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„...Und morgen die ganze Welt...“

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Die Welt hielt den Atem an, als die deutsche Wehrmacht im Juni 1940, nach einer Kette von Siegen vom Nordkap bis an die Biskaya, ihrem letzten Gegner sprungbereit gegenüberstand. Es schien, als ob Hitler nach den Sternen greifen könne. Uferlose Projekte gingen ab seine Planungen von Mund zu Mund. Hat er sie wirklich gehegt oder wurden sie ihm von vermessenen Schmeichlern, von hellsichtigen Feinden zugeschrieben? Darüber gibt eine Sammlung von hochinteressanten Dokumenten Aufschluß, die Peter de Mendelssohn unter dem Titel „Sein Kampf“ im Zwei-Berge- Verlag, Wien, veröffentlicht.

Es ist nicht restlos aufgeklärt worden, warum Hitler vor dem bekanntesten und größten dieser Pläne, dem Angriff auf die britischen Inseln — genannt „Operation Seelöwe" — in allen entscheidenden Augenblicken doch zurückgewidien ist. Am 4. Juni 1940 war die Schlacht bei Dünkirchen beendet. Mit dem letzten Hauch ihrer Kraft batten britische Seeleute 350.000 alliierte Soldaten, erschöpft, verwundet, ohne Ausrüstung, über den Kanal gerettet. Am 1 . Juni ersuchte Frankreich um Waffenstillstand. Unermeßlich war der Wert jedes Tages, den England in dieser' verzweifelten Lage gewann. Aber Hitler, der, wie Mendelssohn sagt, „oft bis ins einzelne gehende Kriegsweisungen beinahe über Nacht herausgegeben, sie in einigen Fällen binnen 48 Stunden durchgeführt hatte“, zögerte vier Wochcn, bis er die Weisung Nr. 16 erließ, die den Befehl zum Angriff auf die britischen Inseln erteilte. 40 Elitedivisionen

— hievon 13 in der ersten Welle — sollten, von einem Schauer von Luftlandetruppen unterstützt, zwischen Ramsgate und der Insel Wight landen. 168 Transporter, 1 68 Barken und 360 Schleppdampfer wurden nach britischen Quellen für die Überfahrt bereitgestellt. Diese gewaltige Streitmacht ist nie in die Landungsboote gestiegen. Die Vorbereitungen sollten Mitte August beendet sein — doch dauerten sie bis Mitte September. Als die Luftschlacht um den Ärmelkanal losbrach, warf sich die Röyal Air Force mit unvergleichlichem Heldenmut der deutschen Luftwaffe entgegen. Am 15. September allein wurden 185 deutsche Flugzeuge abgeschossen. Aber die Rechnung geht nicht völlig auf. Ende August verfügte Hitler am Kanal über 2669 einsatzbereite Apparate gegen 1580 britische Flugzeuge. Mendelssohn sagt, obwohl er an Hitlers ernstem Willen glaubt, „man darf annehmen, daß Görings Sache etwas besser abschnitt, als die Royal Air Force, sowohl was wirkliche Reserven, als Was die Produktionskapazität betrifft. Göring hatte jedenfalls noch genügend Flugzeuge übrig, um sie im darauffolgenden Winter in einem Bombenfeldzug zu vergeuden, der taktisch und strategisch Hitler nicht um das geringste weiterbrachte“. Englische Stimmen, die wir ergänzend heranziehen („The Economist" vom 2 . November 194 ) widmen eingehende Erklärungen dem zu jener Zeit über England herrschenden Wetter, das untertags

Nebel und Regen, bei Nacht klaren Himmel brachte, statt — wie es der Angriff erfordert hätte — klare Tage und nebelige Nächte. Sie schließen mit den Worten: „Viele Kapitel der englischen Geschichte sind von den Winden geschrieben, von den Süd- westsjürmen, die die große Armada zerstörten bis zu dem ,protestantischen Ostwind, der Wilhelm den Eroberer herüberführte.“ Klingt das nicht, wie eine mythisdi- mystisdie Deutung des Rätsels, warum der bis dahin stets glückliche Hasardeur, der sonst den verzweifeltsten Einsatz wagte, dieses kriegsentscheidende Spiel aufgab?

