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Und dann war Krieg...

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Am 1. September 1939 um 4.50 Uhr meldete der polnische Major Sucharski, der Kommandant der Westerplatte bei Danzig: „Westerplatte, den 1. September 1939, 4.50 Uhr. Um 4.45 Uhr hat der Panzerkreuzer .Schleswig-Holstein' das Feuer gegen die Westerplatte aus allen Rohren eröffnet. Die Beschießung dauert an.“ Zur gleichen Zeit überschritten deutsche Truppen ohne Kriegserklärung die polnischen Grenzen. Für 10 Uhr vormittags war die Rede Hitlers vor dem Reichstag angekündigt. Vorher hatte sich noch der Verbündete des Achsenpaktes, Mussolini, durch eine förmliche Erklärung Hitlers von seinen militärischen Verpflichtungen lossprechen lassen und eine Intervention des italienischen Botschafters in Berlin veranlaßt, damit dieser eine entsprechende Aeußerung Hitlers, worin das Reich auf militärische Hilfe verzichtet, herbeiführen sollte. Hitler erfüllte auch den Wunsch Mussolinis um 9.40 Uhr durch sein Telegramm, in dem es hieß: „Ich bin der Ueberzeugung, die uns gestellte Aufgabe mit den militärischen Kräften Deutschlands lösen zu können. Ich glaube deshalb, der militärischen Unterstützung Italiens nicht zu bedürfen.“

In der Rede vor dem Reichstag, in der Hitler bei der Festlegung des Ausbruches der Feindseligkeiten sich um eine Stunde irrte, wurde der beginnende Konflikt mit Polen mehr als eine Art Polizeiaktion dargestellt, die 'an einer Grenze des Unfriedens die Frage Danzigs und des Korridors lösen sollte, bis „entweder die derzeitige polnische Regierung dazu geneigt ist, diese Aen- derung herzustellen, oder bis eine andere polnische Regierung dazu bereit ist“. Zur Beruhigung des deutschen Volkes, aber auch als Drohung gegen die noch abwartenden Westmächte wurde auf den am 23. August abgeschlossenen Pakt mit der Sowjetunion verwiesen, der scheinbar Deutschland die Befreiung vom Zweifrontenkrieg garantierte und außerdem Frankreich und England zurückhalten sollte, aktiv in den deutsch-polnischen Konflikt einzugreifen.

Das große Spiel um den Krieg, dessen Möglichkeit mit einer modern gerüsteten Wehrmacht und jungen Generälen Hitler schon in der berühmten Unterredung mit dem österreichischen Bundeskanzler von Schuschnigg am 12. Februar

1938 angedeutet hatte und den er bei den Verhandlungen am 11. und 12. August in Salzburg und Berchtesgaden dem italienischen Außenminister Graf Ciano für Anfang September 1939 kalt und klar in Aussicht gestellt hatte, begann. Fraglich blieb für eine Frist von zwei Tagen die Haltung der Westmächte. Es läßt sich auf Grund der vorhandenen Aktenveröffentlichungen und der verschiedenen Memoiren klären, welche Wandlungen die Politik von London und. Paris gegenüber Deutschland im Jahre 1939 durchmachte, die letzten Endes zu der Kriegserklärung Großbritanniens am Morgen des 3. September

1939 und der nachfolgenden Frankreichs führte.

Der Ausgangspunkt waren die Folgen der Münchner Konferenz. Es schien fast, als ob eine Zusammenarbeit der Großmächte Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien eine friedliche Lösung der europäischen Probleme herbeiführen könnte, wenngleich namhafte Historiker heute darauf hinweisen, daß durch die Preisgabe Oesterreichs und der Tschechoslowakei Hitler zunächst abgelenkt werden sollte. Dieses Motiv der Ablenkung nach dem Südosten tritt sehr stark auch in der polnischen Politik der Jahre 1934 bis 1938 in. Erscheinung, da sowohl Pilsudski als auch Außenminister Beck glaubten, wenigstens für eine Zeit die Expansion Deutschlands im Donaubecken fesseln zu können. Deswegen vertraute Polen auf den Nichtangriffspakt mit Berlin, der Hitler eine unpopuläre Belastung in den Augen der höheren Militärs und des Junkertums eintrug. Es darf nicht übersehen werden, daß für die deutschen Regierungen seit 1919, vor allem aber für die maßgeblichen Führer der Reichswehr, wie Seeckt, die polnischen und deutschen Grenzen niemals garantierbar waren. Die jahrelange Zusammenarbeit der Reichswehr mit der Roten Armee, die erst 1933 abgebrochen wurde, richtete sich vorweg gegen Polen. Polen konnte aus seinem Akkord mit Hitler Nutzen ziehen und leistete in den Krisenwochen in München dem Dritten Reich erhebliche militärische und politische Schützenhilfe .

