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Überleben trotz NATO!

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Die Reden des finnischen Staatspräsidenten Dr. Urho Kekkonen haben mit den Ansprachen General de Gaulles das gemeinsam, daß sie die Zuhörer überraschen, zu vielfachen Deutungen Anlaß geben und auf Freunde und Gegner oft verwirrend wirken. Doch während der General das größtmögliche Publikum vorzieht, erfolgen die Vorträge des Präsidenten Finnlands oft im kleinen Kreis Eingeladener, diesmal geschah es vor der Außenpolitischen Vereinigung der jungen Generation, einer akademischen Vereinigung in der finnischen Hauptstadt.

Kekkonen ist oft falsch zitiert und noch öfter falsch gedeutet worden; nach seinem Außeminister Karjalai- nen gab es allein in Skandinavien 751 verschiedene Deutungen seines letzten Vortrages. Jeder weitere Versuch kann im besten Fall nur die 752. Deutung darstellen, und auch wenn ihr die Übersetzung des Manuskriptes für diesen Vortrag zugrunde liegt, muß doch jeder Kommentar bis zu einem gewissen Grade subjektiv bleiben, jedenfalls gilt dies für den Versuch, die Absichten Kekkonens zu deuten.

Die unmittelbar nach der Rede gegebenen Kommentare waren zweifellos voreilig und verwirrend und konnten sich in vielen Fällen nicht einmal auf die genaue Kenntnis des Vortrages stützen, das gilt nicht zuletzt auch für die Kommentare, die in sehr bekannten deutschsprachigen Zeitungen erschienen sind. Fast ebenso überstürzt und voreilig erscheint jedoch auch die Erklärung des Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses in Oslo, Bengt Röiseland, der einen Nichtangriffspakt zwischen zwei Mitgliedstaaten der UNO als etwas völlig Abwegiges und Unnötiges bezeichnet. Die von Norwegen abgeschlossenen Verträge — so sagt Röiseland — hätten dem Norden stabilisierte Verhältnisse gegeben und zur Entspannung in der Welt beigetragen. Übrigens sei von seiten Finnlands kein offizieller Vorschlag auf Abschluß eines Nichtangriffspaktes erfolgt, und Norwegen werde deswegen auch nicht offiziell antworten.

Eine negative Reaktion

Unklar blieb dabei, was nun eigentlich der Regierungschef und der Außenminister Norwegens über diesen nichtoffiziellen Vorschlag dachten und ob Röiselands Erklärung nicht doch den Charakter einer offiziellen Antwort gehabt hat.

Es ist unvorstellbar, daß Kekkonen eine solche negative Reaktion nicht einkalkuliert gehabt haben sollte. Und wenn eine solche Antwort erwartet werden mußte, warum wurde dann dieser Vortrag gehalten? Die Antworten auf viele Fragen können nur in diesem Vortrag selbst zu finden sein, und deshalb ist es notwendig, ihn genauer anzuschauen.

Was sagte Präsident Kekkonen?

Die Kritiker des Vortrages in Helsinki sehen — wie schon oft vorher — die Situation Finnlands anders als Kekkonen selbst sie sieht, sie nehmen Voraussetzungen an, die nach finnischer Auffassung nicht bestehen, und sie befürchten Folgen, die nach Kekkonens Meinung nicht eintreffen werden. Finnland, seine außenpolitische Linie und die Kommentatoren im Westen trennt häufig mehr als nur das Wasser der Ostsee, und daraus entstehen Mißverständnisse und Mißtrauen auf beiden Seiten.

Kekkonen ging in seinem Vortrag davon aus, daß nicht trotz, sondern gerade wegen der Schaffung einer atomaren Streitmacht von unvorstellbarer Kraft die beiden großen rivalisierenden Supermächte niemal in ihrer Geschichte militärisch sc leicht verletzbar gewesen sind wie heute. Die Vereinigten Staaten lagen bei den großen Kriegen der letzten 150 Jahre weitab von den Zentren der Zusammenstöße und waren nie ernstlich bedroht, die Gegner Rußlands vergeudeten ihre Kräfte in den endlosen Steppen und Wäldern des Ostens und gingen schließlich, von Napoleon bis Hitler, in ihnen unter. Dieser in der geographischen Lage und der territoriellen Größe ligende Schutz besteht heute nicht mehr.

Die kleinen Staaten haben sich oft in den Schutz der großen begeben, obwohl ihnen bewußt war, „daß sich die Nationen nur in den Träumen der Jugend zum Wohle der Menschheit für andere opfern” und obwohl „kein Staat jemals einen Krieg zu einem anderen Zweck als seinem eigenen Vorteil” geführt hat! Im Zeitalter der Kernwaffen aber ist die Situation der kleinen Länder immer ernster geworden. Die kleinen Verbündeten der Großmächte liegen meist in einer Pufferzone zwischen den Großen — „wäre es nicht so, würde man sie ja in der Allianz nicht brauchen”! —, und sie würden in einem Atomkrieg die ersten Schläge entgegennehmen müssen, vor denen sie der große Verbündete nicht schützen kann. Die Neutralität kann deshalb auch für einen Kleinstaat unter Umständen ein besserer Schutz sein als das Bündnis mit einer Atomgroßmacht, trotz des Hauptzweckes des Militärbundes, die Sicherheit des Mitgliedstaates in einem Krieg zu erhöhen.

