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Umsiedlungspolitik im zweiten Weltkrieg

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Anfang Oktober 1939, kurz nach Ausbruch des Krieges, kündigte Hitler in einer Reichstagsrede das Programm einer „besseren und dauerhaften Neuordnung“ an. Durch eine Umsiedlung der Nationalitäten sollten „klare ethnographische Verhältnisse“ erreicht werden. Die Rückführung der aus dem Auslande umzusiedelnden Reichs- und Volksdeutschen wurde Heinrich Himmler, dem sogenannten „Reichsführer SS“ übertragen. In seine Hände wurde auch die Gestaltung der „neugewonnenen Siedlungsräume“ gelegt, ebenso wie ihm die Behandlung der fremden Bevölkerungsteile oblag.

Die Volksdeutsche Tragödie konnte beginnen.

In Berlin entstand zu der Unzahl schon bestehender hoher und höchster Behörden eine neue Dienststelle: „Der Reichsführer-SS, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“. Die Aussiedlung und „Heimholung“ wurde der Volksdeutschen Mittelstelle unter Leitung des SS-Obergruppenführers Lorenz, die Neuansiedlung unmittelbar oder mittelbar den Höheren SS- und Polizeiführern der in Frage kommenden Gaue übertragen. Die Persönlichkeit dieses Obergruppenführers, der durch seine und seiner Dienststelle Tätigkeit zum Totengräber hunderttausender Menschen werden sollte, verdient es, kurz geschildert zu werden. Lorenz war unter allen bekannten Größen des Dritten Reiches sicher die unfähigste. Obzwar seine geistigen Mängel in Berlin bekannt waren, wurde er gehalten. Wie man erzählt, von Himmler wegen seiner Ungefährlichkeit, von Göring, weil er ein guter Jäger war, von Hitler, weil er kleine Anekdoten heiter zu erzählen wußte. Und diesem Manne übergab man die Obsorge des Schicksals von Millionen im Ausland lebender Deutscher, ihn ließ man die Umsiedlungen durchführen und ihm, der kein Fremdwort ohne harten preußischen Akzent auszusprechen imstande war, übertrug man die Leitung aller deutschzwischenstaatlichen Vereinigungen. Das war für die Verantwortungslosigkeit; mit der man „Volkspolitik“ machte, schlechthin bezeichnend. •

Lorenz zur Seite stand der brutale SS-Gruppenführer Behrends, der sich später in Serbien einen noch traurigeren Namen machen sollte.

Die Umsiedlung beginnt

Im Oktober 1939 schloß Deutschland mit den beiden kleinen Ostseestaaten Estland und Lettland Verträge über die Rücksied-lung der Baltendeutschen. Diese mußten ihre Liegenschaften im Stiche lassen, ihr bewegliches Habe konnten sie im beschränkten Umfange mitnehmen. Gegen 50.000Deutsche aus Lettland und 16.000 aus Estland wurden in Lager gebracht und schließlich, hauptsächlich im Wartheland, in gewaltsam entpolonisierten Orten angesiedelt. Vor Ausbruch des Krieges gegen die Sowjetunion wurden weitere zehn-tausende Balten aus allen drei Ostseestaaten umgesiedelt.

Im November 1939 wurden aus ehemals polnischen Gebieten die Wolhynien-, Galizien- und Narewdeutschen ins Reich umgesiedelt. In winterlichen Wanderungen zu Fuß und auf Pferdewagen wurden auch sie in den Warthegau gebracht und auf polnischen Höfen angesiedelt, deren Eigentümer vertrieben worden waren.

Im Gegensatz zu den Balten waren es zu vier Fünfteln Kleinbauern, stammlich pfälzischer, schlesischerj egerländischer und bei den Wolhyniern auch sächsisch-niederdeutscher Herkunft. In Galizien waren es 60.000, in Wolhynien noch wesentlich mehr und im Narewgebiet nicht viel weniger Volksdeutsche, die in eiskalten Nächten unter deutschen Umsiedlungskommanden zum Marsch nach dem Westen antraten. Sie haben ihre neue Heimat nur wenige Jahre bevölkert und sind dort eigentlich immer nur eine Art Staatsbürger zweiter Klasse gewesen, billige Rekruten für die Kriegführung. Die Kolmer und Lubliner Volksinseln folgten wenig später, wobei nicht vergessen werden soll, daß auch zwei, 1617 am Bug gegründete Holländerdörfer, die seit mehr als einem Jahrhundert im Polentum aufgegangen waren, zur Abwanderung gezwungen wurden. Die Völkerwanderung aus dem Südosten

