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Um die Mehrheits- oder Verhältniswahl in Deutschland

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„Das Verhältniswahlrecht hat verhindert, daß die Staatsmaschine richtig funktionierte“, „Minister soll nur sein, wer imstande ist, sich persönlich einen Wahlbezirk zu erobern“, „die Wahlrechtsreform ist der Schlüssel, der das Tor einer besseren Zukunft aufschließt“ ... Solche und andere energische Worte fielen am 6. März 1949 in der Paulskirche zu Frankfurt am Main — dem einstigen Ort der Nationalversammlung von 1848. Bewußt der historischen Stätte, hatte sich eine tausendköpfige Menge versammelt. Sechs Redner, unter ihnen der ehemalige deutsche Reichskanzler, Reichsfinanzminister und Unterzeichner des Locarno-Paktes, Dr. Hans Luther, hatten sich mit Leidenschaft zur Mehrheits- und Personenwahl, gegen das Proporzwahlsystem bekannt. Die Versammlung faßte eine Entschließung, in der sie den Parlamentarischen Rat, der damals das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ausarbeitete, die Ministerpräsidenten der deutschen Länder und die Länderparlamente „in letzter Stunde“ aufforderte, die Frage des Verfahrens bei der Wahl zum Volkstag des Deutschen

Bundes einer Volksabstimmung zu unterwerfen und zum Gegenstand der Abstimmung die Alternativfrage zu machen, ob der Grundsatz der Mehrheits- oder der Verhältniswahl den künftigen Wahlgesetzen zugrunde gelegt werden solle.

Wahlrechtsreform? So kurz nach einem politischen Neubeginn? Hatte man sich denn über diese Probleme nach dem Zusammenbruch keine Gedanken gemacht? Man hatte es nicht getan — oder wenigstens nicht genügend. Mit dem Argument, daß 1946 in deutschen Ländern das Verhältnis- und Listenwahlrecht, ohne daß eine Diskussion stattgefunden hätte, verfassungsgemäß verankert worden sei, war im Mai 1947 die „Deutsche Wählergesellschaft“ an die Öffentlichkeit getreten und hatte einen temperamentvollen Kampf für eine Wahlrechtsreform begonnen, die das Personen- und Mehrheitswahlrecht auf verfassungsmäßigem Wege verwirklichen sollte.

Die Leitsätze, nach denen dieser Kampf geführt wurde, ergeben sich fast alle in dem Konzept Dolf Sternberger, des Gründers und Vorsitzenden der Wählergesellschaft: Das Prinzip, daß die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, könne nur durch das Verfahren der Mehrheitsentscheidung verwirklicht werden; das Pro-

portional- und Listensystem lasse in Wirklichkeit die Staatsgewalt vom Parteiapparat ausgehen. Nur der Entscheid für eine Person ist eine „Wahl“, alles andere nur „Stimmenzählung“. Mehrheitsund Personenwahl lockere die Struktur der Parteien, sprenge die Fesseln der „unwürdigen Fraktionsdisziplin“ und dulde nur eine Abhängigkeit: die der Abgeordneten von ihren Wählern und Wahlbezirken. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidung durch die Wähler verhindere fast immer bedenkliche parlamentarische Mehrheitskonstruktionen und ermögliche die Bildung handlungsfähiger Regierungen, die nicht bei jedem Schritt „durch die Klötze einer Koalition“ gehemmt werden.

Die Situation, die Sternberger vorfand, als er publizistisch für das Mehrheitswahlsystem zu werben und die Organisation der „Wählergesellschaft“ auf das ganze Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland auszudehnen begann, war für das Unternehmen günstig. Einmal waren die Menschen jenes politischen Herrschaftsapparats überdrüssig geworden, der in der Weimarer Demokratie

eine viel zu große Zahl von Parteien mit einem bürokratischen Mechanismus schuf und sich im Dritten Reich als Diktatur der einzigen noch erlaubten Partei manifestierte. Daher kam es, daß man allenthalben, auch bei Menschen, die sich nicht um Politik kümmerten, das Verlangen antraf, statt Listen Personen zu wählen, Abgeordnete, die man kennt und deren Tätigkeit im Parlament man beobachten und kontrollieren kann. Zum andern lagen aber auch die Einwände gegen die Verhältniswahl sozusagen im Zug der Zeit. Nach Kriegsende bestritt keine Partei, soweit ihr wahre Demokratie am Herzen lag, noch ernsthaft, daß der Proporz die Entwicklung kleiner, radikaler Gruppen begünstigt und deshalb in zunehmendem Maß demokratische Regierungen schwächt. Der Hinweis auf das Schicksal der Weimarer Republik verfehlte bei keiner Partei — mit Ausnahme der Kommunisten — seinen Eindruck, zumal die „Deutsche Wählergesellschaft“ in dem ehemaligen Reichskanzler Luther über einen erfahrungsreichen Mann verfügte, der publizistisch und in Kundgebungen als Zeuge auftrat dafür, daß die Verhältniswahl den Staat von Weimar zugrunde gerichtet habe. Seine Ansprache in jener Versammlung in der Paulskirche

stand unter dem Motto „Die Lehre der Vergangenheit“, und in diesem Sinne gab er auch sein Gutachten vor dem Wahlrechtsausschuß des Parlamentarischen Rates in Bonn ab.