Das Aufkommen solcher Umstände kann dazu veranlassen, den wirklichen Wert eines Sicherheitssystemes, das sich auf den Besitz von Kernwaffen stützt, von neuem zu prüfen!

Was kommt nach der NATO?

In den letzten Monaten hat es eine rege Diskussion darüber gegeben, was Norwegen und Dänemark nach Auslaufen des NATO-Übereinkom- mens im Jahre 1969 tun werden. Kekkonen ist der Meinung, daß die Diskussionen darüber ohne einen wohlbegründeten Anlaß begonnen hatten: Der Regierungswechsel in Norwegen bedeute nach seiner Meinung keine Änderung der norwegischen Außenpolitik, und trotz des Widerstandes gegen eine weitere NATO-Mitgliedschaft in diesen beiden Ländern muß angenommen werden, daß sie auch nach 1969 in dieser westlichen Allianz verbleiben werden!

Auf ebenso losem Grund bauen die Spekulationen über die Bildung eines aus Finnland, Norwegen und Schweden bestehenden neutralen „Fennoskandia”, das vom norwegischen Generalmajor Lindbäck-Lar- sen in der „Norsk Militär Tidstrift” behandelt worden ist. „Fennoskandia” setzt den Austritt Norwegens aus der Nato und einen folgenden Freundschaftspakt mit den USA und Großbritannien voraus. Nach Kekkonens Auffassung ist es jedoch unrealistisch an einen Austritt Norwegens aus der NATO zu glauben, anderseits aber habe man auch den russisch-finnischen Freundschaftspakt falsch gedeutet.

Dieser Pakt entspreche nämlich permanenten finnischen außenpolitischen Interessen, und Spekulationen über Kündigungsabsichten Finnlands seien auf einen markanten „Mangel an Augenmaß” (Bismarck)

zurückzuführen! Finnland wolle gar nicht von dem Vertrag loskommen, und Moskau habe sich deshalb auch seiner Auflösung nicht widersetzen können! Der Beistandsvertrag trete erst in Kraft, „wenn Finnland oder die UdSSR einen Angriff von der Seite Deutschlands oder mit ihm verbündeter Mächte über finnisches Territorium ausgesetzt werde”. Das sei kein eigentliches Militärbündnis, sondern der Vertrag trete erst in Kraft, wenn Finnland zur Verteidigung seines Territoriums gezwungen werden sollte, etwas, das es unter allen Umständen auch ohne Vertrag tun würde! Außerdem sei der Vertrag regional begrenzt. Sollte die Sowjetunion von einer anderen Seite aus angegriffen werden, dann werde Finnland in einen solchen Konflikt nicht hineingezogen. Darin bestehe der grundlegende Unterschied zu einem Militärbündnis mit automatischer Wirkung, wie der Warschauer Pakt und die NATO. Während der Kuba-Krise waren auch die europäischen NATO-Mächte nahe daran, ohne eigenes Verschulden in einen militärischen Konflikt hineingezogen zu werden, obwohl der Brennpunkt der Ereignisse auf der anderen Seite des Atlantik lag. Der finnisch-russische Vertrag erkenne dagegen schon in der Einleitung das Recht Finnlands, sich außerhalb der Interessengegensätze der Großmächte zu halten.

Entschärfung im Interesse Finnlands

Nach Darlegung der Situation, wie sie sich vom finnischen Horizont aus abzeichnet und nach Betonung der Gefahr, die sich durch einen Zusammenstoß der Großmächte gerade in Nordskandinavien für Norwegen und Finnland ergeben könnte, kam Kekkonen zu dem Schlußsatz, daß eine Herauslösung des lappländischen Teiles aus den NATO-Verpflichtun- gen Norwegens die Sicherheit Finnlands außerordentlich erhöhen würde. Nur in Lappland grenzt in Europa das Territorium eines NATO-Staates direkt an das der Sowjetunion, bleibt Norwegen ein NATO-Staat, dann erscheint dem Präsidenten eine Entschärfung dieser Zone im Interesse Finnlands höchst angelegen. Direkt sagte er dazu folgendes:

„In diesem Zusammenhang besteht Grund zu einer Untersuchung, welche eventuellen neuen Vertragsarrangements Finnlands Sicherheit dienen könnten. Es liegt in unserem Interesse, eine Bedrohung Finnlands als Folge eines Großmachtkonfliktes zu verhindern. Deshalb ist Finnland bereit, mit Norwegen ein Vertragsarrangement zu erwägen, das das Grenzgebiet zwischen Finnland und Norwegen bei einem Konflikt zwischen den Großmächten vor Kriegshandlungen schützen könnte!”

