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Um die neue Staats-Einheitsschule in Frankreich

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Frankreich steht gegenwärtig an einer Wende seines Schul- und Erziehungswesens, deren außerordentliche Reichweite geahnt, aber noch nicht ermessen werden kann. Selbst unter den Katholiken Frankreichs, den in erster Linie von den Veränderungen Betroffenen, bestehen darüber verschiedene Meinungen. Die Wende bedeutet in ihrem Ausgangspunkte: Fall der konfessionellen Privatschule, an ihre Stelle tritt die staatliche Einheitsschule, der die Katholiken eine Reihe von Verpflichtungen auferlegen.

Bisher war das1 Schulwesen dergestalt in zwei Typen geteilt, daß neben der religionslosen laizistischen Staatsschule ein reichgegliedertes System von „freien“ Privatschulen bestand, das auf der von dem französischen Gesetz garantierten Unterrichtsfreiheit beruhte, einer Konsequenz aus der Gedanken- und Redefreiheit, einem der unveräußerlichen Menschenrechte, in deren Geist die Grundgesetze der Ersten Republik entstanden sind. Neben einer kleinen Anzahl von protestantischen und jüdischen freien Schulen, gab es bisher 11.092 katholische Elementarschulen mit 1,200.000 Schülern, einem Viertel der Gesamtschülerzahl Frankreichs. Von den Mittelschülern Frankreichs besuchte rund die Hälfte — 265.000 — katholische Schulen. Das Bild des katholischen Privatschulwesens wurde ergänzt durch eine Reihe technischer und privater Handelsschulen mit zusammen 30.000 Schülern, und fünf katholischen Universitäten Frankreichs, die auch private Einrichtungen sind.

Die katholische Privatschule, aus privaten Mitteln finanziert, legte den Katholiken des Landes große Opfer auf; das hohe Schulgeld hatte die üble Folge, daß die Kinder der ärmeren Schichten der Bevölkerung der katholischen Privatschule fernblieben. Man sieht darin eine Ursache für die Entchristlichung breiter Massen des französischen Volkes, deren Jugend durch die religionslose laizistische Staatsschule gegangen war, und auch einen Grund dafür, daß die Verbindung von „klerikal“ und „bürgerlich“ fast als unlöslich, als naturgegeben angesehen und die Kirche zu einer „bourgeoisen“ Institution gestempelt wurde.

Fast unvermeidlich ist infolge dieser Verhältnisse die katholische Privatschule in Frankreich in den letzten Jahren in eine eigentliche Krise hineingeraten. .

Die äußerst schwierigen Verhältnisse während des Krieges hatten die Schulerhalter veranlaßt, bei der Regierung finanzielle Hilfe zu suthen und sie hatten diese auch von der Vichy-Regierung erhalten. Petain tat noch mehr: Er räumte den Privatschulen staatliche Anerkennung ein, erlaubte den geistlichen Orden nach vierzigjähriger Unterbrechung wieder offiziell zu unterrichten — stillschweigend war dies schon zuvor geschehen — und stellte dem Episkopat 600 Millionen Francs für Schulzwecke zur Verfügung, letzteres aus gutem Grunde. Die Schulen waren in schwerster Bedrängnis, ihre Einstellung hätte den Staat, der für raschen Ersatz nicht hätte sorgen können, vor eine schlimme Lage gestellt. Der Unterrichtsminister der Vichy-Regierung wollte sogar so weit gehen, den Religionsunterricht in den staulichen Schulen wieder einzuführen; aber hier weigerte sich die Kirche ihrerseits, die nötigen Lehrer zur Verfügung zu stellen. Sie war sich der Gefahr durchaus bewußt, durch die Verbindung mit dieser Regierung kompromittiert zu werden. Trotzdem ergaben sich Gegensätze: viele Katholiken waren wohl in der Widerstandsbewegung, viele aber haben sich auch, durch die Verpflichtungen gegenüber Petain gebunden, von dieser zurückgehalten. Gleich nach der Befreiung im November 1944 sind Studienkommissionen für die Schulfrage eingesetzt worden, die paritätisch waren und als Dank für die Opfer der „Katholiken der ,Widerstands-bewegung“ die Aussöhnung de? Staates mit der Kirche zu bezeichnen schienen. Aber diese Stimmung hielt kaum ein halbes Jahr, an; dann zeigte es sich, daß der alte Konflikt, noch zusätzlich belastet durch das Verhältnis eines Teiles der Katholiken zur Vichy-Regierung, wieder aufbrach. Am 5. Juli 1946 wurde den Privatschulen jegliche staatlidie Unterstützung gestrichen.