In dieser Zeit, als das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beraten wurde (1948/49), entstand eine heftige Diskussion über die Wahlrechtsfrage, die der Wählergesellschaft einen ersten Höhepunkt ihres Wirkens brachte. Sie legte einen Gesetzentwurf für die Wahl zum ersten deutschen Bundestag vor, der die Mehrheitswahl in Einmannwahlkreisen vorsah und einen Alternativvorschlag für relative beziehungsweise absolute Mehrheitswahl enthielt. In erster Linie setzte sich die Gesellschaft, allerdings in Übereinstimmung mit der stärksten Partei, der Christlich-Demokratischen Union, für die relative Mehrheitswahl ein, also dafür, daß der Wahlkreiskandidat mit den meisten gültigen Stimmen als gewählt gilt, auch wenn er nicht die absolute Mehrheit (über 50 Prozent) erreichte. Die Wählergesellschaft wurde dann zu den Beratungen des Wahlrechtsausschusses zugezogen; Luther verwies vor den Abgeordneten in seinem Gutachten darauf, daß das Verhältniswahlrecht zur Herausarbeitung der Radikalismen rechts und links führt und in der Weimarer Republik das Ergebnis der Zustand der Brüning-Zeit war, „wo nur die negative Majorität aus rechts und links da war, aber keine Majorität mehr zum Regieren“. Kurz darauf erinnerte er in der Paulskirche daran, daß er als Reichskanzler dem deutschen Reichstag in einer verzweifelten parlamentarischen Situation zugerufen hatte: „Irgendwie muß Deutschland doch regiert werden!“

Diese unausweichliche Notwendigkeit, daß eben regiert werden muß, auch wenn ein nach dem Proporz gewähltes Parlament keine tragfähige Regierungsmehr-

heit mehr zustande bringt, v e r a n-laßte aber die Abgeordneten nicht, der Mehrheitswahl zuzustimmen. Obwohl führende Sozialdemokraten für diese eintraten (Hermann Lüdemann, Gustav Dahrendorf, anfangs auch Carlo Schmid), befürwortete die SPD schließlich doch nur ein „modifiziertes Verhältniswahlrecht“.

So wurde der erste deutsche Bundestag 1949 nach einem gemischten, durch Personenwahl „verbesserten“ Verhältniswahlverfahren gewählt: 2 4 0 Abgeordnete in Einmannwahlkreisen mit relativer Mehrheit} weitere 160 Abgeordnete wurden aus den Landes listen der Parteien ermittelt Das Wahlergebnis wich von einem nach reinem Proporz berechneten Ergebnis kaum ab, weil die Mandate den Parteien entsprechend deren Gesamtstimmenzahl zugeteilt wurden. Zwei große und acht kleine Parteien zogen ins Parlament ein. Zu einer Volksabstimmung über das Wahlverfahren war es nicht gekommen.

Inzwischen haben sich Sternbergers Anhänger bemüht, eine Änderung der Wahlgesetze der einzelnen Länder in ihrem Sinn herbeizuführen. Dabei zeigte sich, ähnlich wie bei den Auseinandersetzungen um das Wahlverfahren für den Bundestag, daß eine Mehrheit der Delegierten in verschiedenen Ländern bereit war, vom reinen Proporz- und Listensystem abzugehen und einen Teil der Landtagsabgeordneten persönlich mit relativer Mehrheit wählen zu lassen; daß man aber — von den christlichen Demokraten abgesehen — nicht bereit ist, auf die Ermittlung der Mandate im Verhältnis zur Gesamtstimmenzahl jeder Partei zu verzichten. Damit ist die entscheidende Forderung der Deutschen Wählergesellschaft unerfüllt geblieben, zumal sie die Vermischung der Verhältniswahl mit teilweiser Personenwahl als wesentlichen Fortschritt bestreitet. Sie scheint auch vorläufig keine Aussicht zu haben, ihr Ziel zu erreichen. Denn wo ist der Politiker, der bereit wäre, Mandatsverluste durch die Mehrheitswahl für seine Partei hinzunehmen — um einer für die Zukunft erwarteten Stärkung des Staates willen? Dazu ist der Kampf der auf dem europäischen Festland historisch herausgebildeten „Weltanschauungsparteien“ heute zu erbittert. Und hier liegt auch der eigentliche, wenn auch unausgesprochene Grund dafür, daß die Auseinandersetzung um die Wahlrechtsfrage in Westdeutschland bis jetzt ohne abschließendes Ergebnis geblieben ist.

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