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Um die Schulen in Deutschland

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Überall, wo der Krieg wütete, hat die Schule schwere Verluste erlitten: Die Gebäude zerstört, beschädigt oder beschlagnahmt, Lehrmittel, Sammlungen und Schulbücher vernichtet, zahlreiche Lehrpersonen ausgefallen und die Schulgemeinden zerrüttet. Auch Österreich weiß von diesen Schwierigkeiten des Wiederaufbaus ein ernst Lied zu singen. Am unseligsten aber wurde das Schulwesen Deutschlands verheert. Durch Schuld und Verhängnis sind . hier die Zerstörungen noch größer und wilder als anderswo, vor allem jedoch leidet die deutsche Schule bis tief in ihren Kern hinein unter den geistigen und sittlichen Verheerungen der Vergangenheit. In wichtigen Teilen des Deutschen Reiches war die Schule schon Jahrzehnte vor Hitlers Machtergreifung in eine unglückliche innere Entwicklung gedrängt worden. Der Nationalsozialismus hätte nicht so leicht zur Macht kommen und nicht so lange trotz der Abneigung der Volksmehrheit an der Macht bleiben können, wenn nicht schon seit Generationen durch die Erziehung allmählich die Vaterlandsliebe, die alle Völker als Bürgertugend preisen, in einen Nationalismus umgedeutet worden wäre, der immer mehr Selbstüberschätzung und Mißachtung anderer Nationen in die jungen Herzen einprägte. Zwei andere Übel, die auf der Schule lasteten, waren der Kastengeist, der insbesondere im Norden des Landes vorherrschte, und die Schwächung der Schule durch zu weit getriebene Experimente, welche die Einheitlichkeit und Wirksamkeit der Bildungsarbeit beeinträchtigten. Die nationalsozialistische Schulpolitik verdarb, was an der Schule noch gesund geblieben war und der Mißbrauch der Schüler zu allen möglichen mehr oder weniger politischen Aktionen mußte die und die Lehrer erst recht den Wesensaufgaben der Schule entfremden. So wurde die Geistesbildung einer ganzen Generation allzusehr vernachlässigt und ihr Urteilsvermögen verhängnisvoll geschwächt.

Daher ist es begreiflich, daß die Besatzungsmächte der Neugestaltung des Schulwesens ihre besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Weil die Meinungen ihrer Beobachter nicht einheitlich waren und die in Washington eintreffenden Berichte einander nicht selten widersprachen, entsandte die Regierung der Vereinigten Staaten eine Studienkommission von Fachleuten, die sich drei Wochen lang in der USA-Zone Deutschlands aufhielt. Nun liegen Mitteilungen über ihren Bericht vor, der wegen seiner allgemeinen Bedeutung auch außerhalb Deutschlands hohes Interesse verdient.

„Viele der Schulen, die von Feuer und Bomben verschont blieben, wurden für andere Zwecke beschlagnahmt und stehen für den Unterricht nicht zur Verfügung. Eine ungeheure Menge von Schulbüchern ist vernichtet, es mangelt an Papier, Kohle, Fensterglas ... Zu der normalen Zahl der Schüler kommen die Schulpflichtigen der Displaced Persons und der Umgesiedelten.“ Dieser Hinweis des Berichtes auf die materielle Schulnot ergänzt Staatssekretär William B e n t o n in dem Schreiben, mit dem er den Bericht der Experten an seinen Minister Byrnes weiterleitete, mit einigen Daten über die nicht zuletzt durch die Entnazifizierung entstandene Lehrernot:

„In Bayern kommen im Durchschnitt auf eine Lehrkraft 83 Schüler. Das Durchschnittsalter aller Lehrer in Groß-Hessen ist 52 Jahre. Jedes Schulkind genießt im Durchschnitt wöchentlich nur 15 bis 20 Unterrichtsstunden, in vielen Fällen sogar täglich nur zwei Stunden. Trotzdem besuchen alle schulpflichtigen Kinder — mit Ausnahme der noch nicht aufgenommenen ausgewiesenen' (aus der Tsche-choslawakei und Ungarn) — die Schule und die amerikanische Abordnung kam zur Meinung, daß das Schulwesen ,mit ziemlich guten Erfolg' funktioniert.“

Den Vorschlägen für die Reform der Schule wird der Satz vorausgeschickt: „Das Umerziehungsprogramm muß die Folgen der zwölfjährigen Naziherrschaft und der gänzlichen Niederlage Deutschlands berücksichtigen.“

Die Washingtoner Regierung ist sich bewußt, welche schwierige Aufgabe diese Schulreform für sie bedeutet. William Ben-tea erklärt offen:

„Die Aufgabe, die Erziehung eines hochentwickelten, uns aber fremden und in einer so großen Entfernung von uns lebenden Volkes zu leiten, stellt ims vor

Fragen, in denen wir bisher keine Erfahrungen besitzen. Wir sind den Männern und Frauen, die es auf sich nahmen, dieses noch ganz neue Gebiet zu stud'eren, zu tiefstem Dank verpflichtet ... Demokratie kann ihrer eigensten Natur gemäß niemandem aufgezwungen werden. Methoden eines Goebbels würden, selbst wenn wir bereit wären, sie anzuwenden, unserem Ziel nur schaden. Nidysdestoweniger haben wir, solange die letzte Entscheidung bei den Vereinigten Staaten liegt, auch die Verpflichtung, darauf zu achten, daß das deutsche Volk sein Unterrichtswesen zu seinem Wohle verwendet. Unsere Hauptmethoden werden die B e r a-tung, die Ermutigung und das Beispiel sein. Wir werden jede uns mögliche Hilfe leisten.“

Die Reformvorschläge der Studienkommission wenden sich in erster Linie gegen das Kastenwesen und befürworten ein für ganz Deutschland einheitliches Erziehungssystem, das unentgeltlich sein und allen Schichten des Volkes gleichermaßen offenstehen und an dessen Spitze eine zentrale Schulkommijsion stehen solle. Die Abordnung rät, eine an die Elementarschulen anschließende kostenlose Mittelschulbildung solle weitgehend auf das Berufsleben vorbereiten; auch das Studium an den Hochschulen solle auf viel breitere Grundlage gestellt werden. Wörtlich sagt der Bericht: „Die Elementar-, Mittel- und Berufsschulen sollen zu einem umfassenden einheitlichen Schulsystem für alle Kinder und Jugendliche bis zur Hochschulreife zusammengefaßt werden. Diese Schule wird unentgeltlichen Unterricht erteilen, so daß die Teilnahme nicht mehr auf eine privilegierte Klasse beschränkt ist. Der in den Elementar- und Mittelschulen einheitlich gestaltete Lehrplan wird Gelegenheit zur gesteigerten Spezialisierung bieten. Die Studierenden sollen sich in bedeutend höherem Maße als bisher aus allen Gesellschaftsschichten rekrutieren. Vor allem sind finanzielle Unterstützungen für m X nderbemittelte, begabte junge Mensdien vorgesehen.“

In seinem Schreiben bemerkt Staatssekretär B e n t o n, daß für die Amerikaner der Begriff „Gleiche Unterrichtsmöglichkeit für alle“ eine Selbstverständlichkeit bedeute, gibt jedoch zu: „Auch wir in den Vereinigten Staaten haben das Ziel gleicher Ausbildungsmöglichkeiten für alle noch nicht ganz erreicht, aber wir sehen es vor uns und sind ihm bedeutend nähergekommen.“

Der Kenner der Verhältnisse wird bestätigen, daß die amerikanische Kritik an dem Eindringen des preußischen Kastengeistes in das Schulwesen Deutschlands zutreffend und die Forderung seiner Demokratisierung begründet ist. Daß es nicht ratsam sei, Schuleinrichtungen eines Landes auf ein anderes Land zu übertragen, hat Staatssekretär Benton selbst hervorgehoben. Als die nationalsozialistischen Schulmänner des Deutschen Reiches 1938 nach Österreich kamen, entdediten sie die H a u p t s c h u ! e und die zur Ergänzung des Schulwesens in den kleinen Landgemeinden bestimmte Horner Aufbauschule. Ungewöhnlich begeistert von diesen modernen, fortschrittlichen und leistungsfähigen österreichischen Schultypen, veranlaßten sie Hitler, pathetisch zu verkünden: Die Hauptschule und Aufbauschule werden auf ganz Deutschland ausgedehnt! Die Österreicher lächelten über diesen Mangel an Wirklichkeitssinn. Wie will man denn einen Schultypus, der unter bestimmten sozialen, kulturellen und volkspsychologischen Bedingungen in einem Lande organisch gewachsen ist, auf ein anderes Land übertragen, dem alle diese Voraussetzungen fehlen? Nach einem halben Jahr mußten die amtlichen Parteiblätter des Dritten Reiches kleinlaut zugeben, daß die Übertragung der österreichischen Schulen auf die deutschen Verhältnisse nicht möglich sei.

