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Überall ist Mittelalter

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Horst Fuhrmann, der herausragende Mittelalter-Forscher im deutschsprachigen Raum, hat in Jahrzehnten geduldiger Archivarbeit seine Begeisterung für das Mittelalter nicht eingebüßt, und er hat etwas Erstaunliches geschafft: Seine wissenschaftlich unangefochtenen Bücher erreichen nicht nur Fachleute. So erlebte sein bei C. H. Beck in München erschienenes Werk „Einladung ins Mittelalter" bereits vier Auflagen.

Horst Fuhrmann wurde 1926 in Schlesien geboren. Stationen seiner wissenschaftlichen Laufbahn waren Lehrstühle in Tübingen und Regensburg. Zwanzig Jahre wirkte er als Präsident der Monumenta Ger-maniae Historica in München, wo es utn die Herausgabe der vielen schriftlichen Quellen des Mittelalters geht. Der Historiker, der auf die stattliche Reihe von zwölf Büchern blicken kann, ist Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er ist Träger des höchsten deutschen Wissenschaftsordens, Pour le Merite. Dabei wollte er, nachdem er aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, Flugtechnik studieren, aber Deutschen war das in der Nachkriegszeit verwehrt.

Dem jungen Mann mit Notabitur war nach dem Krieg schmerzlich bewußt, daß er im Schießen erfahrener war als im Begreifen. In seinem Hunger nach Bildung fing er mit Griechisch und Latein an, fuhr mit alter Geschichte fort und blieb beim Mittelalter hängen. Da er es als peinlich empfand, Geld für etwas zu nehmen, das andere ohnehin haben, nämlich Bildung, suchte er sich die schwierigsten Themen seines Faches aus, nämlich das weite Feld mittelalterlicher Fälschungen.

Sein Interesse am Mittelalter ist nicht mit der überschäumenden Mittelalterwelle der achtziger Jahre zu vergleichen, die inzwischen verebbt ist. Er benutzt Geschichte nicht; er praktiziert genaues Hinschauen und entdeckt so im Gegenwärtigen Vergangenes, im Überwundenen das ehemals Mögliche, im Angeeigneten das Abgeschlossene. Die Zeit zwischen Konstantin dem Großen und der Reformation, so lange gering geachtet wegen des schlechten, hundsmiserablen Lateins, ist viel gegenwärtiger als die Antike: „Zwischen der Antike und uns liegt das Mittelalter."

In seinem neuesten Buch, „Überall ist Mittelalter" (C. H. Beck), tritt er den Beweis dafür an. Erstes, einfaches Beispiel: Unsere Art zu grüßen. In der Antike wünschten die Menschen einander Wohlbefinden, Gesundheit, körperliche Freude: Ave, vale. Seit dem 6. Jahrhundert kommt in den Grüßen Gott vor. Übrigens, jene Leute, die aus ideologischen Gründen lieber „Guten Tag" als „Grüß Gott" sagen, wissen nicht, daß „Guten Tag" aus „Gott gebe dir einen guten Tag" entstanden ist. „Tschüss" ist eine entstellte Form von Adieu - Gott befohlen. „Ciao" war ein Ergebenheitsgruß: ich bin dein Knecht (lat. schiavo). Natürlich hätte im Mittelalter kein höher Gestellter einen sozial unter ihm Stehenden mit „ciao" gegrüßt. 1 )ie Differenziertheit des mittelalterlichen Grußrituals ist heute verschwunden.

Weniger harmlos als das Fortwirken mittelalterlichen Grüßens ist das Kapitel Fälschungen. Da gibt es etwa die Konstantinische Schenkung, eine gefälschte Urkunde, in der Konstantin der Große angeblich die Oberherrschaft der römischen Kirche über den jeweiligen Kaiser festlegte. Diese Fälschung entstand zwischen der Mitte des 8. und der Mitte des 9. Jahrhunderts, galt im Mittelalter als echt und diente in der Auseinandersetzung mit dem Kaisertum den Päpsten als Beweismittel, als sie die kaiserliche Oberhoheit bestritten und auch dazu, die päpstlichen Herrschaftsrechte in Italien zu belegen. Erst große Humanisten deckten die Fälschung auf, und es dauerte bis ins 19. Jahrhundert, daß die kirchliche Geschichtsschreibung den Beweis der Humanisten akzeptierte. Eine andere, in ihren Auswirkungen bis heute wirksame Fälschung sind die Pseu-doisidorischen Dekretalen, Professor

Fuhrmanns Spezialgebiet: enorm einflußreiche Texte, weil in ihnen der Primat des Papstes über die Bischöfe behauptet und auch ins Kirchenrecht übernommen wurde.

