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Tragödie einer Elite

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Nichts zeigt so deutlich die Tiefe und Weite der Krise Europas auf, wie die Tatsache, daß ihre Teilphänomene sich heute in allen Ländern gleichzeitig bemerkbar machen. Das Schmutz- und Schundproblem, die Ehekrise, die Landflucht, die Arbeitslosigkeit — das sind Fragen, mit denen sich heute Regierung und Volk im ganzen westlichen Europa zu befassen haben. Eine spezifische Schärfung und Besonderung erfahren diese Erscheinungen in . Deutschland, im westlichen Bundesstaat. 65 bis 70 Millionen drängen sich hier auf engstem Raum zusammen, überfordert vielfach von Nöten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch ist es in vielen Bereichen unmöglich, eine Gesamtbilanz der Aktiven und Passiven zu erstellen; die Grenzen sind unbestimmt, die Demontagen .nicht beendigt, der Zustrom der Ostflüchtlinge wächst infolge der politischen Situation eben wieder an. Um so dringender erhebt sich die Frage für dieses Volk: Was für Guthaben besitze ich noch, welche Kräfte und Mittel kann ich einsetzen, um die Schwierigkeiten der Selbstbehauptung heute zu meistern? Der Blick richtet sich ungezwungen und unwillkürlich auf jene Macht, die Deutschlands Aufstieg und Weltgeltung in den letzten hundert Jahren begründet und getragen hat — die Wissenschaft. Millionen Patente und Milliardenpotentiale technisch-industrieller Ausrüstung manifestierten der Welt ihre Bedeutung, existent, lebendig aber war sie zunächst in den rund 14.000 Professoren und Dozenten, an deren Spitze seit der Stiftung dieses Preises über 40 Nobelpreisträger standen, die in den entscheidungsschweren Jahren von 1932 und 1933 bis 1949/50 an den 93 deutschen Hohen Schulen — Universitäten, technischen Hochschulen und Akademien — gearbeitet haben.

Was ist aus ihnen geworden? Diese Frage wird in eben dem Augenblick dringlich, in dem führende Vertreter der deutschen Wissenschaft sich um Hilfe an die Öffentlichkeit wenden. Der Rektor der Universität Göttingen, der Rektor der Universität Freiburg i. B. erklären, man stehe vor dem Ruin der deutschen Forschung: die Wissenschaft drohe zu verhungern.

Es gibt Professoren und Dozenten, die Lehraufträge mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen von DM 50.— versehen. Das chemische Institut eines Nobelpreisträgers in München befindet sich in unbeschreiblichem Zustand. Ein hygienisches Institut verfügt über ein Zwangzigstel der benötigten Räume. Ein Seminar für. alte Geschichte hat einen Jahresetat von 8 DM. Das alles aber sind noch „äußere“ Erscheinungen. Was aber ist aus den Menschen geworden aus dieser stärksten, geistigen, wissenschaftlichen Kraftquelle, die in der modernen Welt ein Volk besaß, um seine Existenz zu sichern, zu behaupten?

Die deutsche Wochenzeitung „Christ und Welt“ hat in einjähriger Arbeit die Lebens- und Berufsläufe von 10.006 Lehrern an 93 deutschen Hochschulen während der letzten 35 Semester untersucht. Das Ergebnis: „Deutschland hat vor und nach 1945 seine wissenschaftliche Substanz selbst Schicht um Schicht abgebaut und schließlich beinahe vernichtet.“ Von diesen 10.000 Dozenten, wobei. „Dozent“ hier als Sammelbegriff für Hochschullehrer verstanden ist, ließ sich über 1228 nur mehr ermitteln, daß ihre wissenschaftliche Laufbahn plötzlich abbricht, ohne daß sie vor 1945 „entlassen“ oder nach 1945 „entfernt“ wurden. In dieser Gruppe befinden sich Gefallene, Kriegsgefangene, Insassen von Sonder- und Straflagern in Rußland, in Ostdeutschland 1945/46 ums Leben Gekommene, als Rüstungsspezialisten Verschleppte, aber auch Fachleute, zumal ' Ärzte und Techniker, die nicht mehr auf den akademischen Boden zurückkehrten, sondern sich anderwärts eine Existenz aufbauten. Von der Gesamtsumme der 10.000 gilt: nur 1525 Professoren und Dozenten unter 10.006 blieben die ganzen 35 Semester hindurch von politischen Maßnahmen — von „Entlassung“ oder „Entfernung“ — unberührt und haben eine durchgehende akademische Laufbahn von 1933 bis 1950. Dazu kommen 1365 Dozenten, die gestorben oder gefallen sind, ohne politisch justifiziert zu werden. In diese Zahl eingerechnet sind auch die Opfer spezieller Katastrophen, so jene dreizehn Greifswalder Dozenten, die bei der Annäherung der Russen 1945 Selbstmord begingen oder umkamen.