Ein kurzer Aufenthalt der amerikanischen Studienkommission in Österreich bot Gelegenheit, Informationen über den derzeitigen Stand des amerikanischen Schulwesens zu erhalten. Die Entwicklung ist nicht in allen Teilen der Union einheitlich. Es gibt Staaten, die eine gesetzliche Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr vorgeschrieben haben, und manchenorts ist sogar von der Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr die Rede. Neben den öffentlichen Schulen gibt es zahlreiche Privatschulen. Von beiden ist der Übertritt an die Hochschule möglich. Vergleiche der amerikanischen Hochschulen mit den europäischen sind bekanntlich nur unter Berücksichtigung ihrer wesentlichen Unterschiede zulässig. Das gilt audi für die Schule im allgemeinen, die in diesem jüngsten und reichsten Lande der Welt eine höchst eigenständige Entwicklung nehmen konnte.

Sosehr Kommissionen und Staatssekretär dafür eintreten, daß erprobte amerikanische Erziehungsmethoden auf die Bildung der Jugend sowie der Erwachsenen in Deutschland angewendet werden, warnt Benton vor der Gefahr, „daß auch einige nachteilige Einrichtungen des amerikanischen Erziehungslebens in blinder Anpassung an amerikanische Methoden von Seiten der USA-Beamten oder der deutschen Pädagogen übernommen werden. Wir wollen unsere Erziehungsmethoden nicht in allen Einzelheiten in Deutschland einführen, ein solches Verfahren ist gar nicht notwendig.“

Die kluge und vorurteilsfreie Haltung der amerikanischen Fachleute erwies sich auch, als sozialistisdi; Kreise versuchten, eine Äußerung der Studienkommission gegen die konfessionelle Schule herbeizuführen. In Deutschland wurden und werden bekanntlich die konfessionellen Schulen aus öffentlichen Mitteln erhalten. Obwohl die Verfassung der Vereinigten Staaten Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln an konfessionelle Schulen nicht zuläßt, beschloß die Kommission, das traditionelle Recht und vor allem die auf demokratischem Wege zustandegekommenen Mehrheitsbeschlüsse der Eltern zugunsten der konfessionellen Schulen anzuerkennen.

Das neue deutsche Schulwesen, heißt es sodann im Beridite, soll in allen Phasen so organisiert werden, daß es Gelegenheit bietet, Erfahrungen im demokratischen Leben zu sammeln und daß es auch die Bedürfnisse der Kinder unter sechs Jahren sowie der schulpflichtigen Kindt r während ihrer Freizeit berücksichtigt. Staatssekretär Benton lenkte die Aufmerksamkeit seiner Regierung auf den Vorschlag, jährlich etwa 2000, 3000 oder 4000 deutschen Studenten und Lehrern einen längeren Studienaufenthalt in den

Vereinigten Staaten zu ermöglichen und überhaupt eine engere Fühlungnahme zwischen Schülerschaft und junger Intelligenz in den Vereinigten Staaten und in Deutschland zu pflegen.

Das Schreiben des Staatssekretärs Benton schließt mit einer sehr ernsten Hervorhebung des Einflusses der Umwelt auf die Erziehung. Von den sozialen und wirtschaftlichen Faktoren werde es vor allem abhängen, ob sich das deutsche Volk die demokratischen Grundsätze und eine demokratische Haltung zu eigen macht. Der Bericht beklagt es, daß die Schulkinder in der amerikanischen Zone nur eine durchsdinitt-lidhe Tagesration von 1260 Kalorien erhalten! Die männliche Bevölkerung über 18 Jahre sei zusammengeschmolzen und gehöre meist den älteren Jahrgängen an. Die Produktion stecke noch in einem Bruchteil ihrer Vorkriegsleistung. Die Folgen der Unterernährung, der Zerstörungen, des Mangels an Wohnungen, Kleidung usw. für die Erziehung ergeben sich von selbst. Daher müsse die kulturelle und moralische Umerziehung mit den Maßnahmen zur Stabilisierung der deutschen Friedenswirtschaft, zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit und der Selbstachtung des Volkes Hand in Hand gehen. Nur als Bestandteil eines umfassenden Programmes für die Wiedergenesung des deutschen Volkes, erklärten die Experten, kann eine Umerziehung zur Wirkung kommen. F a b e r

Ich glaube, es ist die erste und heiligste Pflicht des Staates, daß er die Menschen zu eigentlichen Menschen mache, dies tut aber nur Unterricht und Erziehung. Ohne diesen bleibt oder wird die Menschheit verv/ildert und zerstört sich selbst.

Adalbert Stifter: .Mittel gegen den sittlichen Verfal' der Völker“ — 1849

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