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Tritt Afrika an Indiens Stelle?

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Eine seltsame Unruhe erfüllt das Commonwealth of Nations. In den Büros der Schiffahrtsagenturen stauen sich die Menschen, die Luftlinien nach dem Mittleren Osten, nach Indien, Ceylon, Kenya und Südafrika haben ihre Plätze stets auf Wochen vergeben, die Malteserkolonie von Kairo beginnt ihre Zelte abzubrechen, Verwaltungsbeamte, Wissenschaftler und Techniker werden von der Labourregierung nach Rhodesien, Njassaland, Liberia, ins Somaliland und an die Goldküste entsandt, während hochgestellte Offiziere und Administratoren Indien und Pakistan verlassen und an Bord des Schiffes vielleicht mit Geschäftsleuten Zusammentreffen, die aus Burma heimkehren. Zur selben Zeit, da DP.s aus den kontinentalen Lagern den Boden der britischen Inseln betreten, sprechen Engländer bei den Dominionvertretungen vor und erwägen ernsthaft in den gepflegten Städten der Südafrikanischen Union, den Waldgebieten Kanadas oder den freundlichen Häfen Australiens ein neues Leben zu beginnen.

Läßt sich der tiefere Sinn solcher Unrast bereits erkennen? Kann man jetzt, wo alles in Fluß geraten zu sein scheint, bereits Prognosen stellen? Das Wagnis scheint nicht allzu groß, wenn man in der Flucht der Erscheinungen nach den gestaltenden Momenten sucht, die sich in vier Begriffe zusammenfassen lassen: Volkswirtschaft, Staatsethos, Verteidigung und Bevölkerungspolitik.

Daß England, des Weltreichs Herz, während des Krieges die schwersten materiellen Verluste tragen mußte, ist bekannt. Die Kapitalsanlagen im Ausland, die während des Krieges veräußert wurden, werden auf 1181 Millionen Pfund geschätzt, gleichzeitig mußten Auslandsverpflichtungen in der Höhe von 3000 Millionen eingegangen werden. Rechnet man zu diesen beiden Posten noch die Kriegsschäden im Inland und die Verluste der Handelsflotte, so ergibt sich nochmals ein Betrag von 2200 Millionen Pfund. Der gesamte erfaßbareKriegsverlust beläuft sieb also auf weit über 6000 Millionen, ein Betrag, der, wie englische Nationalökonomen annehmen, etwa ein Viertel des im Jahre 1938 noch vorhandenen Kapitals darstellt. Infolge dieses Aderlasses und infolge der durch das Leih- und Pachtgesetz hervorgerufenen Arbeitsteilung hat das devisenmäßige Defizit des Sterlingblockes die alarmierende Höhe von 1023 Millionen Pfund erreicht, eine Höhe, die durch militärische Verpflichtungen außerhalb des Weltreichs mitbestimmt wird.

Angesichts einer so kritischen Lage kann eine Veränderung !in der Kapitalstruktur nicht mehr privater Initiative entspringen, die Umformung des Weltreichs läßt sich gewissermaßen an Hand der Wirtschaftsstatistik studieren. In der Abstoßung von Vermögenswerten, in der Errichtung einer wirtschaftlichen Auffangstellung, vor allem aber in den Neuinvestitionen, erkennen wir Tendenzen entscheidender Bedeutung.

Aber kann ein Reich in dieser Lage überhaupt noch an Investitionen denken? Eben sie werden zur gebieterischen Notwendigkeit. Mit Rückzügen allein läßt sich, um ein Churchill-Wort zu variieren, auch der wirtschaftliche Krieg nicht gewinnen. Und tatsächlich fließen sehr beachtliche Kapitalbeträge nach Afrika. „Colonial Development and Welf are Act” ist ein Name dafür, ein Name, hinter dem sich die stattliche Summe von 120 Millionen Pfund verbirgt. „Groundnuts Sclieme” ist ein anderer Name, hier handelt es sich um 25 Millionen, „Colonial Development Corporation” ist ein weiterer Scheck auf hundert Millionen. Andere Namen und andere Summen ließen sich hinzufügen. Während Burma abgeschrieben wurde, während Indien als tragende Säule aus dem Weltreich gelöst und als Eckpfeiler wieder eingebaut wurde, stieg die Bedeutung des schwarzen Kontinents von Jahr zu Jahr, fast möchte man sagen von Monat zu Monat. Warum? Weil es hier unerscblossen oder kaum genützte Kohlenflöze, Wasserkräfte, Chromlager, vielleicht gar Ölfelder gibt? Weil hier durch die Erdnüsse die europäische Fettlücke geschlossen werden könnte? Weil durch jene von den Amerikanern auf den Südseeinseln zur Herstellung von Flugplätzen angewandten Methoden der Dschungelrodung hunderttausende Hektar mit Tabak, Baumwolle oder Mais angebaut werden könnten? Ja und immer wieder ja. Aber die Bejahung dieser Fragen soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß die gestaltenden Momente ineinander verwoben sind. Der Ausbau des afrikanischen Raumes ist nicht nur eine Frage der Volkswirtschaft, bei der man die Forderungen des Staatsethos oder die Probleme der Reichsverteidigung unberücksichtigt lassen darf.

