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Um das Berufungsrecht im Strafprozeß

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Die Rechtssicherheit im Strafverfahren ist eines der wesentlichsten Merkmale jedes Kulturstaates. Die Rechtssicherheit des einzelnen Bürgers ist aber nur dann gewährleistet, wenn unabhängige Richter urteilen und gegen das Urteil Rechtsmittel zulässig sind, die eine Korrektur von Fehlentscheidungen ermöglichen.

Es hat jahrzehntelangen Ringens bedurft, bis die Justiz von der Verwaltung getrennt, die Rechtsprechung der Weisungsgewalt der Regierung entzogen, die Unabhängigkeit der Richter sichergestellt war. Als Kaiser Franz Joseph mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrats am 23. Mai 1873 das Gesetz über die Einführung der neuen Strafprozeßordnung erließ, schien das Ideal verwirklicht.

Das Geschworenengericht, die zwölf Männer aus dem Volk, nicht ernannt, sondern in einem peinlichen Verfahren ausgelost, sollten durch ihren Wahrspruch Recht sprechen. Die Kompetenz des Geschworenengerichts war weit gezogen: nicht nur die politischen Delikte Hochverrat, Aufstand und Aufruhr und anderes mehr unterstanden ihm, auch Mißbrauch der Amtsgewalt, Banknotenfälschung, Notzucht, Mord und Totschlag kam vor die Geschworenen, ja über alle Verbrechen, wegen der nach dem Gesetze auf mindestens fünfjährige Kerkerstrafe zu erkennen war, wie Diebstahl, Betrug und Veruntreuung höherer Schadensumme heute 5000 Schilling urteilten Geschworene. Nur die mit geringerer Strafe bedrohten Verbrechen waren Erkenntnissenaten aus vier Richtern zugewiesen.

Das Verdikt der Geschworenen durfte nicht begründet werden. Die Belehrung, die die Prozeßordnung erteilt und die vom Geschworenenobmann vor Beginn der Beratung zu verlesen war, begann mit den Worten: „Das Gesetz fordert von den Geschworenen keine Rechenschaft “über die Gründe ihrer Überzeugung …“ Der Wahrspruch der Geschworenen erschien somit als Spruch des Volkes unanfechtbar. Wurde der Angeklagte für schuldig erklärt und war der Gerichtshof einstimmig der Ansicht, daß die Geschworenen in der Hauptsache geirrt hatten, so mußte der Gerichtshof von Amts wegen den Wahrspruch aussetzen und die Sache zur nächsten Session verweisen § 332, STPO.

Es war somit weitgehende Rechtssicherheit geboten, die eine Neuaüf- rollung der Schuldfrage vor einer höheren Instanz entbehrlich machte. Als Rechtsmittel stand wegen Verfahrensmängeln die Nichtigkeitsbeschwerde, hinsichtlich des Strafausmaßes die Berufung offen. Auch gegen die Urteile der Erkenntnissenate standen nur die beiden Rechtsmittel offen. War deren Urteil auch nicht aussetzbar, so bot die Zusammensetzung — vier Berufsrichter von langjähriger Erfahrung — Gewähr dafür, daß Fehlentscheidungen in, der Beweisfrage mit einiger Sicherheit ausgeschlossen werden konnten. Alle schwereren Delikte unterlagen, wie bereits erwähnt, ohnehin der Judikatur der Geschworenengerichte.