Für die Eltern der Privatschulkinder ergab sich so die Lage, daß sie durch ihre Steuern das Unterrichtsbudget des Staates mittrugen, daß sie aber für ihre Kinder nichts davon erhielten. Die 18 Milliarden Francs, die der Staat für Unterrichtszwecke aussetzte, gingen ausschließlich an die staatlichen Schulen. Es war klar, daß die Verhältnisse so nicht bleiben konnten. Aber das war auch das einzige, was klar war.

Die Zwiespältigkeit der Aspekte die sich bei dem Ringen um christliche Lebensgestaltung und Apostolat auf allen Gebieten (dem der Parteien, denTder Gewerkschaften usw.) zeigt, bestimmte auch auf dem Gebiet der S'chulfragen zwei verschiedene Haltungen. Der christlichen Gewerkschaft, der MRP entspricht die christliche Schule, die bewahrende und die christliche Atmosphäre rein erhaltende Absonderung. Dem Wagnis des Zusammenpralls mit der „Welt“, dem Mitleben mit den „anderen“ entspricht das Aufgehen der privaten Schulen in einer nationalen Einheitsschule, in der die junge Generation aller Färbungen miteinander lebt. Beide Seiten fanden leidenschaftliche Fürsprecher. Die Kardinäle und Erzbischöfe Frankreichs sprachen sich in ihrer Entschließung vom 13. März 1946 in Paris eindeutig für die Freiheit des Unterrichts, gegen ein S'chulmonopol aus; sie seien aber bereit, jede Lösung anzuerkennen, ' die ebensosehr die Rechte der Familie und der Kirche, wie die des Staates anerkenne. Eine solche Lösung setze hinreichende gesetzliche Garantien für die Wahl der Lehrer, ihre Ausbildung und die religiöse Erziehung der Kinder voraus. Von den Kanzeln ließ der Episkopat an seine im Februar-März 1945 erfolgten Kundgebungen erinnern, in denen er die Freiheit des Unterrichtes und das unveräußerliche Recht der Eltern, ohne einen Druck von außen, eine Schule für die Erziehung ihrer Kinder wählen zu können, mit Berufung auf die republikanischen Gesetze verlangt habe; er erhebe diese Forderung rein im Namen der wahren Mission des Staates; der tiefste Sinn des Krieges sei jedoch die Verurteilung des totalitären Staates gewesen.

Diese Gefahr eines staatlichen Totalitaris-mus wird in der Tat von vielen darin erblickt, daß die staatliche Einheitsschule ganz in die Macht des Staates, vielleicht einer einzigen herrschenden Partei fällt. In diesem Sinne hat auch der bedeutende französische Gelehrte E. G i 1 s o n Stellung genommen: Frankreich habe den Nationalsozialismus nicht bekämpft, um einem französischen Totalitarismus den Weg zu ebnen.

Viele Katholiken der Widerstandsbewegung, die die Verbindung der katholischen Schule mit Petain nicht vergessen haben und für die andererseits das Erlebnis der Einheit Frankreichs so stark gewesen ist, neigen trotz jener Gefahren zu der Lösung der S'chulfrage im Sinne der Einheitsschule. Es ist allerdings wahr, daß sich zwischen ihnen und dem französischen Klerus, ja selbst dem französischen Episkopat eine Kluft aufgetan hat, die immer noch breiter zu werden scheint. Wie die Situation für die katholischen Schüler bei einer Einheitsschule aussehen könnte oder sollte, zeichnete sich in dem Aufsatz „fiducation chretienne et lai'cisme scolaire“ von S. Gcrard in „La Vie Intellectuelle“ vom Februar 1946 ab.

