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„Überlege wohl, Ilarion ..

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Ueberlege wohl, Ilarion I Du hast gefehlt, man wird dir deine Fehler vergeben. Siehe, wie unser Volk arbeitet und sich ein noch wunderbareres Leben schafft… Nur du bist bar all dieser Freuden, weil es schädliche .Verkündiger” und eingebildete .Götter” so wollen… Ich rate dir, Zeitungen zu lesen, aus ihnen wirst du über den Fortschritt unserer sowjetischen Wissenschaft erfahren. Denn bei uns, im Lande der Sowjets, wurden die ersten Sputniks des Erdballs geschaffen … wurden das atomare E-Werk und der Eisbrecher mit Atomantrieb erbaut. All das ist mit den Händen des Sowjetmenschen geschaffen worden. Ueberlege wohl, Ilarion I”

Diesen ..offenen Brief” schrieb unlängst die Komsomolzin und Lederarbeiterin Natalja Iwanowa an ihren Bruder Ilarion, weil dieser sich zu der sektiererischen „Pfingstbewegung” bekannt hatte. Ihre Zuschrift wurde in dem Lokalblatt „Kommunist” des bessarabischen Städtchens Bälti publiziert. Das parteioffizielle Monatsorgan der Moldauischen Sowjetrepublik, „Communistul Moldovei”, vermerkte zu diesem Schreiben, daß solche „Adressen” an renitente Sektierer und idealistische Irrgläubige häufiger veröffentlicht werden sollten, um die Meinung des Sowjetvolkes gegen diese schädlichen Einflüsse zu mobilisieren.

Die Moldauische Unionsrepublik (34.000 km2) mit ihrer rumänischen Bevölkerungsmehrheit unter 2,7 Millionen Einwohnern umfaßt heute den mittleren Gebietsteil Bessarabiens und einen schmalen Länderstreifen jenseits des Dnjestrs. Die UdSSR annektierte die ostrumänische Provinz Bessarabien 1945 und verlegte die Hauptstadt aus Tiraspol nach Kischinew (Chisinäu). Seither wird von sowjetischer Seite versucht, aus bessarabischen Rumänen, Ukrainern, Russen, Bulgaren, Juden eine neue „sozialistische Nation”, das „Moldauertum”, zu kreieren. Bekenntnismäßig gehört die Bevölkerung Mittelbessarabiens zur Orthodoxie.

Der Aufrieb .des Sektenwesens- in - der Moldauischen, SSR dürfte heute für orthodoxe Kirchenbezirke der Sowjetunion typisch sein. „Communistul Moldovei” zitiert in dem Aufsatz: „Die wissenschaftlich-atheistische Propaganda — ein wichtiger Sektor der ideologischen Arbeit” von N. Schilinzew u. a. die Innokenti- sten, die Zeugen Jehovas, die Pfingstbewegler- Zitterer (englische Bezeichnung: Holy Rollers) sowie die Adventisten - „Reformisten”. AH diesen Sekten bescheinigt das moldauische ZK-Organ „einen reaktionären und gemeinschaftsschädlichen Charakter”.

Bekanntlich gab und gibt es in der Sowjetunion gesetzlich erlaubte Freikirchen und Sekten, sogar kommunistenfreundliche religiöse Splittergruppen, die staatliche Förderung genießen. Daneben wuchern halb-legale und eindeutig regimefeindliche Geheimsekten. Ungefähr seit Jahresfrist gehen die sowjetischen Behörden auf breiter Front gegen das beinahe unkontrollierbare Untergrund-Sektenwesen vor. Auf regionaler und lokaler Ebene ergibt sich dabei die Gefahr, daß alle „Kirchendiener”, das heißt, auch die Großkirchen, von diesem Vorgehen gegen den sektiererischen „Obskurantismus” m i t betroffen werden. Denn grundsätzlich macht die ideologische Beurteilung zwischen dem „idealistischen Aberglauben” christlicher Kirchen, dem Sektenwesen, der Traumdeuterei und -dem Wahrsagen aus dem Kaffeesatz sowieso keinen Unterschied.

Die neuesten Ukase des ZK der moldauischen KP empfehlen den Lektoren-Atheisten u. a., .in den Städten und Dörfern Großversammlungen zu veranstalten, in denen einzelne Teilnehmer an das Rednerpult treten und zu dem Thema: „Warum habe ich auf die Religion verzichtet?” — „Wie bin ich Atheist geworden?” ein antireligiöses Bekenntnis ablegen. „Communistul Moldovei” bemängelt an dieser Methode: „Doch hat diese Form der Arbeit keine gebührende Verbreitung gefunden.”

Den KP-Funktionären wird ebenso nahegelegt, mit „Gläubigen” Einzelgespräche zu führen, um sie durch Ueberzeugung zu bekehren. Immerhin zeigt das parteioffizielle Eiferertum mit veröffentlichten „Adressen”, mit atheistischen Bekenntnisabenden und antireligiöser „Einzelseelsorge”, daß religiöse Sektiererei im Stil der politischen Sekte bekämpft wird. Der sowjetische Kommunismus hat sich funktionell noch keineswegs zum Gegenbild der russisch-orthodoxen Großkirche entwickelt, sondern befolgt in seiner Hierarchie, Auslese und Aktion das starre Reglement einer Sekte.

Bisher fanden alljährlich in Kischinew Seminarkurse für die Lektoren-Atheisten der Moldauischen SSR statt. Neuerdings wird angeregt, in Großbetrieben und Institutionen ständige wissenschaftlich-atheistische Seminare zu errichten. Der Aktionsradius der antireligiösen Propaganda soll beträchtlich erweitert werden.

Ein besonderes Augenmerk des ZK der Moldau gilt der Jugend. An den höheren

Schulen und Abendfakultäten für Marxismus- Leninismus soll darum ein wissenschaftlich- atheistischer Pflichtkurs eingeführt werden. Nicht zuletzt gilt der Parteiappell den Eltern, sich jeder Sabotage und des Boykotts gegen die „sozialistische Ordnung” zu enthalten. Krasse Beispiele illustrieren diesen Wunsch: so ging etwa das Mitglied des Kolchos „Sowjet Iljitscha” im Rayon Bassarabiaska in die Klubräume des örtlichen Komsomol „mit einer Peitsche, bedrohte seine Tochter und führte Anja Kal tuk nach Hause”. — Zwei Elternpaare im Rayon Tiraspol stellten einem jungen Paar, das ohne kirchliche Trauung heiraten wollte, Verweigerung der Aussteuer, Enterbung, Ausstoßung aus dem Familienverband in Aussicht. „Warum haben in diesen Fällen der Sekretär der Grundorganisation und der Kolchosvorsitzende nicht eingegriffen?”

Die Moldauische SSR war früher eine rumänische Randprovinz und ist heute eine kleine Randrepublik des Sowjetstaates. Die Parteipropaganda der KPdSU geht ‘daher in dieser südwestlichen Grenzzone der UdSSR behutsamer gegen Sekten und Kirchen vor als in innerrussischen Gebieten. Gerade deshalb darf man vielleicht traditionelle Grundsätze und taktisch neue Methoden des kämpferischen Gottlosen- tums in der fast vergessenen Moldaurepublik als symptomatisch für die anlaufende atheistische Offensive innerhalb der Sowjetunion bezeichnen.

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