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Unfallsteigerung oder Unfallverhütung?

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Es gibt Tatsachen, die jedem Menschen in die Augen springen sollten, von der breiten Öffentlichkeit jedoch fast geflissentlich übersehen werden. Dazu gehört die zunehmende Unfallsgefährdung unseres Volkes. 1947 waren bei der österreichischen allgemeinen Unfallversicherungsanstalt früher „Arbeiter- Unfallversicherungsanstalt“ 75.000 Unfälle gemeldet, 1948 waren es bereits 90.000 bei einem Gesamtversicherungsstand von 1,379.000 in Industrie, Handwerk und Bergbau Beschäftigten, Jeder fünfzehnte Versicherte wurde also das Opfer eines Unfalls. Berechnet man die durchschnittliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit nur mit zwei Tagen, was weit unter der Wirklichkeit liegt, so bedeutet das einen Produktionsausfall von 180.000 Tagen im Jahr, das ist so viel wie die gesamte Schichtenzahl einer steirischen Maschinenfabrik von 600 Arbeitern und Angestellten.

Noch höher als Waren und Güter steht uns der lebende Mensch. Wer von Betriebsunfällen spricht, denkt meist bloß an Spitalspflege und etwaige Renten. Damit ist der Unglückskreis lange nicht erschöpft. Nicht weniger als 800 Unfälle von den erwähnten 90.000 endeten tödlich, andere zogen lebenslanges Siechtum nach sich. Selbst dort, wo die Arbeitskraft teilweise erhalten blieb, sind oft Umschulungen nötig und beginnt meist die Vorsprache beim Arbeitsamt um einen neuen Posten. Der Verunglückte erreicht nicht mehr seinen früheren Verdienst und muß sich und seiner Familie Entbehrungen auferlegen. Strafverfahren und Schadenersatzklagen entstehen in schwerer Menge. Ein Unheil, das durch eine kleine Nachlässigkeit verursacht wurde und sich im Bruchteil einer Minute abspielte, setzt zahlreiche Rechts- und Sozialstellen, Behörden und Anstalten auf Monate in Bewegung. Die angeführten Ziffern bilden jedoch nur einen kleinen Ausschnitt aus der Gesamtstatistik; denn zu den erwähnten 90.000 Industriearbeitern kamen 2 2.0 0 0 1 a n d- und forstwirtschaftliche Unfälle und 8000 Unfälle von Bahnbediensteten; selbst diese Ziffern erschöpfen noch lange nicht unseren Tatbestand; denn was sich überdies alljährlich im Straßenverkehr, auf Sportplätzen, beim Bergsteigen, ja selbst in der Häuslichkeit ereignet, kann niemand berechnen. Die Zahl der Wiener Verkehrsunfälle allein betrug im Vorjahr laut Angabe der Polizeidirektion 8000 darunter 238 Tote. Berücksichtigt man die täglichen Unfallsberichte in unserer Presse, so muß man ohne Übertreibung eine schwindelnde Gesamtziffer annehmen, gegen die selbst die Zahl der 113.000 versehrten Österreicher aus dem zweiten Weltkrieg und die 53.000, die noch vom ersten Weltkrieg stammen, zurücktritt.

Gewiß verläuft manches Geschehnis harmlos und bleibt ohne weitere Folgen; gewiß gelangten von den obenerwähnten 90.000 Menschen nur 6 Prozent in den Rentenbezug; dafür aber kommt manches schwere Unglück nicht zur öffentlichen Kenntnis.

Wir können also von einer Unfallse u c h e sprechen, und diese Seuche nimmt zu. Zum Glück ist sie nicht unüberwindlich. Man hat behauptet, daß zwei Drittel aller Unfälle vermeidbar wären. Andere Fachleute erklären diese Zahl für übertrieben. Alle sind aber darüber einig, daß Leichtfertigkeit, Gedankenlosigkeit und Ungeschicklichkeit die Hauptursachen bilden. Leichtsinnig ist selbstverständlich nicht nur der Arbeiter, der von einer Maschine den Riemen abzieht, ohne sie vorher abzustellen, sondern auch der Unternehmer, der das Radgetriebe nicht entsprechend verwahrt. Jedenfalls stehen in erster Reihe nicht äußere Ereignisse, wie Blitzschlag, Lawinen, Selbstentzündung, Maschinenbruch, Versagen einer scheinbar tadellosen Bremse, sondern menschliche Untugenden und Schwächen, die wir, wie alle Untugenden, bekämpfen können. Der besondere Volksfeind ist der Alkohol, der die Aufmerksamkeit schwächt und überdies seine Opfer zu Tollkühnheiten verlockt, die sie’ nüchtern nie begehen würden. Man denke nur an die zahllosen Autounfälle, deren sich angeheiterte Fahrer schuldig machen.

