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Und sie bewegt sich doch

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Die Schweiz gilt als steiniger Boden für parteipolitische Experimente. Um so mehr ist neuen Parteien oder Bewegungen, die es zu Anfangserfolgen oder gar zu spektakulären Sitzgewinnen bringen, die Beachtung und Aufmerksamkeit der politischen Kreise sicher. Gelingt es jedoch einmal einer neuen Gruppe, auf den ersten Anhieb in irgendeinem städtischen oder kantonalen Parlament gleich eine zweistellige Zahl von Mandaten zu erobern, dann verwandelt sich das Interesse in Verblüffung. Und Grund zur Verblüffung hatten unlängst die Genfer Parteien; es gab dort am Abend des 24. Oktober, als das Ergebnis der Wahlen in die kantonale Legislative, den Großen Rat, bekannt wurde, viele lange Gesichter, hatte doch eine politische Gruppierung, welche allen Parteien einen harten Kampf angesagt hatte, im ersten Anlauf zehn der 100 Ratssitze gewonnen. Die Gruppe nennt sich „Vigilants“, zu deutsch: die Wachsamen.

Die Gleichgültigen und die „Wachsamen“

Bei den Genfer Wahlen haben sich — und das ist typisch für die besonders in der Westschweiz seit Jahren um sich greifende politische Interesselosigkeit — nicht einmal die Hälfte der Bürger zur Ume bemüht. Zahlreiche Wohlstandsbürger Helve-tiens überlassen das „schmutzige Geschäft“ (um einen Ausdruck von W. Dirks zu verwenden) den Politikern und beschränken ihre Teilnahme am staatlichen Lebens aufs schimpfen. Sie, und mit ihnen die bürgerlichen Parteien, die als die Geschlagenen aus den Großratswahlen hervorgingen, haben sich die Augen gerieben, als sie vom Erfolg der „Wachsamen“ hörten. Warum? Was wollen denn die „Vigilanten“ Besonderes? Auf die einfachste, für ihre unbestimmte Programmatik typische Formel gebracht: sie wollen darüber wachen, „daß Genf Genf bleibt“, auf daß die Gegner nicht zu Fremdlingen in ihrer eigenen Stadt werden.

Von der wirtschaftlich-sozialen Wachstumskrise...

Die Stadt Calvins steht mitten in einer durch die Hochkonjunktur und lie internationale Bedeutung Genfs /erursachten Wachstumskrise, die lier zwar besonders stark akzen-nüert, aber irgendwie doch für die Schweiz als Ganzes kennzeichnend st. Die Rhonestadt hat sich in den etzten Jahren so stürmisch ausge-iehnt, daß den Behörden und der Wirtschaft die Probleme regelrecht aber den Kopf gewachsen sind. Ins->esondere die Anpassung der Infrastruktur hat mit dem Wachstum der ätadt und der Satellitensiedlungen licht Schritt zu halten vermocht. Es fehlt allenthalben an Wohnungen — and wo welche noch zu haben wären, sind sie für den Großteil der Genfer unerschwinglich. Darüber hinaus zeigen sich die öffentlichen Dienste den axplosiv gesteigerten Anforderungen licht gewachsen. Die Straßen sind /erstopft, es fehlt an Parkplätzen, m Schulrauim, Spitalbetten, Pflegepersonal und anderem mehr. Diese Unzulänglichkeiten gehen wie gesagt, zum Teil auf das Konto der in der ganzen Schweiz zu beobachtenden, mit Hilfe ausländischer Arbeitskräfte und fremder Gelder hochgezüchteten Konjunktur und, was den Rückstand im Wohnungsbau betrifft, zum Teil auf die staatliche Konjunkturdämpfungspolitik.

