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Überalterte Labour-Führung

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Jedenfalls haben sich die Sozialisten bis in alle Einzelheiten vorbereitet, was sie im 'Falle eines Wahlsieges unternehmen würden. Aber wird ihnen ein solcher gelingen?

Sicherlich, neben den programmatischen Arbeiten waren die Labours auch im politischen Tageskampf nicht müßig. Hier zeigten sie sich erheblich anpassungsfähiger. Hugh Gaitskell setzte dem Kabinett Macmillan beachtlich zu. Er scheute auch nicht davor zurück, in Wahlreden von dem eben dargelegten Programm wieder abzurücken. Es gibt aber gewichtige Gründe, die einen sozialistischen Wahlerfolg fraglich erscheinen lassen. Sie werden von den Kennern der innerpolitischen Lage etwa so zusammengefaßt:

Die Labour Party macht nur nach •ußen einen geschlosseneren Eindruck als vor drei Jahren. Im Inneren gärt es nach wie vor (das geben maßgebliche Leute im Transport House auch ohne weiteres zu; innere Zwistigkeiten gehören für sie nun einmal zur Demokratie)! die europäische Integration hat nicht nur die Tories aufgerissen; der parteiinterne Kampf über die einseitige atomare Abrüstung ruht nur, ist aber noch nicht abgeschlossen. Der gewerkschaftliche Flügel hinter Frank Cousins drängt nach der totalen Führung der Partei, die nach Ansicht vieler englischer Gewerkschaftler von „klassenfremden“ Elementen besetzt ist. (Hugh Gaitskell und viele andere Mitglieder des Schattenkabinettes waren in „Public Schools“ sowie in Oxford oder Cambridge und zählen ohne Zweifel zur „guten Gesell-ichaft“.)

Die Tendenz der britischen Gewerkschaften erklärt sich zum Großteil geschichtlich; lange bevor es eine Labour Party gab, hatten schon die Gewerkschaften für eine Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter gewirkt. Dieser Führungsanspruch der Gewerkschaften, der kein Geheimnis geblieben ist, schreckt zahlreiche potentielle Wähler der Labour Party ab und treibt sie entweder in das liberale oder gar in das konservative Lager. Verschiedene Aktionen der Gewerkschaften und aggresive Aussprüche einzelner Gewerkschaftsführer in den letzten Jahren verstärkten die ablehnende Haltung weiter Bevölkerungskreise, die einen gewerkschaftlichen Syndikalismus befürchten. Diese Einstellung der Bevölkerung spiegelt sich weniger in der Presse wider, da viele Journalisten sich vor Terror fürchten. Das ist nicht nur aufgeschnapptes Gerede; in einer sehr anregenden Linterhaltung hat ein Journalist einer Tageszeitung in Liverpool dem Autor dieser Zeilen aufsehenerregende Enthüllungen über diesen gewerkschaftlichen Terror innerhalb der Presse gemacht; als er erkannte, daß seine Äußerungen vielleicht das Material für einen Artikel bilden könnten, bat er dringend, davon abzusehen, weil seine wirtschaftliche Existenz gefährdet sei.

Ein weiteres Handikap der Labour Party stellt ihre Überalterung dar. Die Abgeordneten der Sozialisten haben das höchste Durchschnittsalter aller britischen Parteien; derzeit beträgt es durchschnittlich rund 55 Jahre gegen 48 Jahre der Konservativen. Im gegenwärtigen Parlament sind nur etwa 20 sozialistische Abgeordnete unter 40, hingegen 80 über 60 Jahre; die Regierungspartei hat 72 Abgeordnete unter 40 und nur 37 haben das 60. Lebensjahr überschritten.

