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Um den Platz an der Sonne

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Unter dem etwas schwerfällig klingenden Worte „Rehabilitation“ faßt man jene Maßnahmen zusammen, die geeignet erscheinen, den Körperbehinderten, je nach dem Umfange seiner Funktionsstörung — angeboren oder erworben — wieder in das Erwerbsleben zweckmäßig einzugliedern. Es ist ein bedeutsamer sozialer Prozeß, eine physische und psychologische Aufgabe ersten Ranges, der Anteilnahme des Arbeitsmarktes, der Wirtschaft und des Staates sicher. Dieser und die Sozialversicherung haben ein verständliches Interesse daran, die Rentenleistungen in ein gesundes Verhältnis zu den Beitragsleistungen der Unternehmer und der Arbeitnehmer zu bringen. Das Thema der Wiederertüchtigung (Rehabilitation) ist ein internationales. Aber es wurde in den Ländern, die unmittelbar von den Ereignissen des letzten Krieges betroffen waren, besonders dringlich, und es ist daher zu verstehen, daß vor kurzem in Oesterreich die erste Studientagung für Deutschsprachige in der Sache der Rehabilitation abgehalten wurde. Das bedeutete nicht zuletzt eine Anerkennung der Maßnahmen, der Anstrengungen, die unser kleines Land unternahm, Menschen, die mit Körperschäden oder Krankheiten behaftet sind, wieder zu möglichst vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen.

Die Wiedereingliederung ist vorerst als ein Teil des Gesundheitsdienstes anzusehen. Sie kann nicht frühzeitig genug einsetzen. Sie beginnt schon an dem Tage, da der Kranke der Obsorge des Arztes anvertraut wird. Die medizinischen Gegebenheiten sind es, welche die Einstellung des Arztes zur Rehabilitation in den meisten Fällen ausreichend umschreiben. Es kann sich um verhältnismäßig rasche Heilprozesse handeln: dann reicht die ärztliche Obsorge aus; beansprucht aber die Wiederherstellung längere Zeit, dann ist eine weitreichende soziale Betreuung nötig. Der Arzt wird sich die Frage vorlegen: Wann soll die Ueberstellung zur Rehabilitation erfolgen? Er wird sich weiter fragen: Was soll dem Patienten gegeben werden, daß er selbständiger Lebensführung fähig ist? Und er wird sich dann Rechenschaft ablegen, welche Voraussetzungen zu einer etwaigen Berufsausübung nötig sind — Spezialwerkzeuge, Spezialfahrzeuge und sämtliche unter dem Begriffe der Funktionshilfe zusammengefaßten Gegenstände.

Die ärztliche Fürsorge verläuft von der Gründung des Ersten Unfallkrankenhauses im Jahre 1925 in Wien über die gleichen Anstalten in Klagenfurt (1936), Wels und Schmieding (1938), die Umgestaltung des orthopädischen Spitals in Graz und die Errichtung der Unfallstation Steyr (1940) zur Station Valduna bei Bregenz (1945) und den seither errichteten Anstalten in Wörgl, Bregenz, Linz und Wien XII. Die Bundeshauptstadt verfügt mit dem Neuen Unfallkrankenhaus XII (Meidling), dem Ersten Unfallkrankenhaus und der Station im Hanuschspital über 400 Plätze. Großanstalten besitzen Linz und Graz mit je 220 Betten. Gegenwärtig ist überdies in Bregenz ein Landesunfall-krankenhaus mit 120 Plätzen im Bau. Bei dieser Uebersicht dürfen die Sonderstationen nicht vergessen werden: Stollhof bei Klosterneuburg und Tobelbad bei Graz. Besonders dieses Haus, 1950/51 errichtet und 1952 eröffnet, fand internationale Beachtung. Schwerverletzte mit langer Behandlungsdauer werden nach Abschluß der chirurgischen Behandlung nach Tobelbad verlegt. Hier steht an der Spitze der Behandlung und Rehabilitationsmaßnahmen die Festigung des Selbstvertrauens. Dem Patienten wird nachgewiesen, daß er — ungeachtet vorübergehender oder dauernder Behinderung — noch über andere funktionstüchtige Organe verfügt. Turnen, Gymnastik und Spiel; dazu Arbeitstherapie in der Tischlerei, Schlosserei und Sattlerei bereiten auf die Umschulung — sofern diese nötig — und die Maßnahmen vor, welche in Oesterreich von den öffentlich-rechtlichen Gebietskörperschaften durchgeführt werden. An ihrer Spitze stehen die Landesarbeitsämter, die Landesinvalidenämter, aber auch Landesschul-behörden, Fürsorgeämter, Religionsgemeinschaften, Sozialversicherungsträger, Gewerkschaften und Kammern als die gesetzlichen Interessenvertreter der Arbeitnehmer und der gewerblichen Wirtschaft sowie Selbstinteressenverbände (wie die Kriegsopfervereinigungen und Blindenvereine). ^

