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Umrisse der neuen tschechischen

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Fast alle europäischen Staaten, die während des Krieges von Hitlers Armeen besetzt waren, haben 6eit ihrer Befreiung und der Wiederaufrichtung der demokratischen Ordnung ihren Völkern neue Verfassungen gegeben, in denen sich die großen politischen und sozialen Veränderungen widerspiegeln sollen, die der Krieg über unseren Kontinent gebracht hat. Auch die Tschechoslowakei hat am 26. Mai 1946 eine Nationalversammlung gewählt, der sie die Aufgabe übertrug, innerhalb zweier Jahre eine neue Konstitution zu schaffen. Von diesen Arbeiten hat man im Ausland im Trubel der großen Ereignisse wenig vernommen. Bis zu den Februarereignissen war zwischen den Parteien lediglich in einigen sekundären Fragen eine Einigung erzielt worden — die Grundprobleme des staatlichen Neubaues, also die territoriale Gliederung, die Rechte der Slowaken und bestimmte Wirtschaftsfragen, wurden jedoch erst in den letzten sechs Wochen in kommunistischem Sinn gelöst. So gelang es nach Ausschaltung der drei Parteien, die neue Verfassung gerade noch im letzten Augenblick fertigzustellen und ihre Proklamation zum dritten Jahrestag der Wiedererrichtung der Tschechoslowakei zu ermöglichen. Lange Zeit war man sich im unklaren darüber ge- gewesen, als ob man eine völlig neue Konstitution ausarbeiten oder einfach an die alte anknüpfen solle. Vor allem die Kommunisten wollten von der Anlehnung an die Verfassung von 1920 nichts wissen. Tatsächlich weicht das neue Verfassungsgesetz sehr erheblich von dem alten ab, wenn auch die Grundlinien an' die Vorgängerin dieser Konstitution erinnern.

Schon der Begriff des Staatsvolkes wird diesmal wesentlich anders deJiniert. War in der Präambel der alten Verfassung von der „tschechoslowakischen Nation“ die Rede, so wird im ersten Kapitel der neuen Konstitution von einem „einheitlichen Nationalstaat zweier gleichberechtigter, unzertrennlich verbundener Völker, der Tschechen und Slowaken“, gesprochen. Diese Formulierung entspricht nicht nur dem Abkommen von Košice, in dem die Tschedien zum ersten- thal die Existenz zweier Nationen anerkannten, sondern auch den gründlichen Er fahrungen, die man in der Zeit vor 1938 mit der falschen Fiktion eines einzigen tschechoslowakischen Volkes gemacht hat. Allerdings ergab sich wegen dieses Textes eine lebhafte Debatte, als nämlich der frühere

Justizminister Dr. Derer, ein Slowake, geltend machte, die Anerkennung zweier Völker könne das eine oder andere auf Grund des Naturrechtes auch zur Lostrennung vom gemeinsamen Staat fuhren. Derers Worte veranlaßte die Mehrheit mit der Einfügung der Worte „unzertrennlich verbunden" einen die Staatseinheit schützenden Riegel vorzuschieben. Man erinnert sich an ein historisches Vorspiel. Wenige Jahre, bevor die Habsburgermonarchie zerfiel, erhielt das österreichisch- ungarisefte Doppelwappen, das an Stelle der alten heraldischen Staatsrepräsentation trat, die beide Wappen umschließende Devise: „Indivisibiliter ac inseparabiliter“... Auch die Wahlrechtsgrenze ist in der neuen Verfassung viel tiefer als in der alten. Das Recht zu wählen hatten früher alle, welche das 21. Lebensjahr vollendet hatten — diesmal werden auch schon die Achtzehnjährigen das aktive Wahlrecht besitzen. Das passive Wahlrecht wurde nodi radikaler herabgesetzt: von 30 auf 21 Jahre.

Die neue Volksvertretung der Tschechoslowakei wird nur eine Kammer (mit 300 Abgeordneten) haben. Die Auflassung des Senats, dieser . „erlauchten Pensionsanstalt" für ausgediente Parteigrößen, beseitigt nur eine Körperschaft, die auch nur wieder nach dem Parteischlüssel zusammengesetzt war und nur nicht dieselben. Redite besaß wie das Abgeordnetenhaus. Vorschläge, die den Senat in eine Wirtschaftskammer oder in einen Staatsrat umgewandelt wissen wollten, scheiterten am Widerstand der Linken.

Eine besondere Stellung nehmen in den Verhandlungen über die neue Verfassung auch die Volksausschüsse (Ndrodni Vybory) ein. Ihre Verankerung in der neuen Konstitution stellt eine Neuheit dar. Sie entspricht dem Verlangen, daß das Volk die durch Vermittlung seiner Abgeordneten im Parlament beschlossenen Gesetze selbst durch seine Vertreter in den Volksausschüssen ausführen oder deren Durchführung überwachen solle. Die Volksausschüsse werden d i e ausführenden Organe der Staatsgewalt in den Gemeinden, Bezirken und Gauen sein, die bisherigen Bezirkshauptmannschaften, die man noch aus der alten Monarchie übernommen hatte, werden künftig den Volksausschüssen unterstellt sein.

