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Und das Gesinnungsdelikt?

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Einem Unterausschuß des parlamentarischen'Justizausschusses liegt zur Vorbereitung ein Gesetzentwurf des Justizministeriums vor, der den Gnadenakt der Amnestierung, die Einstellung des Strafverfahrens gegen alle Vergehen und Verbrechen vorsieht, die in der Nachkriegszeit 1945 und 1946 und — soweit dies ein strengerer Maßstab erlaubt — noch 1947 begangen wurden, wenn der Strafsatz für die begangene Handlung fünf Jahre nicht überschreitet. Die weitgespannte Maßnahme entspricht dem Streben eines Gemeinwesens, das nicht nur das äußere Bild der Kriegsruinen, sondern auch eine Periode der sittlichen schweren Erschütterungen, der Verfehlungen innerhalb einer von Leidenschaften und Verirrungen durchwirkten Vergangenheit nach und nach überwinden will.

Der Entschluß, der aus der Motion des Justizministeriums spricht, ist ernst gemeint. Aber spricht er das Ganze aus? Erfaßt er die Hauptsache des strafrechtlichen Problems, das unser öffentliches Leben und das private bis ins Innerste bedrängt? Man kann nicht strafrechtliche Tathandlungen — Diebstahl, Plünderung, Einbruch, Veruntreuung, verübte Gewaltakte — amnestieren und gleichzeitig reine Gesinnungsdelikte, die eine dem gesunden österreichischen Rechtsempfinden widerstreitende Ausnahmsgesetzgebung geschaffen hat, unter schwereren und zum Teil sogar un-a u s 1 ö s c h b a r e n Straffolgen halten. Reift nicht vielmehr die Zeit, in der es endlich möglich sein wird, die einzig gerechte Lösung des Nationalsozialistenproblems zu verwirklichen: die entschiedene und entscheidende Trennung zwischen Personen, die sich im politischen Leben gegen Strafgesetz und Menschlichkeit vergingen und jenen, die ohne sich strafgesetzlich zu vergehen, einer politischen Richtung angeschlossen haben, die abgetreten und dem Urteil der Geschichte verfallen ist? Die ersten hat das Gesetz mit seiner Strenge zu treffen; darüber soll alle Klarheit bestehen. Den anderen aber soll — je früher desto besser — die Brücke herabgelassen werden zur Aufnahme und Eingliederung in die Gemeinschaft. Genauer gesprochen, das Nationalsozialistengesetz 1947 weist Bestimmungen auf, die von Jahr zu Jahr, je weiter wir uns von der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft entfernen, nicht mehr eine berechtigte Schutzmaßnahme des Staates und seiner Verfassung sind, sondern sich sogar in das Gegenteil verkehren. Abgesehen von staatspolitischen Erwägungen, werden nachgerade der Widersinn und die Ungerechtigkeit unerträglich, daß nach fünf Jahren der Buße Personen, von denen nichts weiteres bekannt ist, als daß sie einmal Ortsgruppen- oder Leiter anderer Ämter der NSDAP waren oder einen höheren Rang als den eines Untersturmführers in irgendeiner angeschlossenen Organisation bekleideten, selbst wenn sie diesen nur ehrenhalber verliehen erhielten, noch immer gesetzlich und moralisch mit Elementen gleichgestellt werden, die sich — in der Sprache des 11 des NS-Gesetzes gesprochen — „besonders verwerflicher Handlungen, besonders schimpflicher Handlungen und Handlungen, die dem Gesetz der Menschlichkeit gröblichst widersprechen“, zuschulden kommen ließen. Auch die lange Liste der auf Lebenszeit gesperrten Berufe kann vor einer leidenschaftslosen grundsätzlichen Behandlung nicht standhalten.

Diese Erwägungen haben scheinbar bloß akademische Bedeutung, da die letzte Entscheidung über ein endgültiges Ordnungmachen heute nicht der freien Bestimmung der österreichischen Regierung und der österreichischen Volksvertretung anheimgegeben ist. Eine politische Amnestie müßte als eine Änderung des NS-Gesetzes — eines Verfassungsgesetzes — die einhellige Zustimmung aller im Kontrollrat vertretenen Alliierten finden. Wie groß immer die Verantwortung ist, die jede alliierte Macht auf sich nimmt, die dieses Ausnahmegesetz verewigen hilft und wie sehr eine solche Verewigung dem Beispiel des mehr als großzügigen politischen Vergebens und Vergessens in Ostdeutschland widersprechen muß, so wird man sich angesichts des Schicksals des österreichischen Staatsvertrages heute keinen Illusionen hingeben. Dennoch bleibt noch viel, das von österreichischer Seite getan werden kann, um jenes Gesetz seinem Sinn zu nähern. Der 27 des NS-Gesetzes weist den Gnadenweg, den jeder Betroffene gehen kann, wenn er „seine Zugehörigkeit zur NSDAP, zu einem ihrer Wehrverbände, zum NS-Soldatenring, zum

NS-Offiziersbund niemals mißbraucht hat, mit Sicherheit auf seine positive Einstellung zur unabhängigen Republik Österreichs geschlossen werden kann und die Ausnahme im öffentlichen Interesse oder sonst aus einem besonders berücksichtigungswürdigen Grund gerechtfertigt erscheint“. Ob dieser Weg der Begnadigung schmal oder breit sein kann, steht nirgends vermerkt. Eine bei aller Verantwortung großherzige Handhabung und vor allem die Befreiung der Gnade Von parteipolitischen Vorbedingungen ' kann allein schon viel zum Besseren wenden. Andere Möglichkeiten liegen in den Händen der Staatsanwälte. Von ihnen allein, von ihren Anträgen hängt die Behandlung eines Gesinnungsdelikts ab. In diesem Zusammenhang sei an die Begnadigungsaktion des letzten Justizministers im September 1949 erinnert, deren Anweisungen eine Einstellung zahlreicher Strafverfolgungen von Formaldelikten zur Folge hätten. Ein Ausbau der damaligen Vorschläge ist zum Erfordernis geworden. Wird der Gnadenweg durch den Amnestiegesetzentwurf des Justizministers für straf-gesetzlich zu ahndende, selbst als Verbrechen qualifizierte Handlungen freigemacht, so kann nicht anders mit den bloßen Gesinnungs delikten verfahren werden.

Das Verlangen nach der großen, politischen Flurbereinigung, die Forderung nach einem Schlußstrich in einer Schmer-zensgeschichte der Zweiten Republik ist

1h den Spalten dieses Blattes nie ver-: stummt. Der sachliche und persönliche Standort, von dem diese Rufe nach endgültiger Überwindung der Vergangenheit äusgesandt werden, ist so eindeutig bestimmt, daß eine Mißdeutung der Motive, eine Verwechslung mit parteipolitischen Berechnungen wohl schwerlich möglich ist. Hier ist ein Teilstück jenes Friedens, von dessen Bedrohung und Rettung in diesen Wochen soviel die Rede ist, auch mit den schwachen Mitteln, die Österreich zur Verfügung stehen, im eigenen Räume zu verwirklichen.

Machen wir ernst mit unseren Bekenntnissen und sittlichen Pflichten — der Christ, dem das Schlußevangelium des Offiziums des ersten Sonntags nach Pfingsten in Erinnerung ruft: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Und der andere, der sein Christentum vergaß oder ihm ferne ist, indem er sich gemahnt an das heilige Hausgesetz der menschlichen Familie, das gültig ist seit dem Morgengrauen menschlicher Kultur: die Menschlichkeit.

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