Der Zusammenbruch der Monarchie im Jahre 1918 brachte wesentliche Veränderungen. Die Geschworenengerichte waren nur mehr für die politischen Delikte sowie für alle Verbrechen zuständig, die mit mindest, zehnjähriger Kerkerstrafe bedroht waren, soferne nach dem Gesetze auf mindest zehnjährige oder lebenslange Kerkerstrafe zu erkennen war, sowie für die Verbrechen nach § 139, STG Kindesmord und Totschlag § 140, STG. Alle übrigen Verbrechen, und das war die Mehrzahl, sollten vor Schöffengerichte kommen, die an Stelle der Erkenntnissenate traten und aus zwei Berufsrichtern und zwei ausgelosten Schöffen bestanden. Als Rechtsmittel blieb die Nichtigkeitsbeschwerde und die Strafberufung bestehen. Die Idee der Urteilsfindung durch zwölf Geschworene war somit weitgehend ausgehöhlt worden, ohne daß im Rechtsmittelverfahren eine neue Möglichkeit zur Überprüfung der Schuldfrage geboten worden wäre.

Das Anwachsen der Kriminalität nach dem Krieg sowie der durch einschneidende Sparmaßnahmen bedingte Personalmangel führten zu einer bedenklichen Überlastung der Strafgerichte. Durch das Gesetz vom 5. Dezember 1918 STPO-Novelle 1918 konnte an die Stelle des Schöffengerichts der Einzelrichter treten, wenn nach dem Gesetz nicht mindestens auf eine fünfjährige Kerkerstrafe zu erkennen war. In diesen Fällen konnte der Staatsanwalt statt einer mit Begründung versehenen Anklageschrift einen Antrag auf Bestrafung im vereinfachten Verfahren einbringen, wenn nach den Umständen des Falles anzunehmen war, daß keine strengere Strafe als eine Geld- oder Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten verhängt werden würde. Gegen diese Urteile stand jedoch das Rechtsmittel der vollen Berufung offen, durch das die erstrichterliche Beweiswürdigung bekämpft werden konnte.

Wir sehen also, der Gesetzgeber entschloß sich nur schwer, von der Urteilsfindung durch ein Richterkollegium abzugehen und die Lösung der Schuldfrage einem Menschen änzuvertrauen. Er beschränkte die Einzelgerichtsbarkeit auf minder wichtige Fälle und bot zur Garantie der Rechtsicherheit die Möglichkeit im Rechtsmittelverfahren die Schuldfrage neu aufzurollen, Im Abs. 6 des § 501, STPO, wurde bestimmt, daß, falls in der mündlichen Berufüngsverhandlung neue Zeugen gehört werden sollten, das Appellationsgericht auch alle bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen und Sachverständigen erneut hören müsse.

Man sieht ganz klar: nicht die Lösung der Schuldfrage durch den Erstrichter wurde überprüft, sondern die Schuld des Angeklagten splbst stand neuerlich zur Verhandlung. Das Gesetz über das vereinfachte Verfahren war als Notmaßnahme gedacht und daher befristet. Es mußte Jahr um Jahr verlängert werden. Die zunehmende Versteifung der politischen Gegensätze in der ersten Republik brachte es mit sich, daß mit 1. Jänner 1927 eine Verlängerung des Gesetzes nicht mehr erzielt werden konnte.

An Stelle des Einzelrichters trat wieder das Schöffengericht in allen Verbrechens- und Vergehensfällen. Die angespannte Finanzlage des Staates bedingte größte Sparsamkeit in Personalfragen, der Riditermangel, der zu einer chronischen Krankheit der österreichischen Justiz zu werden drohte, erforderte gebieterisch ein kräftesparendes Verfahren.

Nach Aufrichtung des autoritären Systems wurde durch die Verordnung der Bundesregierung vom 9. Februar 1934 das vereinfachte Verfahren wieder eingeführt. Der Staatsanwalt sollte den Antrag auf Bestrafung im vereinfachten Verfahren nur dann stellen, wenn nach den Umständen des Falles anzunehmen war, daß auf eine ein Jahr nicht übersteigende Freiheitsstrafe erkannt werden würde und der Schuldbeweis leicht erbracht werden könne. Ausgeschlossen blieb das Verfahren bei Verbrechen, die mit mehr als fünfjähriger Kerkerstrafe bedroht waren, bei allen politischen und Militärdelikten sowie in Jugendsachen.