„Echte“ und andere Genfer

Zum andern sind Genfs Schwierigkeiten auf den Umstand zurückzuführen, daß die Stadt als europäischer UNO-Sitz und als Domizil zahlreicher weiterer internationaler Organisationen und Büros eine stets noch rapid steigende Zahl fremder Beamter mitsamt ihren Familien zu beherbergen hat und daß es Platz schaffen muß für zahllose Konferenz- und Repräsentationsräume sowie für Sekretariate der hier niedergelassenen internationaler Dienste. Zwar greift bei der Beschaffung der für die letztgenannter Zwecke benötigten Mittel die Eidgenossenschaft der Republik Geni etwas unter die Arme, aber die Lasten, die der Genfer Staatskasse und damit dem Steuerbürger zufallen, sind doch recht groß. Sie werder von Leuten wie den „Wachsamen' um so drückender und ungerechte:

empfunden, als die Beamten der internationalen Organisationen steuerlich begünstigt sind, so daß dem verärgerten Genfer Kleinbürger, der keine Wohnung, keinen Parkplatz und kein Spitalbett findet, die internationale Stellung und Bedeutung seiner Stadt bald einmal gestohlen werden könnte. Die „echten“ Genfer fühlen sich, abgesehen von der Überflutung durch die fremden Beamten, ohnehin durch die starke Kolonie hier niedergelassener Deutschschweizer in ihrer kulturellen Eigenart bedroht und fürchten, Genf sei auf dem Wege zur Selbstentfremdung.

Politische Malaise

Der Genfer Kleinbürger hat also das Gefühl, die int-rpationalen Geister, die man gerufen hat, nicht mehr los zu werden. Von da an bis zur

Xenophobie ist in einer Zeit, da in der Schweiz jeder fünfte Einwohner ein Ausländer ist und da der Genfer wegen diesen „chaibe Uslän-der“ mehr steuern muß, um dafür weniger für sich selber zu erhalten, nicht ein langer Weg. Die „Vigilants“ haben ihn zudem durch die politische Ausbeutung des Unbehagens noch kräftig verkürzt. Die Möglichkeit, ihresgleichen ins Parlament zu schicken, hat fürs erste der Malaise als Ventil gedient.

Das wäre an sich noch nicht schlimm, auch wenn derartige Demonstrationen den eidgenössischen und den Genfer Behörden angesichts des Rufes der Rhonestadt als Ort der internationalen Begegnung und der Weltoffenheit unangenehm sein muß. Bedenklicher stimmt jedoch der Umstand, daß die Chefs der Vigilanten zu einem Radikalismus, wenn nicht gar Extremismus neigen, der in Verbindung mit ihrem Appell an nationalistische Affekte unschöne Erinnerungen an die Zeit des Westschweizer Faschistenführers Oltramare und seiner Kohorten wachruft. Diese Erinnerung stellt sich nicht zufällig ein, denn unter den Vigilantenführern gibt es solche, die in den dreißiger Jahren hinter der Fahne Oltramares marschiert sind und seine Parolen mitgebrüllt haben. Ob Leute mit solcher Vergangenheit berufen seien, über den reinen Genfer Geist zu wachen und sich zu Gralshütem seiner Eigenart und seiner Treue zu sich selbst zu machen, ist höchst fraglich — und darüber hinaus empfindet man es in Helvetien als fragwürdig, daß ein kräftiger Harst von Genfer Wählern sie zu diesem Wächteramt durch die Abordnung ins Parlament legitimiert haben. Das ist fürs erste ein rein genferisches Phänomen, denn bisher zeigen sich nirgendwo in der übrigen Schweiz Anhaltspunkte dafür, daß die Vigilantenbewegung auszustrahlen vermöchte oder wünschte oder daß sie Nachahmer fände. Di« Genfer müssen daher selber mit dieser im übrigen durch kleinbürgerliche Züge gekennzeichneter, in manchem an den französischen Piha-dIsmus erinnernden Bewegung fertig werden.1 Ob und wie schnell dies der Genfer Politik und Wirtschaft gelingt, hängt zum guten Teil von der Lösung der eingangs erwähnten wirtschaftlichen Wachstumsprobleme ab. Und damit sind wir auch schon beim gesamtschweizerischen Aspekt des Vigilantenproblems.

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