Die Laienschule, so wurde da gesagt, verlangt ihrem Wesen nach eine weltanschauliche Ergänzung. Praktisch zu tun wäre etwa dies: Zuerst müßte eine Versöhnung mit der Laienschule im WüTen zum Frieden stattfinden. Dazu ist schon einiges geschehen. Dann sollten erzieherische Organisationen neben der Schule geschaffen werden. Ein guter Katechismus, lebendiger Kult, für ihre Aufgabe ganz speziell vorgebildete Seelsorger, besonders Universitätsseelsorger, sollten die religiöse Erziehung fördern. Hier ist neben gründlicher theologischer Bildung vor allem intensives christliches Leben nötig, um die zu gewinnen, die hohen nichtchristlichen Idealen folgen. Es darf sich für den Christen nicht darum handeln, sich an alte Einrichtungen zu klammern, sondern darum, aus dem tiefsten Wesen seines Glaubens heraus der Welt „die zugleich neue und zutiefst christliche Antwort zu geben, die sie erwartet“. Die bestehende laizistische Schule muß allerdings für den Christen annehmbar gemacht werden. GeYard macht dafür konkrete Reformvorschläge:

1. Neue Definition des Begriffes „Laienschule“.

2. Bildung einer Organisation aus allen geistigen Lagern, um das gemeinsame geistig Erbe aller festzustellen.

3. Festlegung der Grenzen der Laienerziehung, die eine andere, religiöse neben sich verlangt.

4. Gleichmäßige Zulassung von Gläubigen und Nichtgläubigen zum Lehrkörper.

5. Besondere Sorge für die geistige Freiheit auf den höheren Schulen.

6. Zuteilung der Lehrkräfte an die Schulen gemäß dem Geiste der durch sie betreuten Familien.

Mit solchen Vorschlägen und Argumenten verteidigen die Verfechter der Einheitsschule ihre Idee — Argumente, die allerdings nur für eine wirklich neutrale Schule, nicht für eine christentumfeindliche Laienschule gelten.

Die ersten Vorentscheidungen sind nun schon gefallen. Anfang September hat die Verfassunggebende Versammlung in Frankreich bei der Abstimmung über die Aufnahme des Rechtes auf Unterrichtsfreiheit in die Präambel der dem Volksentscheid vorzulegenden neuen Verfassungsvorlage mit 274 gegen 272 Stimmen gegen die Schulfreiheit entschieden, das heißt also gegen die Beibehaltung der katholischen Privatschule. Und am 13. Oktober erhielt dieser Verfassungsentwurf der „Vierten Republik“ mit einer geringen Mehrheit des französischen Volkes die verfassungsrechtliche Genehmigung. Mit dem Wortlaut des ersten Artikels der neuen Verfassung: „Frankreich ist eine unteilbare, 1 a i z i s t i s c h - d e m o-kratisch-soziale Republi k“, ist die konfessionelle Schule in Frankreich abgelehnt; der Staat erkennt nur mehr die Einheitsschule an. Freilich, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, wenn auch ein Hauptentscheid noch nicht gefallen ist. Der Staat ist noch gar nicht imstande, die rund 12.000 Privatschulen zu übernehmen. Und es wird jetzt darauf ankommen, in dem neuen gesetzlichen Rahmen die Forderungen der christlichen Bevölkerung auf Erziehungsfreiheit zu verwirklichen, das heißt, die laizistische Siule zu einer, wirklich neutralen umzugestalten, in der ihre Kinder keiner antireligiösen Propaganda ausgesetzt sind.

Der MRP fällt hier eine große Verantwortung zu. Nicht geringer ist die Verpflichtung, die außerhalb der Schule vom Seelsorger, katholischer Aktion und den Jugendverbänden zu lösen sein wird. Umstellungen und Neueinrichtungen in großem Ausmaße sind notwendig. Die nächsten Jahre werden alle gesunden Kräfte auf dem Plan rufen.

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