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. . . und morgen die ganze Welt!

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Als Präsident James Monroe in seiner Jahresbotschaft vom 2. Dezember 1823 den später als „Mortroedoktrin“ bekannten Grundsatz proklamierte, Europa und Amerika sollten sich jeder gegenseitigen politischen Einmischung enthalten, sprach aus dieser Erklärung das Machtbewußtsein einer jungen Nation, die gewillt war, ihren eigenen Weltteil überseeischen Einflüssen zu verschließen, aber noch nicht stark genug und machtpolitisch nicht dazu veranlaßt, über den Ozean hinweg nach der Alten Welt zu greifen. Die vielartigen Entwicklungen, die dieses Prinzip fortschreitend erschütterten, können hier nicht ausgeführt werden. Aber schon 1911 erklärte Theodor Roosevelt dem deutschen Botschaftsrat, Freiherrn v. Eckardstein, rückblickend auf die Marokkokrise des Jahres 1905: „Solange es England gelingt, das Gleichgewicht in Europa aufrechtzuerhalten, nicht nur im Prinzip, sondern in Witklichkeit, dann gut; sollte dies ihm aber aus dem einen oder anderen Grunde nicht gelingen, so würden die Vereinigten Staaten gezwungen sein, einzuspringen, wenn auch nur vorübergehend, um das Gleichgewicht in Europa herzustellen, gleichviel gegen welches Land oder welche Ländergruppe ihre Schritte sich zu richten hätten.“ (Eckardstein, Erinnerungen, Band III., Seite 175.)

Aber wie konnten zu Beginn des ersten Weltkrieges jene Staatsmänner, die noch nicht einmal begriffen hatten, daß der Durchmarsch durch Belgien sicheren Krieg mit England bedeute, solche transozeanischen Zusammenhänge erfassen? Das muß hier rückblickend gesagt werden, da Chamberlin seine kritische Studie mit der Verurteilung des „ersten“ amerikanischen Kreuzzuges, der Intervention der USA im ersten Weltkrieg beginnt. Aber trotz allem leidenschaftlichen Streben, sich von der patriotischen Urteilsschablone des eigenen Landes zu distanzieren, kann auch Chamberlin nicht umhin, festzustellen, „es sei sehr zweifelhaft, ob die Vereinigten Staaten ohne die Verkündung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges in den Krieg eingetreten wären“. (Seite 12). So kam, was kommen mußte: Der sinnlos hinausgezögerte Endkampf, der jähe Zusammenbruch der Ludendorffisch-alldeut-schen Phantasmagorie, die beklagenswerte Parzellierung Europas und ein schlechter Friede. Das unvernünftige und böswillige Vertragswerk von Versailles war bereits weithin außer Kraft gesetzt, als Hitler zur Macht kam. Hitler verstand es, die 1919 verlorenen Ostgebiete durch die Besetzung von Oesterreich, die Eingliederung der Sudetendeutschen, die Unterwerfung der Rest-Tschechoslowakei reichlich zu kompensieren. Und nun erhob sich die Schicksalsfrage Europas, die mit richtigem Augenmaß auch Chamberlin zum Kardinalpunkt seiner Angriffe gegen die Rooseveltsche Interventionspolitik macht: War es Hitler Ernst mit seinen Angeboten an Polen, trug er sich wirklich mit der Absicht, ein territorial unversehrtes Polen als deutschen Satellitenstaat in ein antibolschewistisches Konzept einzugliedern, und den Westen, vor allem Großbritannien, von seinen Heirschaftsplänea auszunehmen? Schwebte ihm wirklich nur die Gewinnung des bekannten „Siedlungsraumes“ im Osten vor und war die Zerschlagung der Räteunion sein durch die britische Garantie an Polen vereiteltes und in der Stoßrichtung abgelenktes Ziel? Dahinter erhebt sich die lockende Aussicht auf Vermeidung eines zweiten Weltkrieges (für den Westen), auf Abdrängung des Bolschewismus von Mitteleuropa, vielleicht auf Vernichtung des Weltkommunismus. Die alles, gehalten gegen den Hintergrund der nachfolgenden Austreibung des „Teufels durch Beelzebub“, gegen die sowjetische Besetzung von Berlin, Prag, Budapest und Wien?