Im Herbst 1940 setzte in der nördlichen Bukowina und aus Bessarabien eine neuerliche Aktion n. 90.000 Bessarabien-Deutsche und 45. 000 Deutsche aus der Bukowina verließen, überredet oder auch genötigt, ihre fruchtbaren Böden, um unter großen Schwierigkeiten, meist in geschlossenen Trecks, in das Reich überführt zu werden. Der SS-Führer Hoffmeyer, der später in rumänische Gefangenschaft fiel und vor ein russisches oder rumänisches Kriegsgericht gestellt worden sein soll, war an diesen Aktionen führend beteiligt. Kurz nach Neujahr 1941 verließen weitere 15.000 Volksdeutsche aus der Dobrudscha und neuerlich 45.000 diesmal aus dem Süden der Bukowina, ihre Heimat. Auch sie wurden meist in den ehemals polnischen Westgebieten angesiedelt.

Konnte für die Umsiedlung im Herbst 1940 vielleicht noch als Ursache angesehen werden, daß Deutschland einen Feldzug gegen die Sowjetunion vorbereitete und daher die Volksdeutschen aus den von Rumänien an Rußland übergebenen Frontgebieten entfernen wollte, so fehlte für die Umsiedlung der Dobrudscha-Deutschen jede militärische, politische oder wirtschaftliche Rechtfertigung.

Es ist bekannt, daß das Preußen Bismarcks und Wilhelms II. in den Provinzen Posen und Westpreußen eine Eindeutschungspolitik betrieben hat. Dennoch vermochte die preußische Ansiedlungskommission im Laufe von drei bis vier Jahrzehnten nicht viel über 150.000 Deutsche anzusiedeln. Auch die Aktion dieses Umfanges brachte schon böse Härten genug mit sich. Die Volksdeutsche Mittelstelle benötigte 1940 zu der gleichen Zahl kaum einige Monate. Man kann sich vorstellen, wie oberflächlich die Durchführung war, wie verantwortungslos dem Umsiedler gegenüber und mit welcher Rücksichtslosigkeit gegen die früheren Eigentümer des Bodens.

Wahnwitz und Methode

Die Führung der SS, berauscht durch diese Scheinerfolge, kam immer mehr und mehr in eine Art Umsiedlungstaumel hinein. Das Auswärtige Amt und die anderen Dienststellen wurden — manchmal widerstrebend und die Sinnlosigkeit des Vorhabens einsehend — auch mit hineingerissen. Man begann nach dem Überfall auf Jugoslawien die 20.000 Deutschen Bosniens ins Reich zu bringen, die Bevölkerung der deutschen Gemeinden um A g r a m ebenfalls, ja selbst die uralte Sprachinsel der Gottschee zu vernichten. Die Gottscheer, seit Jahrhunderten wandernde Händler, wurden auf dem Boden vertriebener Slowenen, meist um das Städtchen Rann, als Bauern angesiedelt. Daß sie ihren neuen Aufgaben schon wirtschaftlich nicht gerecht werden konnten, versteht sich von selbst. Aber man war zufrieden, daß man fleißige slowenische Bauern, ein solides, konservatives Bevölkerungselement, heimatlos gemacht hatte.

Nach dem Angriff auf die Sowjetunion und dar Obergabe „Transnistriens“ an die rumänische Verwaltung wurden die dortigen Deutschen durch Hoffmeyer zu Siedlungsgemeinschaften zusammengeschlossen, ebenso die wenigen Tausend Deutschen in Odessa. Diese Menschen sandte man nicht ins Reich, vermutlich auf Grund des Planes der Germanisierung der Krim.

Auch im Westen vergriff sich die SS. Sie verjagte dort die Franzosen und versuchte in Nordfrankreich unter den Industriearbeitern polnischer Herkunft Volksdeutsche zu entdecken.

Die große Flucht

Als die Heere der Sowjetunion zur Gegenoffensive übergegangen waren und die deutschen Heere zurückfluteten, versuchten die Dienststellen Berlins, die inzwischen die Deutschen des Donau- und Karpatengebietes in den eisernen Rahmen parteiähnlicher Organisationen gepreßt hatten, den Zug derselben nach Westen zu veranlassen. Es gelang bei den Amtswaltern, die, ihr Habe zusammenraffend, teilweise ihre Schutzbefohlenen zurücklassend, die Donau aufwärts flohen. Die große Masse weigerte sich, ihre Heimat zu verlassen, um in der Ferne einer fraglichen Zukunft entgegenzugehen. Die deutschen Gemeinden in Transnistrien freilich wurden in einen großen Treck zusammengeschlossen und zu Fuß oder per Schiff quer durch Rumänien die Donau aufwärts gebracht.