An der Stellung des Staatspräsidenten wurde' nichts geändert. Vor zwanzig Jahren hatte man eine Mittellösung zwischen den weitreichenden Befugnissen des Präsidenten der USA und der ausschließlich repräsentativen Funktion des französischen Staatsoberhauptes erstrebt. Tatsächlich ist die Funktion des tschechoslowakischen Staatspräsidenten seit 1918 weit mehr eine formale, denn eine initiative- gewesen. Im Gegensatz zu dem Prinzip einer möglichst starken Anteilnahme des Volkes an allen Entscheidungen steht die Tatsache, daß das Staatsoberhaupt auch weiterhin nicht durch das Volk gewählt werden wird.

Das zweite Kapitel der neuen Verfassung handelt von den Freiheiten, Rechten und Pflichten der Staatsbürg e r. Bei den Verhandlungen über diese Absätze verlangte der Vorsitzende des Verfassungsausschusses Dr. John die Aufnahme einer staatlichen Garantie über die persönliche Freiheit, nämlich daß „der Staat verpflichtet sei, diese zu schützen, zu sichern und nicht zu verletzen.“ Der kommunistische Berichterstatter Dr. VI. Prochäzka ließ jedoch nur eine allgemeine Wendung über den Schutz der bürgerlichen Freiheiten zu.

Von irgendwelchen Rechten der nationalen Minderheiten wird in der neuen Konstitution keine Rede mehr sein. Man soll offenbar auch für die Zukunft weder den 2 0 0.0 0 0 Deutschen, die nachweisbar als Facharbeiter im Lande sind, noch den mehr als doppelt so zahlreichen Ungarn Schulen, Zeitungen und

Vereine zubilligen. Mehr Sorgen machen freilidi die slawischen Minderheiten der Rusinen und Russen in der Ostslowakei (über 90.000) und der Polen in Ostschlesien (rund 80.000), deren Rechte man zwar gern sichern möchte, ohne bisher den Weg zu finden, auf dem man die gleiche Behandlung der Ungarn umgehen könnte.

Die größten Probleme des neuen Doppelstaates ohne Bindestrich waren lange Gegenstand von intimen Verhandlungen. Die Slowaken ließen die Prager Regierung nicht im unklaren, daß sie die im Programm von Košice vorgesehenen Institutionen des slowakischen Nationalrates (eines Landtages) und der Landesregierung auch in der neuen Verfassung zu sehen wünschen, ebenso auch ihr Vetorecht zu allen Verfassungsgesetzen als Garantie gegen eine Majorisierung durch die Tschechen. Doch von alledem ist in der neuen Verfassung wenig übriggeblieben. Alle drei bisherigen Neuregelungen der Kompetenz- bereichjc zwischen der Prager Regierung und dem Preßburger Landesgubernium Waren für letzteres mit Verzichten verbunden. Obwohl der Vertrag von Košice den slowakischen Nationalrat als „Träger der staatlichen Gewalt auf dem Territorium der Slowakei“ bezeichnet, hat sich die Prager Regierung das Recht erkämpft, darüber zu entscheiden, welche Novellen zu slowakischen Verordnungen gesamtstaatlichen und welche nur slowakischen Charakter haben. Ing. Kornel Filo, ein demokratischer Politiker, der inzwischen auf Verlangen der Kommunisten aus der slowakischen Landesregierung ausgebootet worden ist, hat vor einem Jahr in einem vielbesprochenen Artikel eine trialistische Lösung des staatlichen Zusammenlebens der beiden Völker vorgeschlagen und die Tschechen davor gewarnt, die „natürlichen staatsrechtlichen Bedürfnisse der Slowakei auf bloße verwaltungsrechtliche Notwendigkeiten einer Dezentralisierung zu vermindern“. Seine Vorschläge sahen drei Länder (Böhmen, Mähren, Slowakei) vor, die eigene Landtage (mit genau umgrenzter gesetzgebender Gewalt) und Landesregierungen erhalten, die in Landesangelegenheiten dem Landtag, in staatlichen Dingen dem Parlament und der Zentralregierung verantwortlich sein sollten. Allen diesen und ähnlichen Autonomieplänen haben die Kommunisten ihre Forderung, den Staat in Gaue aufzugliedern, entgegengesetzt. Kommt es tatsächlich zu einem solchen Staatsumbau, so würde die Konstituierung von Gauen, besonders in Böhmen und Mähren, eine Reihe völlig neuer Mittelpunkte der unteren Verwaltung bilden. Allein für die vorgesehenen fünf mährischen Gaue würde ein jährlicher Kostenmehraufwand von einer halben Milliarde Tschechenkronen gegenüber den bisherigen Verwaltungskotten beansprucht werden. Die Beamtenschaft müßte für die Gauverwaltungen um mehr als 100 Prozent vermehrt werden. Es steht .noch nicht fest, ob man die neue Verfassung einem Plebiszit unterbreiten wird oder ob über sie nur die Abgeordneten entscheiden werden. Sie ist jedenfalls die letzte Chance eines nun dreißig Jahre dauernden Experiments, zwei verwandte und doch grundverschiedene Völker wie das tschechische und slowakische unter einer Staatshoheit zu vereinigen.

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