Nun, aus rückschauenden Betrachtungen entstehen leicht Fehlschlüsse über die Abfolge von Ursache und Wirkung. Es sei- ganz dahingestellt, ob die Todeslager von Auschwitz und Flossenbürg, von Mauthausen und Dachau, von Oranienburg und Theresiensladt der Menschheit das UJauern einflößen können, daß sich in ihrem Gefolge nicht auch im Ural und im Kaukasus statt sowjetischer nationalsozialistische „Straflager“ erhoben hätten. Bleiben wir aber auf dem Boden realer Politik, wiewohl der überbordende Tenorismus Hitlers die Verstrickung der deutschen Kulturnation in sein Gewaltsystem in der westlichen Welt, unzweifelhaft eine echte Abwehr und Entrüstung hervorgerufen hatten. Aber es spricht nichts dafür, daß sich Hitler nach seiner' Befreiung vom östlichen Widerpart nicht der Unterwerfung des Westens zugewendet hätte. Nichts als die Versicherungen eines Mannes, den Chamberlin selbst als „wortbrüchig, unbeständig und unberechenbar“ bezeichnet. (Seite 36.)

Wer die wahren Absichten Hitlers kennenlernen will, der lese das Protokoll der von Hitler am 23. Mai 1939 abgehaltenen Generalsbesprechung. “(Im Wortlaut abgedruckt in „Das letzte Kapitel“ von Robert W. Cooper, Humboldt-Verlag, Seite 61 ff.) Es sind dort in aller Ausführlichkeit die für den „vernichtenden Schlag gegen England“ vorzubereitenden Schritte darlegt.

Chamberlins Vorschuß an Vertrauen, über den Hitler wohl selbst grimmig gelächelt hätte, lassen sich entgegenhalten: der später zugegebene Bruch des Seerüstungsabkommens mit England, die jahrelange systematische Unterstützung des Gibraltar bedrohenden Franco-Spanien, die Kooperation mit Mussolini, dem Mittelmeersatelliten, die großzügige Aufzäumung des „Reichskolonialbundes“, die Durchsetzung der früheren deutschen Kolonien mit nationalsozialistischen Zellen und Organisationen. Was wogen dagegen Hitlersche Erklärungen und Zusagen? Wem hatte er nicht solche gegeben und sie dann gebrochen? Es mangelt an Raum, sie hier auch nur aufzuzählen. Die Geschichte Oesterreichs von 1933 bis 1938, Hitlers „Garantie“ für den tschechoslowakischen Reststaat sind allein Antwort genug. Und gab es ein anderes Mittel, die Expansion Hitlers — spät, aber doch — einzudämmen, als eine klar ausgesprochene militärische Garantie des präsumtiven nächsten Opfers? War es schließlich den Westmächten als Schuld anzukreiden, daß sie sich durch oftmalige Nachgiebigkeit und Schwäche in eine militärische Ausgangslage gebracht hatten, welche ihre Garantie entscheidend an Wert verminderte, so lag diese Schuld in der umgekehrten Richtung, jener eines allzu vertrauensvollen „appeasement“. Gewiß ist, daß das Maß voll war — politisch, militärisch und moralisch blieb dem Westen keine Wahl mehr, als zu fechten. Und, wir kehren zu Theodor Roosevelt zurück: das Gleichgewicht Europas war in ernstester Gefahr, und es darf als gewiß gelten, daß, trotz Englands Standhaftigkeit, Hitler ohne Amerikas Intervention viel eindeutiger über diesen Kontinent geherrscht hätte als heute Moskau.

Die Fehler der Politik der Alliierten im und nach dem zweiten Weltkrieg sind zahlreich und schwer, ihre Auswirkung auf die Gestaltung der Nachkriegswelt und besonders Europas tiefgehend und schmerzlich. Hierin wird man Chamberlin beipflichten können, und hier hat der verstorbene Präsident keineswegs immer seinen sonst oft bewährten politischen Gaben entsprechend gehandelt. Die von ihm proklamierte unselige ..bedingungslose Uebergabe“, das schrittweise Zurückweichen vor den sowjetischen Ansprüchen in Europa wie im Fernen Osten, die von Churchill selbst drastisch geschilderte Preisgabe Ostpolens an Rußland, Ostdeutschlands an Polen mit allen ihren furchtbaren Auswirkungen gehören hierher. Von dem Kernpunkte und Ausgangspunkte seiner oft scharfsinnigen Studie — dem Nichtvorhandensein einer Bedrohung Westeuropas durch Hitler, vermag der Autor jedoch nicht zu überzeugen.

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