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Um die deutschen Westgrenzen

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Keine Frage des staatlichen Neubaues wird gegenwärtig in Deutschland so eifrig diskutiert, wie die seiner künftigen Grenzen. Eine Reihe von deutschen Parteiführern hat zu der Frage der Odergrenze, des Ruhrgebietes und der Saar Stellung genommen. Seit die Übergabe Ostelbiens an Polen verfügt und eine schon vollzogene Tatsache schuf, konzentriert sich eben alle Sorge auf die Westgrenzen, jene Grenzen, die nunmehr Gegenstand eingehender Besprediungen der großen Vier sind. Fast alle Nachbarn Deutsdilands im Westen fordern Gebietsabtretungen und es besteht auf Seiten der Schiedsrichter Geneigtheit, diesen Forderungen zu entsprechen.

Eines der ersten und größten Opfer, die peutsdiland wahrscheinlich wird bringen müssen, wird die Aufgabe des Saargebietes sein. Dieser zuvor nur 1912 Quadratkilometer große Landstrich, dem im Vorjahre weitere 900 Quadratkilometer einverleibt worden sind, zählt heute fast eine Million Einwohner und ist dank seines mächtigen Kohlenbergbaues eines der wichtigsten Industriegebiete Deutschlands. Die jährliche Kohlenförderung beträgt rund 16 Millionen Tonnen, aus einem Lagerschatz von etwa 12 Milliarden Tonnen. Die französische Tendenz, das Saargebiet von Deutschland zu lösen und es mit den lothringischen Industrierevieren zu vereinen, ist nicht erst ein Wunsch von heute. Ein Teil der Saarbevölkerung sieht im Anschluß an Frankreich ein Entkommen aus den verschiedenen kleinen und großen Lasten des Krieges, den Abmontierungen, Hungerrationen und der Wiedergutmachung So hat sich in jenem Land, in dem 1935 nur 0,4 Prozent der Stimmen für den Ansdiluß an Frankreich abgegeben wurden, eine Bewegung gebildet,' die für die „Wiedervereinigung der Saar mit Frankreich“ spricht. Diese Mouvement, das unter Führung von saarländischen Emigranten steht, die 1935 nach dem Plebiszit nach Frankreich gegangen waren, um dem KZ, dem Schicksal vieler ihrer Gesinnungsgenossen, zu entgehen, soll heute 140.000 Mitglieder zählen; es gibt ein eigenes Blatt, „Die neue Saar“, in bedeutender Auflage heraus. Bei den Gemeindewahlen im Herbst 1946 konnte diese Gruppe freilich nur 5532 von 461.553 Stimmen auf sich vereinigen.

Aber auch alle übrigen saarländischen Parteien, mit Ausnahme der Kommunisten, bejahen die wirtschaftliche — nicht die politische — Angliederung an Frankreich, so die Christliche Yplkspartei, die letzthin 52 Prozent der Stimmen erhielt, die Sozialdemokraten, auf die 21 Prozent entfielen, und die Unabhängigen Demokraten mit 18 Prozent aller Stimmen. Keine dieser Gruppen hat organisatorische Zusammenhänge mit den, dem Namen nach verwandten Parteien in Westdeutschland. Sowohl Dr. Schumacher als auch Jakob Kaiser haben sich eindeutig gegen die „separatistischen Tendenzen“ im Saargebiet ausgesprochen.

Es fällt nicht leicht, sich von außen her über die wahre Stimmung im Saargebiet ein Bild zu machen. Um einen eindeutigen Entscheid zu erreichen, denkt die französische Militärverwaltung an eine neuerliche Volksabstimmung; Militärgouverneur Colonel Grandval sieht darin eine Sicherstellung dagegen, daß „Frankreich die gleichen Erfahrungen wie die Tschechoslowakei mit den Sudetendeutschen mache“. Die Aussichten einer politischen Angliederung werden nicht für unbedenklich gehalten. „Manchester Guardian“ kommt zu dem beachtenswerten Schluß, daß „die Übernahme der Saarländer einen neuen wunden Punkt an dem politischen Körper Westeuropas bilden werde“.

Auch Luxemburg und Holland haben kleinere territoriale Forderungen eingebracht, doch wurde diesen auch im eigenen Lande widersprochen. Das „Luxemburger Wort“, das maßgebliche Blatt des Großherzogtums, erklärt zum Beispiel, „daß man nicht daran denke, Luxemburg um Asyl für trübselige Ausländer zu machen, die vor weit über hundert Jahren von den Luxemburgern losgelöst wurden“. In sehr vorsichtig gewählten Worten sagt dieses Blatt der luxemburgischen Christlichsozialen, der weitaus stärksten Partei des Landes, man solle sich auf ein paar Dörfer besdiränken.