Die soziale Fürsorge — als Kriegsbeschädigtenfürsorge auf dem Bundesgesetz vom 14. Juli 1949, BGBl. 197/49, beruhend - ist im Bundesministerium für soziale Verwaltung am klarsten zu überblicken. Halbjährlich gibt es über seine Maßnahmen Rechenschaft. Durch besonderes Entgegenkommen wurden uns die neuesten Ziffern (Stand August 1955) zugänglich gemacht. Nach diesem gibt es Personen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 Prozent: 57.780; von 40: 29.217; von 50: 36.386; von 60: 10.984; von 70: 17.109; von 80: 7228; von 90: 2293 und von 100 Prozent: 4794. Zu diesen Personen kommen noch jene mit Härteausgleichen (33 5) und die Umschüler (177), so daß sich die Gesamtzahl der Beschädigten auf 166.303 beläuft. (Von sozialfürsorgerischer Bedeutung sind daneben die Hinterbliebenen mit 227.434 und die Angehörigen der nicht heimgekehrten Kriegsteilnehmer mit 70.396: diese beiden Zahlen müssen im Zusammenhange beurteilt werden.) Auf die alten Versehrtenstufen verglichen, entsprechen . die Beschädigten mit Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 bis 40 Prozent der Stufe I, jene mit 50 bis 60 der Stufe II, die mit 70 bis 80 der Stufe III und die mit 90 bis 100 Prozent können teils als Stufe III, teils als IV angesehen werden, wobei bemerkt werden muß, daß Beschädigte von 25 Prozent bereits zur Gruppe der 30 Prozent genommen werden.

Wien V, Obere Amtshausgasse 1—3: das war die nächste Stelle, die wir aufsuchten. Dort befindet sich das Arbeitsamt Körperbehinderte, dessen freundlichem Entgegenkommen wir eine Reihe aufschlußreicher Mitteilungen verdanken. Natürlich gilt die erste Frage der Einstellung von Invaliden. Die gesetzliche Grundlage dazu bildet das Invalideneinstellungsgesetz vom 25. Juli 1946. jjemäß 1 des Gesetzes besteht für alle Dienstgeber, mit Ausnahme der Gebietskörperschaften, die Verpflichtung, auf wenigstens 15 Dienstnehmer einen Invaliden und auf je 20 weitere Dienstnehmer mindestens einen weiteren Invaliden zu beschäftigen. Als invalid gelten Personen, denen eine Versorgung nach dem Kriegsopferversorgungsgesetz oder eine wenigstens 50prozentige Teilrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung gewährt wird. Die Gebietskörperschaften sind verpflichtet, auf mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze einen Invaliden zu beschäftigen.

Mit dem Stichtag vom 30. Juni 1954 wurden bei den gemeldeten Betrieben — in Wien rund 4000 - insgesamt 11.838 Pflichtstellen gezählt, von denen 9120 besetzt waren. Es sind also Pflichtstellen unbesetzt. Die Hauptzahl von diesen entfällt auf die Betriebsklassen 5, 6 und 16 (Bau, Metall und Handel); die Anforderungen in diesen Klassen sind für die gemeldeten Invaliden sehr hoch und es bedarf größter Mühe der Vermittler, hier eine Arbeitskraft unterzubringen. Bei dieser Gelegenheit darf nicht verschwiegen werden, daß bei vielen Dienstgebern das Bestreben vorherrscht, unter Berufung auf den 9, Absatz 1, Invalideneinstellungsgesetz, an Stelle der zu bietenden Pflichtbeschäftigung die vorgesehene Ausgleichstaxe zu leisten. Das machte vom 1. Juli 1953 bis 30. Juni 1954 den Betrag von 2,281.380 S aus.