Hier ist noch zu bemerken, daß die Sterblichkeit der „unbeschädigten“ Dozenten gerade in den letzten Jahren erschreckend groß ist: sie sind verbraucht, verhungert, überanstrengt durch die mannigfachen Strapazen dieser schicksalschweren Jahrzehnte. 4492 Dozenten haben vor oder nach 1945 ihre Professur verloren. Diese 4492 Dozenten teilen sich einmal auf in 993 vor 1945 „Entlassene“, die zum Teil, wie der hervorragende Paul Ludwig Landsberg, im KZ umkamen, „über 687 Dozenten dieser unglücklichen Gruppe mußten wir uns im unklaren bleiben — nur von 86 Dozenten konnte festgestellt werden, daß sie mit Sicherheit emigrieren konnten, nur 163 damals entlassene Dozenten haben ihre Professuren wieder erhalten! — Und dann sind da, ohne die aus dem Osten Vertriebenen, 2498 Dozenten, ein Viertel der untersuchten 10.000 Namen, die nach 1945 entfernt wurden.“ Ein beträchtlicher Teil dieser Dozenten wurde zwischen einem und drei Jahren in Lagern festgehalten. Bis Anfang 1950 konnten 1704 Dozenten dieser Gruppe nicht wieder an ihre früheren Lehrstühle zurückkehren. Sie befinden sich seit Jahren vor dem Nichts. Als Forscher fallen sie aus. Weiter sind 67 nicht wieder eingestellte Dozenten dieser Gruppe gestorben oder haben Selbstmord begangen. In diese Gruppe gehören Fälle wie jene der Paläontologen Heller und Beurlen, die als Hilfsarbeiter in einem fränkischen Sägewerk, beziehungsweise als Heizer in einer Ziegelei bei München gearbeitet haben —, und sehr viele Geistes- und Kulturwissenschaftler, die weit schwerer als Naturwissenschaftler und Techniker „Anschluß“ und Eingliederung finden können. — Die letzte große Gruppe umfaßt 1001 ostvertriebene Dozenten. Von diesen haben 760 keine feste neue Position an einer deutschen Hochschule gefunden und sind auf kleine Almosen angewiesen, die ihnen teilweise durch sogenannte Betreungsstellen gegeben werden.

Nach den Wiedereinstellungen Entfernter und Vertriebener ergibt sich Anfang 1950 folgendes Bild des deutschen Dozentenstandes. „Nicht ganz 40 Prozent aller zwischen 1933 und 1950 als Dozenten Beschäftigten sind also Anfang 1950 voll in ihrem Beruf tätig (3915 Personen), über 60 Prozent aller erfaßten Dozenten (6091) sind durch Tod, Emigration oder aus politischen Gründen als Forscher und Lehrer ausgeschieden. Diese Ziffer enthält auch die“ 309 Fälle von Lehraufträgen mit meist völlig ungenügender Bezahlung, die den Betreffenden keine Existenz und gewiß auch keine Muße für die Tätigkeit eines Forschers ermöglichen.“

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, Deutschland Vorschläge zu machen, wie es der „Demontage des deutschen Geistes“ Einhalt zu gebieten habe — Österreich hat selbst im eigenen Hause auf diesem Gebiet genug zu tun. Eine Erwägung drängt sich aber doch auf: der Zug der 10.000 deutschen Dozenten durch die Geschichte der letzten zwanzig Jahre gleicht seltsam jenem Zug der griechischen Söldner quer durch Kleinasien nach Griechenland, den Xenophon in seiner „Anabasis“ weltgültig geschildert hat. Wie jene, so zogen auch diese, freilich oft ohne es zu wissen, durch Barbarenland, durch Steppen und Wüsten einer immer- mehr sich barbarisie-renden Umwelt — fielen den Schlangen und Giften, den Unbilden des Wetters und mannigfachen Versuchungen zum Opfer. Versuchungen, die sie zum Gutteil nicht erkannten, obwohl einer ihrer Besten, Ernst Robert Curtius, 1932 den Mahnruf erhoben hatte: „Deutscher Geist in Gefahr...“ So wurde, ohne Führung und Geleit, ohne innere Einheit und leider bisweilen aus mangelnder Einsicht der Gefahr eine Phalanx zerschlagen, eine Elitetruppe, die Führungsschicht eines großen Volkes, auf die die Welt mit Achtung und Anerkennung, ja oft in Ehrfurcht und Liebe sah. — So stellt diese erste deutsche Bilanz für uns, für alle, denen Wissenschaft und Forschung ein echtes Anliegen ist, eine ernste Mahnung dar. Geistträger sein, Professor — das Wort heißt zu deutsch „Bekenner“ —, „Dozent“ — Lehrer —, Führer in Forschung und Wissenschaft, das ist heute zum gefährlichsten und gefähr-detsten Beruf geworden. Wer diesen Beruf ergreift, übernimmt eine gewaltige Verantwortung. Nicht nur für das Schicksal seiner Familie, sondern seines Volkes, ja, heute, der Welt. Die Tragödie der deutschen Professoren und Dozenten offenbart sich demnach als die Tragödie einer Führungsschicht, die vom Rad der Geschichte zermalmt wurde, nicht zuletzt, weil sie die Größe und Gefahr ihrer Stunde nicht erkannt hat.

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