Daß es solche Fälschung gab, ist längst bekannt. Neu ist Horst Fuhrmanns Interpretation. Er sieht diese im päpstlichen Recht bis heute eingegliederten Fälschungen als deshalb so erfolgreich an, weil die Fälscher frei formulieren konnten, weil sie Wunschgebilde ansteuerten, Idealbilder darstellten. Aus dieser Freiheit bezogen die Fälschungen ihre ge-schichtsformende Kraft.

Das Mittelalter ist nicht nur gegenwärtig. Es gibt auch Rückerinne-rungen an diese Epoche, mit denen heute Politik gemacht wird. Nach der deutschen Wiedervereinigung von 1989 erhoben sich in mehreren europäischen Staaten, besonders in Italien, Stimmen, die vor einer neuen Großmacht Deutschland warnten. 'Natürlich stammt die Angst vor einem starken Deutschland primär aus der Zeit des Nationalsozialismus. Horst Fuhrmann hat jedoch herausgefunden, daß heute auf Anwürfe gegen die Deutschen zurückgegriffen wird, die es bereits im Mittelalter gegeben hat. „Wer hat die Deutschen zu Richtern über die Völker bestellt?", fragte 1160 in einem Brief der Engländer Johann von Salisbury. Und weiter: „Wer hat den plumpen und ungebärdigen Menschen diesen Einfluß gegeben, daß sie nach Gutdünken den Führer über die Häupter der Menschensöhne bestimmen?"

Die Lega Nord, diese politisch oszillierende, dem rechten Spektrum zuzuordnende Partei um Umberto Bossi, bezieht ihren Namen von der antideutschen lombardischen Städteliga im 12. Jahrhundert. Damals hatten sich unter der Führung Mailands kaiserfeindliche Städte zu einer lombardischen Liga zusammengeschlossen. Ging es im Mittelalter gegen die Zentralgewalt des Kaisers, der seit Karl dem Großen stets ein Deutscher war, so stellt sich die Lega Nord heute gegen die Zentralgewalt Roms. Das Emblem der Lega Nord ist ein Mann, der im 12. Jahrhundert dem deutschen Kaiser eine vernichtende Niederlage zugefügt haben soll: Alberto da Giussano - eine Phantasiegestalt ähnlich wie Wilhelm Teil.

Neben Gegenwärtigkeiten und Rückerinnerungen ist das Mittelalter heute noch spürbar in Abwendungen von jener Zeit und ihrem Denken. So setzte sich etwa die heutige strenge Auffassung vom Zölibat erst im 12. Jahrhundert durch, unter anderem, weil zahlreiche Erbansprüche an die Kirche ergingen. Vorher herrschte Toleranz gegenüber Priestern, die mit einer Frau zusammenlebten. Geändert hat sich auch - und zwar dramatisch - die Haltung zum Tod. Die Rilder vom Jenseits wareu im Mittelalter lebhaft und klar. Tausende Gemälde belegen die Kraft, mit der sich die Menschen auf der einen Seite die Hölle vorstellten, auf der anderen das Paradies. Man versteht die un endliche Sehnsucht, in der richtigen Abteilung zu landen und den Wunsch, dafür vorzusorgen.

Schließlich zeigt Horst Fuhrmann in seinem jüngsten Ruch über das Mittelalter, wie gegenwärtig es in seinen Verwertungen ist, als deren geniales Reispiel er den Welterfolg des italienischen Linguistik-Professors Umberto Eco, „Der Name derT\ose", anerkennend und höchst originell analysiert.

Die Autorin ist

Mitarbeiterin der Abteilung „Wissenschaft und Bildung" im ORF-Programm O 1.

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