Diese Altersverteilung wirkt sich deshalb ungünstig für die Labour Party aus, weil die Wähler zwischen 21 und 54 eindeutig den Ausschlag geben. Von der wahlberechtigten Bevölkerung entfallen rund 60 Prozent auf diese Altersgruppen, deren Stimmenübergewicht sich in den Einmannwahlkreisen durchsetzt; denn die Engländer haben die Neigung, von zwei sonst gleichrangigen Kandidaten den jüngeren zu wählen. Die Sozialisten haben diesen Vorteil ihrer Konkurrenten bereits erkannt und bemühen sich mit aller Kraft, ihn bis zur nächsten Wahl wettzumachen. Die Frist scheint aber für dieses Vorhaben zu kurz zu sein, zumal die Gewerkschaften bis vor kurzem der Verjüngung Wiederstand leisteten (viele Vertreter der Gewerkschaften in der Fraktion der Labour Party müßten ihre abermalige Kandidatur aufgeben).

Die jungen sind nicht antieuropäisch

Ein neues Hindernis entstand erst in den letzten Tagen, als 80 Abgeordnete der Labour Party in offene Opposition zu Hugh Gaitskell traten, weil sie seine Europapolitik für falsch hielten. Der Führer der Oppositionspartei legte sich nämlich seit dem Frühjahr mehr und mehr auf eine Anti-EWG-Linie fest. Wiederholt schwang sich Gaitskell aus wahltaktischen Gründen zum Vorkämpfer für das Commonwealth auf und machte in vielen Radio- und Fernsehinterviews aus seiner Gegnerschaft zum Beitritt Großbritanniens zur EWG kein Hehl. Wenngleich es Gaitskell in einer meisterhaften Rede auf dem Kongreß von Brighton gelang, die „Europäer“ seiner Partei zu beschwichtigen, scheint sich seine Wahltaktik doch als Bumerang erwiesen zu haben. In der erwähnten Rede manövrierte Gaitskell so geschickt, daß alle einander kritisierenden Flügel der Partei glaubten, die Entscheidung sei zu ihren Gunsten gefallen. In der letzten Resolution wird aber wieder von den unmöglichen Bedingungen gesprochen, welche die Brüsseler Kommission fordere. Die scheinbare Einhelligkeit der Abstimmung über die Europapolitik des Schattenkabinettes (keine Gegenstimme und nur drei Enthaltungen) möge nicht über den tiefen Riß hinwegtäuschen. Innerhalb der Parteiorganisation revoltieren überwiegend die jungen Mitglieder. Auf der Generalversammlung in Brighton konnten sie sich noch nicht durchsetzen, weil sie zahlenmäßig nicht ihrer Stärke entsprechend vertreten waren; in den einzelnen Wahlkreisen werden sie aber ohne Zögern einem Sozialisten die Stimme verweigern, der gegen den wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluß Europas ist. Denn die jungen Briten wollen an diesem Europa mitarbeiten, es mitgestalten und nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden.

Der große Unsicherheitsfaktor der nächsten Wahlen sind jedoch die Liberalen. Sie sorgten für die eigentliche Überraschung in den Nachwahlen im ersten Halbjahr 1962. Denn auch die Sozialisten haben in diesen Geplänkeln gegenüber 1959 Stimmen verloren. Diese Tatsache werten die innenpolitischen Kommentatoren als Hinweis, daß Großbritannien eine Labour-Regierung nicht als Alternative eines konservativen Kabinettes ansieht.

Das Programm der britischen Sozialisten sei dem Durchschnittsbriten noch immer zu marxistisch. Diesen Eindruck gewinnt man nach vielen Gesprächen mit alten und jungen Angestellten und Facharbeitern, Lehrern und Studenten. Noch dazu verbreitet sich die Ansicht eines Christopher Holli, daß das britische Kabinett nicht mehr selbständig handeln kann, sondern daß ihm die Umstände eine bestimmte Politik aufzwingen; diesem Zwang könnte sich aber ein Kabinett Gaitskell ebensowenig entziehen wie das Kabinett Macmillan. Die Niederlagen in der Nachwahlserie des Frühjahrs werden von Beobachtern immei mehr in eine persönliche Niederlag des Premierministers umgedeutet. Mit einem neuen Mann an der Spitze dei Konservativen billigt man daher, in Verbindung mit allen geschilderter Bedenken, den Sozialisten keine groß Aussicht für den Wahlsieg zu. •

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