Von da an jagt ein chimärisches Projekt das andere. Der Plan der deutschen Kriegführung, „Felix", hat die Sperrung der Mittelmeereinfahrt durch die Eroberung von Gibraltar zum Ziel. Das Ausmaß der deutschen Beteiligung an diesem Unternehmen wächst unter Hitlers Händen. Sollten erst nur deutsche Sturmpioniere und einige Geschwader von Flugzeugen die spanischen Angriffstruppen unterstützen, so hätte später die deutsche Wehrmacht die ganze Last allein zu tragen. Die Zusammenarbeit aller drei Wehrmachtsteile — U-Boote gegen die im Hafen ankernde Flotte, Sturzkampfgeschwader und Flakartillerie — soll die Felsbesatzung bezwingen. Mit Weisung Nr. 18 vom 12. November 1940 greifen Hitlers Wünsche über das Festland hinaus in das ozeanische Vorfeld Europas. Dieses Dokument schließt mit dem Auftrag an die Oberbefehlshaber, die Frage einer Besetzung der Kanarischen und Kapverdischen Inseln, von Madeira und den Azoren zu prüfen. Aber Franco versagt seine Mitwirkung und am 6. Februar 1941 muß ihm Hitler schreiben, daß dadurch die Gelegenheit, Gibraltar sicher in die Hand zu bekommen, versäumt ist. Die gleiche Weisung hatte auch die B e- setzung Portugals (Plan „Isabella“) vorgesehen, doch auch das ist nun vorbei. Als „Felix“ und „Isabella so ins Wesenlose versinken, wird als Unternehmung „A 11 i 1 a“ die Besetzung Französisch-Nord- afrikas geplant. Man wird an die Tage der späten napoleonischen Phantasmagorie erinnert, da dieser, wie Marmont sagte, seine Wünsche für Wirklichkeiten nahm und alle militärischen Träume schließlich in die grauenhafte Realität des Rußlandfeldzuges — (Hitlers Plan „Barbarossa") mündeten und an ihr scheiterten. Vorerst nehmen die Utopien noch kein Ende: am 11. Juni 1941 — elf Tage vor Beginn des russischen Feldzuges — spricht Hitlers Weisung Nr. 32 folgendes aus:

„...nach der Zerschlagung der russischen Wehrmacht werden Deutschland und Italien das europäische Festland — vorläufig ohne die iberische Halbinsel

— militärisch beherrschen. Irgendeine ernst,

hafte Gefährdung des europäischen Raumes besteht dann nicht mehr... Die Ver tiefung der deutsch französischen Zusammenarbeit wird... die tiefe Südwestflanke des europäischen Raumes, einschließlich der atlantischen Küste Nord- und Westafrikas vor angelsächsischem Zugriff schützen ... Die Möglichkeit, auf die Türkei und Iran einen starken Drude auszuüben, verbessert die Aussichten, auch diese Länder mittelbar oder unmittelbar für den Kampf gegen England nutzbar zu machen ..

Nähere Aufklärung, wie dies gedacht war, bringt Punkt 2 des genannten Dokuments, es ordnet an:

.. Fortsetzung des Kampfes gegen die britische Position im Mittelmeer und in Vorder asien durdi konzentrischen Angriff, der aus Libyen durch Ägypten, aus Bulgarien durch die Türkei und unter Umständen auch aus Transkaukasien heraus durch den Iran vorgesehen ist..."

Ein weiterer Absatz trifft Anordnungen für die „Ausnutzung der arabischen Freiheitsbewegung“. Die Mission Papens in der Türkei, „der französische Bruderkrieg in Syrien, in dem die Truppen der Vidiy- Regierung unter General Dentz laufend mit deutschem Kriegsmaterial aus dem Irak versorgt wurden“, die plötzliche Revolte Raschid Alis im Irak, die Erhebung in Persien — alles war „engstens aufeinander abgestimmt“. — Die Hauptarbeit in Nord- und Westafrika ist den Franzosen zugedacht: „Zum Übersetzen nach Spanisch-Ma- rokko“, sagt Weisung Nr. 32, „sind Heeresverbände nur insoweit vorzusehen, als es die Sicherung der Meerwege erfordert“. Zusammenfassend wird dort noch ausgesprochen:

„Zu welchem Zeitpunkt die geplanten Operationen im Mittelmeerraum und im Vorderen Orient begonnen werden können, läßt sdth noch nicht übersehen. Die stärkste operative Wirkung würde ein möglichst gleichzeitiger Beginn der Angriffe gegen Gibraltar, Ägypten und Palästina ergeben.“

Mit Recht sagt Mendelssohn, daß die Zange im Mittleren Osten die Erinnerung an den Plan einer Vereinigung der deutschen und japanischen Truppen am Indischen Ozean oder in Afghanistan wach ruft.

Die Vermeidung des Zweifrontenkrieges,

deren sich Hitler nach dem Polenfeldzug immer wieder gerühmt hat, ist dahin — in alle Winde verweht. Wenn es nach ihm geht, riehen deutsche Soldaten ziel- und planlos, wie es ihm Ląjįne und Phantasie eingeben, über den halben Erdball. Nur ein Teil dieser uferlosen Träume ist an das Licht der Wirklichkeit getreten. Sie wurden unter den Trümmern des riesenhaften, dilettantisch angelegten militärischen Gebäudes begraben.

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