Die holländischen Gebietsforderungen zielen in erster Linie auf eine Verkürzung der stark verzahnten Grenzen von 525 auf 340 Kilometer. Immerhin würden 1750 Quadratkilometer deutschen Gebietes mit rund 400.000 Einwohnern in diesen dichtbevölkerten Gegenden an die Niederlande fallen. Aachen, Jülich, Emmerich, Bocholt, Gronau, Bentheim, Emden und die Insel Borkum würden fortan holländisch sein. Die niederländische Regierung trägt sich nicht mit dem Gedanken einer Aussiedlung; mit Ausnahme der führenden Nationalsozialisten würden alle Personen zunächst begrenzte Bürgerrechte, dann aber die holländische Staatsangehörigkeit erwerben. Auch an die An-siedlung von 60.000 Kleinbauern ist gedacht. Holland ist — wie aus einer Äußerung des früheren Außenministers van Rooyen her-vorg;ht — der Ansicht, die deutsche Bevölkerung der eingeg!ied:rten Gebiete nicht allzu schwer politisch akklimatisieren zu können. Die Stammesart der Bevölkerung dieser Grenzgegenden ist seit altersher verwandt. Die bisherige katholische Minderheit Hollands würde durch sie einen starken Zuwachs erfahren. Schwer würde im Rheinland namentlich der Verlust von Aachen und Jülich empfunden werden. Befürchtungen, die in der holländischen Presse laut wurden, sprechen die Sorge aus, daß durch die Annexion die guten Beziehungen zwischen den deutschen Ostfriesen und den holländischen Westfriesen schwer gestört werden könnten.

Wo immer man die Grenze arischneidet, dort muß es Wunden geben und ihre Schwere kommt nicht einmal auf die Größe der Veränderung an. Die bedeutungsvollsten Grenzverschiebungen, die an der deutschen Westgrenze in Betracht kommen, werden jene sein, die das Rheinland und das Ruhrgebiet betreffen. Für das erste fordert Belgien eine langjährige Besetzung, für das Ruhrgebiet steht in London die Internationalisierung zur Debatte.

Den bisherigen Zustand bestreiten nicht nur Einsprüche der Nachbarn und einzelner Großmächte, sondern auch L o s t r e n-n u n g s b e s t r e b u n g e n, die — nicht seit gestern — in der rheinländischen Bevölkerung selbst verbreitet sind. Die rheinische Stammesart ist von der preußischen so verschieden, daß der Gegensatz im Rheinland immer gefühlt und die Vormacht des Preußentums, gar die Einordnung der Rheinlande unter Berliner Führung unwillig empfunden wurde. Köln — Berlin — das waren die großen nicht nur empfindungsmäßig, sondern auch geistig bestimmten Kontrapunkte. Aus diesen Gegebenheiten erklären sich die Selbständigkeitsbestrebungen, die nach dem' ersten Weltkrieg, hervortraten und jetzt wieder sich anmelden. Es ist aber zu vermerken, daß die großen Parteien des Rheinlandes in ihren Reihen wohl einer föderalistischen, aber nicht einer separatistischen Gestaltung zuneigen. An der Spitze der Bestrebungen, die auf einen unabhängigen Rheinstaat gerichtet sind, stand bis vor kurzem die „Rheinische Volkspartei“ unter Fuhrung von Dr. Opitz. Der Mißerfolg, den die Herbstwahlen 1946 dieser Partei gebracht haben, die in der britischen Zone nur 27.464 Stimmen und ein Mandat erringen konnte, hat sie zu einer Schwenkung und einer Änderung ihrer Parteiführung veranlaßt. Eine kürzlich erfolgte Kundgebung der Partei rief nach einer Volksabstimmung, die entscheiden soll, „ob das Land weiterhin unter preußischer Vormundschaft bleiben oder eine unabhängige Existenz führen soll“. Dr. Opitz erklärte für seine Gruppe, daß nur ein freier Rheinstaat die mögliche Wiederaufrüstung seitens einer deutschen Zentralregierung verhindern könne, indeß ein unabhängiges Rheinland die Rolle eines friedlichen Bollwerkes gegen eine aggressive Massenpolitik zu übernehmen vermöge.

Eine andere Partei, die „Christlich-demokratische“, hat ihren Sitz in Koblenz (Französische Zone), wo sie mit Benützung eines historischen Zeitungstitels, unter dem einst zu Napoleons Zeiten Josef Görres schrieb, die Zeitung „Rheinischer Merkur“ herausgibt. Auch sie. die mit der Christlich-demokratischen Union nichts zu tun hat, spridit allerdings mit vorsichtigen Vorbehalten von einer Eigefttaatlichkeit des Rheinlandes, jedoch in einer Verbindung mit einer deutschen Föderation.

Drei kleinere Gruppierungen des Rheinlandes haben eine direkte oder indirekte Loslösung dieses Gebietes von Deutschland auf ihre Fahnen geschrieben: „Freies Rheinland“, eine Vereinigung, die eine Vereinigung mit Frankreich will, dann eine im Sommer 1946 von dem Vizepräsidenten der Pfalzverwaltung, Dr. Koch, gegründete Partei, die von einem Rheinstaat von Holland bis zur Schweizer Grenze fabelt, zu dem,- auch das Saargebiet gehören soll, und die „Freie Dominionpartei des Rheinlandes“, die die Stellung eines britischen Dominions für das Rheingebiet anstrebt.

Diesen Gruppen eignet zwar wenig ernsthaftes politisches Gewicht, sie sind nur Kennzeichen für die Verwirrung, die der Zusammenbruch der Hitlerherrschaft im Rheinland zurückgelassen hat. Hier saß die Hitlerdespotie am wenigsten fest. Demzu-t folge ist hier das Ressentiment gegen eine Berliner Führung und den schuldbar gewordenen Zentralismus besonders erbittert. Dies äußert sich in verschiedenen Formen. Horcht man, so spricht aus den breiten Massen ein starker Selbstbestimmungswille innerhalb eines neuen Deutschlands.

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