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Um Mitteleuropas Antlitz

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Fast auf den Tag genau fünf Jahre, nachdem im Cäcilienhof in Potsdam Stalin, Truman und Attlee zur Ansicht gelangt waren, daß „eine Überführung der deutschen Bevölkerung oder deutscher Bevölkerungselemente, die in der Tschechoslowakei geblieben sind, nach Deutschland vorgenommen werden muß“, traf über London die Nachricht ein, daß zwischen tschechischen und sudeten-deütschen Politikern im Exil ein Übereinkommen getroffen wurde, das die Massenaustreibung der Sudetendeutschen als Unrecht brandmarkt, ihre Rückführung in die alte Heimat in Aussicht stellt und volle Wiedergutmachung zusichert.

Das seit einem Jahrhundert immer schwieriger und komplizierter gewordene deutsch-tschechische Verhältnis ist auch heute nicht auf einen einfachen Nenner zu bringen, etwa so, daß die kommunistischen Machthaber in Prag die Deutschenfeinde schlechthin, der in die Emigration getriebene Teil des tschechischen Volkes aber der versöhnliche und deutschfreundliche sei. Die tschechischen Kommunisten haben — inwieweit freiwillig, bleibe allerdings dahingestellt — ihre nationale chauvinistische Haltung von 1945 längst abgelegt: die Wiederverleihung der Staatsbürgerschaft an die im Lande verbliebenen Magyaren und Deutschen, die mehr als freundschaftlichen Beziehungen zur ostdeutschen Volksrepublik, ja das Auftauchen bekannter sudetendeutscher Persönlichkeiten an führender Stelle der KPC und des tschechischen Staatsapparates zeichnen diese Entwicklung sehr deutlich ab. Andererseits zeigt die Haltung zahlreicher Männer der tschechischen Emigration, die seinerzeit maßgeblich an der Deutschenaustreibung mitgewirkt haben und nacheinander Förderer, Mitarbeiter und schließlich Opfer der Kommunisten geworden waren, daß sie ihre nationale Unduldsamkeit mit ins Exil genommen haben; und während sie alles, was in der Tschechoslowakei geschieht und ge-sdiehen ist, in Acht und Bann tun, wollen sie vielfach an der vollzogenen Deutschenaussiedlung als einer unabänderlichen Tatsache festhalten. Umgekehrt war auf deutscher Seite die Vertreibung aus der Heimat, die sich nur zu oft unter den fürchterlichsten Begleitumständen abspielte, häufig £Jr-sache für das Aufflackern eines neuen, nach Rache und Vergeltung verlangenden Radikalismus.

Es gehörte also für die Partner an beiden Seiten des Verhandlungstisches viel Mut dazu, über die hochaufgerichteten Barrieren hinweg ins Gespräch, tu einer Annäherung, ja darüber hinaus xu einer Einigung zu gelangen, Mut vor allem gegenüber den eigenen Reihen, aus denen nur allzu schnell der Vorwurf der Preisgabe nationaler Interessen erhoben wurde.

\ Und doch kommt das Abkommen nicht ganz überraschend. Schon am 12. Juni 1945, also fünf Wochen vor Beginn der Potsdamer Konferenz, hatte das Sprachrohr des tschechischen Nationalausschusses in London, „Czech Preß Service“, gegen die an den Deutschen verübten Grausamkeiten protestiert, welche die aus der Emigration nach Prag zurückgekehrte Regierung ausgelöst hatte; im September 1948 setzte sich der Londoner „Cesky boj“ (The Czech Struggle), das Organ der Gruppe um General Prchala, in einem umfangreichen Artikel mit dem Problem .Tschechen und Deutsche“ auseinander; 1950 erschien in der von der tschechischen nationalen Gruppe in Deutschland herausgegebenen Schriftenreihe „Die Probleme von heute“ die Broschüre des Universitätsprofessors Dr. Jar. Hrazsky über „Das tschediisch-deutsche Problem“, die unter anderem zu der Feststellung gelangt, daß für die an den Tschechen zur Zeit des Protektorats begangenen Verbrechen immer nur einzelne Deutsche, nicht aber die sudetendeutsche Volksgruppe als solche verantwortlich zu machen sei. Für ein künftiges erträgliches Zusammenleben beider Völker werden hier folgende Vorschläge gemacht: Die Bevölkerung soll in ihre alten Siedlungsgebiete nach dem Stand vom 1. Jänner 1938 zurückkehren, die Verfassung des neuen Staates soll demokratisch und föderalistisch gestaltet werden, und zwar in Anlehnung an den Mährischen Ausgleich von 1905, wobei jeder Nation ihre eigene Vertretungskörperschaft mit weitgehender Selbstverwaltung zugedacht ist. Die Geschehnisse von 1938 bis 1948 sollen von einer gemischten tschechisch-sudetendeutschen Kommission mit einem neutralen Vorsitzenden, zum Beispiel einem Iren, Portugiesen oder Schweden überprüft werden und begangene Verbrechen von den ordentlichen Gerichten bestraft werden.