Auch in der Frage des sogenannten Anschlusses hatte die polnische Politik durch das heute aus den Akten belegte Zusammenspiel zwischen dem polnischen Botschafter in Berlin und Franz von Papen immer wiederum die Absicht Hitlers in Richtung Wien und Prag unterstützt.

Seit Oktober 1938 trat aber eine Wendung ein, die zunächst durch die von Warschau nicht ernst genommene Forderung der deutschen Regierung nach einer Gesamtlösung, beinhaltend die Rückkehr Danzigs und den Bau exterritorialer Verkehrswege durch den Korridor, gipfelte“. Nach der Ablehnung dieser Forderungen durch Beck zeigte sich bald der Aufbau von politischen Fronten in Europa, die Fronten des Krieges werden sollten.

Die britische Außenpolitik, bitter enttäuscht durch den deutschen Einmarsch in Prag, war fest überzeugt, daß die Drohung gegenüber Polen nur die Einleitung größerer Aktionen mit dem Endziel einer europäischen Vorherrschaft Deutschlands sein mußte. Ende März gab Großbritannien eine Garantieerklärung an Polen, der sich Frankreich in Erneuerung des alten Bündnisses aus dem Jahre 1921 anschloß. Der deutsche Gegenzug durch die einseitige Aufkündigung der Flottenabmachungen mit England und des deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrages gipfelte in dem scheinbar offensiven Militärbündnis von Mailand vom 22. Mai 1939, das sich allerdings bei Kriegsbeginn als untaugliches Instrument erwies. Das Hasardspiel begann anfangs August, als sich die deutsche Regierung in den Konflikt Danzigs wegen der polnischen Zollinspektoren einschaltete. Noch waren Verhandlungsmöglichkeiten vorhanden, und ehe das Drama des Ringens um den Frieden einsetzte, betrat ein Repräsentant des alten Europas die Bühne. Der Hohe Kommissar des Völkerbundes in Danzig, Professor Carl J. Burckhardt, besprach am 11. August auf dem Obersalzberg mit Hitler die Lage, um die Mitteilung zu erhalten, daß Deutschland „den Raum im Osten und Korn und Holz“ brauchte. So wie einst bei der Unterredung mit Schuschnigg berief sich Hitler auf das Motiv des rechtzeitigen Kriegsbeginns zum Unterschied von 1914.

Beide Parteien mußten die Unterstützung jener Macht erhalten, die letzten Endes bei einem Konflikt mit Polen entscheidend eingreifen konnte, der Sowjetunion, Frankreich und

Großbritannien hatten seit März 1939 Verhandlungen laufen, die vor allem in der Frage des Durchmarschrechtes bei den bedrohten Staaten Polen und Rumänien heftigen Widerstand auslösten. Am 11. August trieb Marschall Woroschilow die westlichen Militärmissionen in Moskau in einer Reihe von Sitzungen durch messerscharfe Argumentation in die Enge: Keine sowjetische Hilfe ohne Einmarsch in Polen und Rumänien. Die polnischen Politiker blieben trotz der Bitten, vor allem der französischen Diplomaten, wenigstens einen technischen Durchmarsch russischer Truppen zu gewähren, unnachgiebig, und Marschall Rydz-Smigly zitierte gegenüber dem französischen Botschafter am 20. August das Wort Pilsudskis: „Mit den Deutschen riskieren wir unsere Freiheit zu verlieren, mit den Russen werden wir unsere Seele verlieren.“ In der Schlußsitzung am 22. August fiel -von Seiten Marschall Woroschilows gegenüber den französischen Militärs das Wort:

„Wenn die politischen Umstände dieselben bleiben, könnten die Verhandlungen wiederaufgenommen werden.“ In Wirklichkeit bereitete sich ein völliger Umsturz der Kräfteverhältnisse vor.