Gegen Urteile des neuen Einzelrichters gab es aber keine Schuldberufung mehr, lediglich die formalistische Nichtigkeitsbeschwerde wegen Verfahrensmängeln sowie- die Strafberufung stand dem Rechtsmittelwerber offen. Die Beweiswürdigung durch den Einzelrichter war sakrosankt und inappellabel. Die Verminderung der Rechtssicherheit war augenscheinlich. Die Möglichkeit des Einspruchs gegen die Anklageschrift fiel weg, die kollegiale Urteilsberatung fiel weg, die Strafbefugnis war von sechs Monaten auf ein Jähr erhöht und dabei war jede Neuaufrollung der Schuldfrage, jede Prüfung der Beweiswürdigung verwehrt. Nach der Befreiung Österreichs im Jahre 1945 hat d i e z w eite Republik dieses Verfahren übernommen, die Strafbefugnis des Einzelrichters sogar von ein auf fünf Jahre erhöht.

Der würgende Richtermangel- in den ersten Jahren nach der Auferstehung Österreichs ist allbekannt, die Flut von Volksgerichtsverfahren, Plünderungssachen, Wohnungsprozessen legte fast den ganzen sonstigen Gerichtsbetrieb still. Nur der aufopferungsvollen Arbeit der geringen Zahl von Richtern und Staatsanwälten gelang es, dieser Akteninflation Herr zu werden. Alle diese Umstände müssen bedacht werden. Sie bieten aber auch die moralische und rechtspolitische Legitimation für die Weiterbelassung eines Verfahrens, gegen dessen Rechtssicherheit erhebliche Bedenken bestehen. Die Flut der Volksgerichtsverfahren ebbt ab, auch die zahlloseh Kündigung- und Räumungsprozesse werden weniger, es besteht begründete Aussicht, in absehbarer Zeit eine größere Zahl von Richtern und Staatsanwälten frei zu bekommen, so daß das vereinfachte Verfahren i n der bisherigen Form geändert werden könnte.

Es stellt sich nun die Frage: Soll der Einzelrichter gänzlich verschwinden und dem Schöffengericht Platz machen oder soll nur eine sinnvolle Änderung des vereinfachten Verfahrens erfolgen? Die Kriminalität ist eher im Steigen als im Abflauen begriffen, richterlicher Nachwuchs in ausreichendem Maß steht auf Jahre hinaus nicht zur Verfügung. Es wäre daher meines Erachtens das vereinfachte Verfahren zu belassen, wenn folgende Änderungen zur Stärkung der Rechtssicherheit erfolgen würden: Beschränkung des Verfahrens auf Fälle, in denen der Schuldbeweis leicht zu erbringen ist, Herabsetzung der Strafbefugnis des Einzelrichters auf ein Jahr, Einführung der vollen Berufung, deren Rechtszug an das Oberlandesgericht gehen müßte.

So bliebe nebst den Verdikten der Geschworenengerichte, deren Wiedererrichtung wohl ein Politikum darstellt nur bei Schöffengerichtsurteilen eine Überprüfung der Beweiswürdigung ausgeschlossen. Es wäre zu erwägen, ob dem Obersten Gerichtshof in dem Rechtsmittelverfahren auf Grund erhobener Nichtigkeitsbeschwerde nicht das Recht eingeräumt werden sollte, im Falle erheblicher Bedenken gegen die Richtigkeit der erstrichterlichen Beweiswürdigung, das Beweisverfahren ex offo durch Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen neu aufzurollen. Erst die Möglichkeit, das Beweisverfahren im Rechtsmittelverfahren zu wiederholen, schafft volle Rechtssicherheit.

Ein dahinzielender Antrag der österreichischen Rechtsanwaltskammern soll dem Vernehmen nach im Bundesministerium für Justiz günstige Aufnahme gefunden haben. Es steht zu hoffen, daß eine diesbezügliche Regierungsvorlage bald dem Nationalrat zugehen wird.

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