Wer immer als Außenseiter die Geschichte des britischen Weltreichs studiert, wird erstaunt sein, wie früh der Gedanke einer Treuhänderschaft formuliert wurde; der den Angelsachsen so wichtige Begriff der Selbstverwaltung sollte auch auf die farbigen Völker Anwendung finden, sobald diese die nötige Reife erreicht hätten. Natürlich schien dieses Ideal oft genug von gewinnsüchtigen Motiven vollständig verdeckt zu werden, aber es ist erfrischend zu beobachten, wie es manchmal, selbst bei Imperialisten viktorianischer Prägung, gegen den Willen der Betreffenden zum Durchbruch kommt. Nur wenn man die Kraft dieses Ideals begreift, kann man verstehen, daß dem Durchschnittsengländer weder die Entstehung der Dominions von Indien und Pakistan noch das Ausscheiden Burmas aus dem Reichsverband als nationale Katastrophen erschienen. Tatsächlich lehrt ja die Geschichte, daß sich das Staatsethos im Laufe der Jahrzehnte entweder durchsetzen muß oder ein Verfall der allgemeinen Moral den Übergang zum Unterdrückungsstaat einzuleiten beginnt.

Das einzige Gebiet aber, in dem die Bevölkerung noch während vieler Dekaden, nicht zur Selbstverwaltung fähig sein wird, ist j n j riesige Land zwischen der Südafrikanischen Union und der gewaltigen Barriere der Sahara, an die sich gegen das Mittelländische Meer zu jener schmale, nur im Niltal Tiefe gewinnende Landstrich anschließt, der schon ein Teil des antiken Kulturbereiches war.

Gleichzeitig muß dieses Gebiet eine immer größere Rolle in den Gedankengängen britischer Generalstäbsoffiziere spielen. Hier, und hier allein, finden die Angelsachsen einen Raum von der Größe, wie ihn die moderne Strategie als unerläßliche Bedingung eines Verteidigungskrieges ansieht; selbst wenn das mittelländische Glacis vorübergehend verlorengehen sollte, könnten sich in diesem Raum die Kräfte zum Gegenstoß versammeln. Ob von den großen Möglichkeiten des afrikanischen Raums Gebrauch gemacht werden kann, ist letzten Endes eine Frage der Vitalität des englischen Volkes.

Schon in dem „Colonial Development and Welfare Act” sind — unerbittliches Gesetz des Staatsethos — Beträge ausgesetzt, die letzten Endes durch Hebung des Bildungsniveaus der Eingeborenen, die britische Herrschaft auch in diesem Teil der Welt eines Tages beenden werden, falls bis dahin der numerische Anteil der Briten an der Gesamtbevölkerung nicht wesentlich gestiegen ist.

Der Geburtenstatistik der nächsten Jahre und Jahrzehnte ist zweifellos entscheidende Bedeutung zuzumessen, ob die gegenwärtig ansteigende Tendenz anh alten wird oder bloß als eine Folge des Krieges betrachtet werden muß, ist schwer zu sagen, jedenfalls wird die geringe Fruchtbarkeit der Angelsachsen wenigstens teilweise durch einen vorbildlichen Gesundheitsdienst innerhalb des Commonwealth ausgeglichen. Die Kindersterblichkeit ist sehr niedrig, das gebirgige New Zealand hält hierin übrigens den Weltrekord.

Könnte man die Entwicklung Voraussagen, besäße man den Schlüsse! zu einem der großen Menschheitsrätsel. Nach geheimnisvollen Gesetzen formt und verändert sich die Erbmasse eines Volkes. Plötzliche Ausbrüche zerstörender Kraftfülle wechseln mit allmählichem Erschlaffen, flackernde Vitalität kann einen unheilbaren Gensschaden verbergen, Perioden von Weltangst und Weltverneinung gehen unvermittelt in solche von Lebensbejahung und Fruchtbarkeit über, in denen die Wiegen ohne Schwierigkeit über die Särge obsiegen.

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