Seit dem Frühjahr 1939 scheinen sich streng geheime Gespräche zwischen Berlin und Moskau angebahnt zu haben. Sie folgten alten Sympathien zwischen der Bendlerstraße und dem Oberkommando der Roten Armee, und Hitler war bereit, alle weltanschaulichen Bedenken und Feindschaften gegen die Sowjetunion zu begraben, um sein Nahziel gegen Polen zu erreichen. Die abtastenden Gespräche vom 27. Juli in Berlin bis zum persönlichen Eingreifen Stalins am 19. August gipfelten in dem Telegramm Hitlers an Stalin, wobei Hitler immer auf den Termin- und Wetterkalender blickte. Zögernd und damit den Preis erhöhend, konnte der Herrscher im Kreml bei den historischen Verhandlungen in Moskau am 23. August den sogenannten

Nichtangriffspakt mit den allzu willfährigen deutschen Partnern abschließen. Dieses Dokument gehört nach dem Urteil des Historikers Michael Freund zu den großen und schrecklichen Dokumenten der Weltgeschichte. Nicht der verlautbarte Text, sondern das erst 1945 bekanntgewordene Geheimprotokoll enthält den Satz: „Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum politischen Staat gehörenden Gebiete seien die beiderseitigen Interessen entlang der Flüsse Narew, Weichsel und San abzugrenzen.“ Im gleichen Punkt 2 legte Stalin die historische Falle aus: „Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht sein lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden."

Damit war, vorausgesetzt, daß die Westmächte nicht eingriffen, dem deutschen Vordringen freie Bahn gegeben und der historische Sicherheitsgürtel, den man 1919 zwischen Mitteleuropa und Rußland aufbauen wollte, im Eckpfeiler Polen durchbrochen. „Der Weg wurde geöffnet, der die Rote Armee bis nach Berlin und die mitteldeutsche Gebirgsschwelle führen sollte“, und man könnte ergänzen, daß damit auch der Einbruch der russischen Macht in das Donaubecken eingeleitet wurde. In der Rede vor den Befehlshabern am 22. August, die in zwei

Fassungen erhalten ist, erklärte Hitler, auch das Risiko eines Krieges mit den Westmächten auf sich zu nehmen, obgleich Chamberlain in einem Brief vom gleichen Datum unter dem Eindruck des bevorstehenden Abschlusses des deutsch- sowjetischen Abkommens die deutsche Regierung davor warnte, die britische Position falsch zu bewerten, wie dies 1914 geschehen war: „Seiner Majestät Regierung ist entschlossen, dafür zu sorgen, daß im vorliegenden Fall kein solches tragisches Mißverständnis entsteht.“ Sicherlich batte der Reichskanzler auch den aus dem Jahre 1937 stammenden warnenden Bericht des deutschen Militärattaches in London, Freiherrn Geyr von Schweppenburg, gelesen und nicht beachtet, in dem es klar hieß, daß bis Ende 1938 (Abschluß des wesentlichen Teiles der englischen Luft- und Seerüstung) in Europa territoriale Vorteile zugunsten Deutschlands zugestanden oder geduldet werden würden. „Es schiene jedoch nicht möglich, einen Krieg gegen das britische Reich zu gewinnen, sobald die britische Heimatluftwaffe stark genug war, gemeinsam mit den Vereinigten Staaten das Glacis des Mutterlandes zu schützen.“ Alle Warnungen und Versuche blieben erfolglos. Selbst der Schritt Großbritanniens, Polen in letzter Stunde an den Verhandlungstisch zu bringen und eventuell durch den Mantel einer internationalen Garantie zu schützen, scheiterte.

Nach der Kurzunterredung am 31. August um 18 Uhr zwischen Ribbentrop und dem polnischen Botschafter meldete der italienische Botschafter Attolico nach Rom, daß kein Ausweg mehr bestünde, denn Hitler habe ihm mitgeteilt: „Es ist alles aus.“ Walther Hofer hat in einer grundlegenden Untersuchung zum Kriegsausbruch des Jahres 1939 einen Vergleich zu der Situation von 1914 gezogen: „Mit einem Bild könnte man auch sagen, daß 1914 der Friedensengel durch einen Unfall oder vielleicht auch durch fahrlässige Tötung umgekommen ist. 1939 ist er ermordet, daß heißt bewußt und vorsätzlich umgebracht worden."

Der von Hitler vorgebrachte Vorschlag von exterritorialen Autobahnen durch den Korridor war den polnischen Politikern schon im Mai 193 5 in einem Gespräch Hitlers mit dem polnischen Botschafter in Berlin angedeutet worden und geht vielleicht auf die Anregung des polnischen Politikers und Publizisten WI. Studnicki in seinem Werk: „System polityczny Europy a Polska“ (Warschau 1934), zurück.

Hans Roos: Polen und Europa. Studien zur polnischen Außenpolitik 1931—1939. Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, herausgegeben von Hans Rothfels, Theodor Eschenburg und Werner Markert. ]. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 1957.

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