Die Siebenbürger Sachsen blieben nahezu geschlossen auf dem Boden, den ihre Vorfahren seit dem 13. Jahrhundert besiedelt hatten. Nur die durch den Wiener Schiedsspruch nach Ungarn gekommenen Gebiete von Neu-bistritz wanderten teilweise ins Reich und ebenso flüchtete ein Teil der Banater, Schwaben. In der einst deutschen Sprachinsel Szatmar verließen nur wenige die Heimat. Auch in der Batschka ist ein sehr erheblicher Teil der Volksdeutschen, geeint in der sogenannten „Treuheitsbewe-gung“, die durch den katholischen Pfarrer Berencz geführt wurde, in ihren Dörfern geblieben. Diese Deutschungarn, die ihrer Heimat selbst zur Zeit der stärksten Propaganda die Treue gehalten hatten, leisteten sogar den Bestrebungen, alle Volksdeutschen Männer in die Waffen-SS zu pressen, teilweise oft erfolgreichen Widerstand.

Immerhin haben in der Batschka und der Schwäbischen Türkei gut hunderttausend dem Ruf zur Flucht ins Reich Folge geleistet. In Westungarn und im Bakonyer Wald folgten weitere Zehntausende, während die Deutschen Kroatiens und Slawoniens nahezu geschlossen in großen Trecks quer durch Südungarn unter erheblichen Entbehrungen in das Reich, vielfach auch nach Österreich, zogen. Diese Völkerwanderung kam selbst innerhalb der Reichsgrenzen nicht zur Ruhe. Denn kaum hatten viele Zehntausende neue Wohnplätze zugewiesen, ergab sich die Notwendigkeit, Städte zu evakuieren, die durch Luftangriffe zerstört waren, oder neuen Gruppen von Volksdeutschen, wie zum Beispiel den Karpatendeutschen in der Slowakei, Raum zu schaffen.

Nicht nur Deutschen

Auch Nicht deutsche wurden zur Umsiedlung gezwungen. Daß das Dritte Reich Millionen Polen von ihren Wohnsitzen vertrieben hatte, ebenso daß aus der Sowjetunion und vielen anderen Ost-und Weststaaten Millionen Zwangsarbeiter ins Reich verschleppt worden waren, ist bekannt. Die systematische Ausrottung rassischer und nationaler Gruppen der Zivilbevölkerung gewisser besetzter Gebiete ist in die Anklageschrift der Vereinten Nationen gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg aufgenommen worden.

Weniger bekannt ist, daß auch die südlich Leningrad lebenden Ingermanländer nach Estland und sogar nach Finnland gesiedelt werden sollten oder vielleicht auch gesiedelt worden waren, soferne nicht die militärische Wendung 'diesen Versuchen rechtzeitig ein Ende gesetzt hat. Die wenigen Tausend Schweden an der Westküste Estlands sowie die Splitter der Tataren in Litauen, der Bulgaren um Mariupol, der Raum östlich des Bug, sie alle wurden in den Wanderungsstrudel mit hineingerissen. Die ungarische Regierung versuchte die sogenannten Csangos, Magyaren aus Bessarabien und der Moldau, nach Ungarn umzusiedeln, wobei es zu einem typischen Vorgang kam: Ungarn sprach von über 100.000 in Frage kommenden Magyaren, Rumänien bezifferte sie auf kaum 10.000. Ungarn nahm auch in der Batschka Ansiedlung von magyarischen Siedlern aus Bosnien und anderen Ländern vor. Bulgarien' und Rumänien vereinbarten Bevölkerungsaustausch, während verschleppte kaukasische Kleinstvölker über den Balkan zogen.

Dann kam der Sieg der Alliierten und der volle Zusammenbruch der Völkerwanderungspolitik des Dritten Reiches. Der Schaden, der mit diesen wahnwitzigen Unternehmungen der Sache des deutschen Volkes zugefügt wurde, seiner Bedeutung, seiner kulturellen Stellung, seinen wirtschaftlichen Interessen, ist nicht wieder gutzumachen. In ein unermeßliches Grab ist jahrhundertealte Pionierarbeit deutschen Geistes versunken. Nicht einmal die Hoffnung der Menschheit, daß jetzt das ruhelose Hasten von ganzen Völkergruppen ein Ende finde, erfüllt sich. Noch ziehen durch Europa Hunderttausende in tiefem Unglück.. ..

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