.Im Zeitalter der Aufklärung und Philan- tropie gab es Staatsgesetze, die den Bürger mit Strafe bedrohten, der schuldhaft die Rettung eines in Gefahr befindlichen Menschen unterließ. Heute bedeutete es bereits einen Fortschritt, würde wenigstens niemand seinen Nächsten schuldhaft oder leichtfertig in Gefahr bringen.

Berufene Kreise treten seit langem zur Abwehr an. Die Unfallversicherungsanstalten besitzen einen ausgebreiteten Verhütungs- und Aufklärungsdienst. Die hiefür verwendeten Mittel wirken zweifellos nützlicher als Renten, die im einzelnen Falle oft spärlich sind und in der Summe doch unsere Wirtschaft bedeutend belasten. Obwohl die Durchschnittsrente der erwähnten allgemeinen Versicherungsanstalt nur 110 Schilling monatlich beträgt, wurden dort 1948 über 100 Millionen Schilling laufende Beiträge ausgezahlt, wozu noch rund 10 Prozent Nebenkosten kommen. Oder, um ein anderes Beispiel anzuführen, die österreichische Land- und Forstsozialversicherungsanstalt hat laut einer von ihr veröffentlichten Berechnung für einen Holzarbeiter, der einen Fuß verlor, im Laufe von zehn Jahren 55.696 Schilling ausgegeben.

Auch die staatliche Arbeitsinspektion versieht einen Verhütungsdienst, der leider zufolge Personalmangels nicht in wünschenswertem Ausmaß erfolgen kann. Jedenfalls zählt es zu den Obliegenheiten dieser wichtigen Behörde, darauf zu sehen, daß in den Betrieben alle Sicherheitsvorkehrungen bestehen, und keine schadhaften oder gefährlichen Maschinen, keine ungeschützten Freileitungen verwendet werden, sowie daß nicht infolge allzu großer Inanspruchnahme der Belegschaften oder Aufenthalt in unge-eigneten Arbeitsräumen unfallfördernde Übermüdung eintritt. Die dritte Stelle bilden die Arbeitsämter, die in mangelhafte Betriebsstätten keine Kräfte vermitteln sollen und-in ihren Nach- und Umschulungen Gelegenheit zu zweckentsprechendem Unterricht haben. Das Wiener Landesarbeitsamt hat übrigens im Einvernehmen mit der Allgemeinen Versicherungsanstalt ältere arbeitslose Ingenieure zu Sicherheitsingenieuren umgeschult und hiemit gute Erfahrungen gemacht. Größere Werke besitzen neben solchen Fachleuten auch „Unfallverhüter“, die dem Betriebsrat angehören.

Gleich anderen Staaten veranstaltet Österreich Unfallverhütungsausstellungen, Vorträge für Fachkreise oder für die breite Öffentlichkeit, Erziehungswochen. Leider finden sie bei Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Frauen und Jugendlichen noch nicht das wünschenswerte allgemeine Verständnis. Hier sei ehrend eines österreichischen Vorkämpfers der Unfallverhütung gedacht, des in Eisenerz geborenen Maximilian Kraft 1844 bis 1919, der Professor an der Technischen Hochschule in Brünn und Graz und später Ausschußmitglied des österreichischen Ingenieur- und Architektenvereines in Wien war, einer unserer Meistertechniker, der in seinem schier grenzenlosen Schaffensgebiet, das von der Denkmalpflege bis zur Altstoffverwertung reichte, auch diesem sozialen Werke der Unfallbekämpfung sich gewidmet hat.

Zu den Kriegsopfern gesellt sich nun eine neue und noch größere Armee „beschränkt Einsatzfähiger“, wie diese Sorgenkinder der Arbeitsämter heißen.

Alle Fachleute sind sich darüber einig, daß in unserem Kampf die Hauptsache nicht verbesserte Maschinen und verschärfte Verkehrsvorschriften sind, sondern die seelisch-geistige Beeinflussung des Menchen im Hinblick auf Selbstbedacht, Rücksicht und Umsicht. Neben der sinnlosen Hast, mit der wir durchs Leben jagen, bildet die Gleichgültigkeit gegen eigenes und fremdes Leben, die heutige Ellenbogentaktik eine Hauptursache, die alljährlich Tausenden die Gesundheit kostet und Familienernährer sowie lebensfrische junge Menschen zu Krüppeln macht. Gegen diese Volksseuche gibt es nur ein Mittel: „Bekämpfung durch das ganze Volk!“

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