Bei Ablauf des vorigen Jahres waren 2060 Stellungsuchende (1825 Männer und 85 Frauen) vorgemerkt. Die Zahl der erfolgreich Vermittelten ist dauernd im Steigen begriffen. Sie betrug 1952: 1156, im Jahre 1953 1274 und 1954: 1334. Man muß hervorheben, daß es der Aktivität des Arbeitsamtes zu verdanken ist, daß dieser Erfolg eintrat. Man holt gewissermaßen die Arbeitsplätze heran. Bei 120 Betriebsbesuchen im letzten Jahre bemühte man sich, im persönlichen Kontakt mit den Dienstgebern die vorhandenen Bedenken hinsichtlich einer Einstellung von Invaliden zu zerstreuen. Im allgemeinen kann gesagt werden, daß rund die Hälfte der gemeldeten Betriebe mit dem Arbeitsamt gut zusammenarbeitet und von sich aus — ein Zeichen der Zufriedenheit — bei eintretendem Bedarf solche Arbeitskräfte verlangt.

Am zahlreichsten waren die Zuweisungen bei den Bauberufen. Sehr günstig gestaltet sich die Lage auf dem Sektor Metall. Bei den Bürokräften kann man feststellen, daß die früher mehr kurzfristigen Arbeitsverhältnisse von Dauerbeschäftigungen abgelöst werden. Sofern ein Körperbehinderter ein Hochschulstudium zu vollenden hat, wird ihm dazu die Möglichkeit gegeben und diese finanziert. Von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist, daß im Arbeitsamt Körperbehinderte sämtliche dort tätigen 160 Angestellten aus eigenem Erleben wissen, was es bedeutet, trotz Schäden arbeiten zu können, selbst zu helfen und nicht sich helfen zu lassen. So hoch auch die Wissenschaft der Rehabilitation das „Teamwork“ beurteilt (eine Verbindung von Arzt, Psychologen, Pädagogen, Fürsorger, Arbeitsamt, Umschuler) — am Ende steht doch überall der Mensch mit seinen rein persönlichen, ganz besonders gelagerten Nöten, die zudem oft auch auf das Familienleben übergreifen. Im verflossenen Jahre ersuchte erstmals die Allgemeine Invalidenversicherungsanstalt das Arbeitsamt um Berufsberatung und Ausbildungsvorschläge für einzelne, mit Renten beteilte, meist jüngere Behinderte. Diese Vorschläge fanden Billigung. Die Ausbildungskosten trägt die Invalidenversicherungsanstalt. Es handelt sich um ein neues, entwicklungsfähiges Tätigkeitsgebiet. Die Versicherungsträger sind — wie eingangs erwähnt — verständlicherweise bestrebt, jüngere Rentner wieder ins Berufsleben zurückzuführen. Dadurch werden die Soziallasten gerechter verteilt und man nützt der Gesamtwirtschaft. %

Zu tun bleibt noch viel. Zunächst auf gesetzlicher Basis — sie wäre durch die Schaffung eines Rahmengesetzes, in dem alle Rehabilitationsmaßnahmen zusammengefaßt werden, dahin entwicklungsfähig, daß man die sozialen und fürsorgerischen, aber auch die dazu immer gleichläufig zu verfolgenden medizinischen Maßnahmen koordiniert. Dann könnten allgemeine und spezielle Rehabilitationszentren errichtet werden. Diese Zentren müssen Werkstätten zur Belastung und Erprobung für die üblichen Beschäftigungen haben. Diese Mittelpunkte der Wiederertüchtigung sollen sowohl vom Staate als auch von privaten Organisationen getragen werden. Ein Staatsmonopol ist abzulehnen. Die Erziehung (Umschulung, Nachschulung — aber auch der körperbehinderten Kinder ist zu gedenken) muß gleichfalls koordiniert und geplant werden. Hierzu gehört auf allen Hochschulen ein eigenes Lehrfach für Rehabilitation. Sämtliche Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation zur beruflichen Rehabilitation (195 5) sind laufend zu überprüfen und zu ergänzen; eine Fachzeitschrift wäre zu gründen, welche dem internen Erfahrungsaustausch dient. Die Begünstigungen, welche den zu Rehabilitierenden ein zu schaffendes Rahmengesetz gewährt, müßten internationale Gegenseitigkeit finden. So wird — von dem Leid, das überwunden werden soll — wieder eine Bresche geschlagen für die Verständigung der Völker. Das wäre eine Rehabilitation geistiger Art, von der die ganze Menschheit gewänne.

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