Ein solcher Vertrag würde — so meinte Kekkonen — sowohl den Interessen Finnlands als auch Norwegens dienen, da er die Spannung im Gebiet der sogenannten Nordkalotten beseitigen würde. Und nicht zuletzt würde er auch zur Realisierung der von Kekkonen bereits vor mehr als 20 Jahren vertretenen Linie eines korrekt-freundschaftlichen Verhältnisses zur Sowjetunion’beitragen. Was für Finnland geboten und richtig ist — so folgert man in Helsinki — kann für Norwegen, das ebenfalls eine Landgrenze mit der Sowjetunion hat, nicht falsch und verderblich sein.

Der Vorschlag, der unter allen Umständen nicht mehr als eine vage Skizze ist, zielt also nicht auf einen Austritt Norwegens aus der NATO, 5r setzt im Gegenteil eine weitere Mitgliedschaft Norwegens voraus, und noch weniger deutet er auf ein Unbehagen Helsinkis an dem finnisch-russischen Pakt hin. Man mag zu dieser finnischen Lage stehen wie man will, man muß sie zur Kenntnis nehmen, und man mag dem Vorschlag Kekkonens nicht die geringsten Erfolgsaussichten geben, man muß ihn so auffassen wie er gemeint war und man darf vor allem Kekkonen nicht Absichten unterschieben, die nicht bestanden haben. Davon abgesehen kann ohne weiteres angenommen werden, daß der Präsident den im Norden geführten Diskussionen über neue Aspekte in der Sicherheitspolitik ein wenig neuen Brennstoff zuführen wollte. Auch das ist nicht verwerflich, und sie ist sogar im Vortrag angedeutet:

„Die Neutralitätspolitik setzt die Möglichkeit der militärischen Verteidigung voraus, doch die Hauptverantwortung für unsere Neutralitätspolitik ruht auf der Außenpolitik. Wenn es uns gelingen sollte, durch sicherheitspolitische Verträge Friede in jenen geographischen Sektoren zu schaffen, die zu den Konfrontationsgebieten der NATO- und Warschauer Pakt-Mächte gehören, so würde das auch auf die Bedeutung des Verteidigungswesens für unsere Außenpolitik einwirken!

Wenn die Perspektiven, die sich im Zusammenhang mit der Entwicklung der Kriegstechnik eröffnen, wirklich eine Veränderung in der Sicherheitspolitik der Staaten bedeuten, ist Finnland für seinen Teil bereit, aktiv zu allen Lösungen beizutragen, die zur Linderung der Spannung und zur Verminderung der Kriegsdrohung führen können.

In dieser Hinsicht soll unsere Neutralitätspolitik aktiv sein, denn eine Passivität in der Friedensfrage kann eine Kapitulation vor dem Kriege bedeuten!”

Eine Möglichkeit hiezu bietet die Frage der amerikanischen Stützpunkte auf türkischem Boden, die neuerdings von der linksgerichteten „Türkischen Arbeiterpartei” hochgespielt wird.

Revision des Militärpaktes

Nach einem noch unter Menderes abgeschlossenen bilateralen Geheimabkommen sind die Territorien dieser Stützpunkte praktisch „amerikanisches Hoheitsgebiet”, ein für die Prestige- und nationalbewußte türkische Armee unhaltbarer Zustand. Wenn es Demirel gelänge, eine Revision dieses Vertrages und damit eine Änderung des Verwaltungsstatuts der Militärbasen zu erreichen, könnte die Anschuldigung der Opposition, „er sei ein in den Spuren von Menderes wandelnder Günstling der USA” wohl nicht mehr aufrecht erhalten werden. Jedenfalls steht Demirel vor dem schwierigen Dilemma, einerseits den Nimbus eines „starken Mannes” um sich aufzubauen und damit die Opposition im eigenen Lager auszuschalten und andererseits den Generalstab nicht durch „Menderes-Allüren” gegen sich aufzubringen, was für jeden türkischen Politiker das Ende seiner Karriere bedeuten würde.

Das dem Parlament vorgelegte Regierungsprogramm glich einer auf die vielfältigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme zugeschnittenen Wunschliste. Der Privatinitiative in- und ausländischer Investoren sollen große Entfaltungsmöglichkeiten geboten werden, auf die wirtschaftliche Stabilität und die Wertbeständigkeit der Währung wird darin, ohne allerdings konkret zu werden, großer Wert gelegt. Auf sozialem Gebiet soll eine allgemeine Arbeitslosenunterstützung eingeführt und das bestehende Sozialversicherungssystem ausgebaut werden. Dies vor allem deshalb, um der zunehmenden Agitation der marxistischen Arbeiterpartei den Wind aus den Segeln zu nehmen und um zehntausende türkische Arbeiter, die heute in Europa beschäftigt sind, nach ihrer Rückkehr nicht in die Arme der Linken zu treiben.

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