknahme der amerikanischen Truppen usw. aus dem nationalchinesischen Bereich. Bekanntlich spielt Nationalchina in der Frage einer möglichen Entspannung zwischen Washington und Peking eine große Rolle. Sehr bemerkenswert sind auch die seit kurzem wahrnehmbaren Bemühungen Pekings, Geheimverhandlungen zwischen der Sowjetunion und Formosa glaubhaft zu machen.

In diesem Zusammenhang und auch im Hinblick auf die blutigen Grenzkämpfe am Ussuri erinnert man sich in Peking heute besonders der seiner-zeitigen Haltung Stalins, der sich ganze Jahre hindurch in der Auseinandersetzung zwischen Tschiang-kaischek und Mao Tse-tung auf die Seite Tschiangkaischeks gestellt und zum Teil hinter den Kulissen auf die Schaffung eines Mao-feindlichen Pufferstaates an den Grenzen Nord- und Nordastchinas zum Schutz der Sowjetunion hingearbeitet hatte.

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