Die Lage der Sudetendeutschen unterscheidet sich grundlegend von der der tschechischen Emigranten: hier sind nicht nur Bruchteile des Volkes, im wesentlichen Politiker, ins Exil gegangen, sondern das Volk in seiner Gesamtheit wurde über die Grenzen seiner alten Heimat getrieben. Der Kampf um die nackte Existenz hat lange alle Kräfte beansprudit. Der erste markante Ansatzpunkt, die Gestaltung des eigenen Schicksals nicht dem Zufall oder der jeweiligen Konstellation der Mächte zu überlassen, war im Vorjahr die sogenannte „Adventsdeklaration“ von Eichstädt; sie fiel nicht nur durch ihre besonnene und maßvolle Sprache auf, durch jeglichen Verzicht auf Vergeltung und die klar ausgesprochene Erkenntnis, daß das Vordringen des Bolschewismus nicht durch die Angst der Völker Mittel- und Osteuropas vor Kollektivrache beschleunigt werden dürfe. Nicht minder auffallend waren die Unterschriften, die unter dieser Erklärung standen: Politiker aller ehemaligen Parteien und Gruppen hatten sich zu ihr bekannt. Die Deklaration, die deutlich von einer staatsgebundenen oder territorialen Lösung im gesamtdeutschen Sinne abrückt, erinnert ausdrücklich an die „uralte Schicksalsverbundenheit der Donauvölker“ und nimmt diese zum Vorbild für die Neugestaltung Mitteleuropas. Eine Erweiterung dieser Grundsätze auf alle in Deutschland lebenden Vertriebenengruppen war schließlich die „Charta der Heimatvertriebenen“, die am 6. August 1950, dem „Tag der Heimat“, in Stuttgart verkündet worden war.

Und als am gleichen Tag in Straßburg die Sitzungen des Europarates ihren Anfang nahmen, da befand sich unter den hier erstmalig anwesenden deutschen Delegierten auch ein Vertreter der Heimatvertriebenen, Hans Schütz, der einstige Abgeordnete der deutschen christlichsozialen Volkspartei im Prager Parlament, einer der Mitunterzeichner der Eichstädter Deklaration wie des tschechisch-sudetendeutschen Abkommens vom 4. August.

Mit welchem Ernst Schütz seine Straßburger Mission auffaßt, zeigt ein Ausspruch vor seiner Abreise: „Gerade die Heimatvertriebenen sind es doch, die unter dem Mangel an Solidarität unter den Völkern zu leiden haben und daher ganz besonders von der Sehnsucht nach europäischem Zusammenleben erfüllt sind. Sie sind daher geradezu prädestiniert, die besten Europäer zu werden.“

Wenn ein neutraler Kommentator der Eichstädter Deklaration feststellen konnte, daß sie „den Sudetendeutschen Ehre macht und von ihr nicht nur ihre Schicksalsgefährten, sondern auch die Großen dieser Erde viel Gutes lernen könnten“, so kann dieses Urteil wohl auch auf das nunmehrige zweiseitige Abkommen zwischen Tschechen und Sudetendeutschen ausgedehnt werden. Europas ärmste Söhne gaben damit ein nachahmenswertes Beispiel.

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