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Unfaßbar, dieses Geschehen...

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KOMMANDANT IN AUSCHWITZ. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf H ö ß. Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart. 1S4 Seiten. Preis 15.80 DM

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KOMMANDANT IN AUSCHWITZ. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf H ö ß. Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart. 1S4 Seiten. Preis 15.80 DM

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Unter den ersten Gefangenen der nationalsozialistischen Diktatur hat es wohl wenige gegeben, die nicht von der Frage gequält wurden, wie es geschehen konnte, daß diesem Regime vom Tag seiner Machtübernahme eine anscheinend unerschöpfliche Zahl von Handlangern zur Verfügung stand, denen es keine sichtliche Ueberwindung kostete, wehrlose Menschen, die ihnen nichts zuleide getan hatten, in den Kot zu treten, sie seelisch und körperlich zu foltern und, mit oder ohne Befehl und oft mit ausgesuchter Brutalität, ums Leben, zu bringen. War es denn möglich, daß es in Deutschland so viele hemmungslose Sadisten gab oder solche Scharen von Gewaltverbrechern, die keiner Regung menschlichen Mitleids mehr fähig waren? Oder wo sonst im deutschen Volke hatten die neuen Machthaber alle diese willigen Werkzeuge ihres unmenschlichen Treibens gefunden? Darüber sind ungezählte tiefgründige Untersuchungen angestellt und ungezählte Bücher geschrieben worden, aber nichts kann für den Gegenstand aufschlußreicher sein als die autobiographischen Erinnerungen, die einer der erfahrensten Praktiker des nationalsozialistischen Massenmordes, Rudolf Höß, Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, hinterlassen hat; Aufzeichnungen, deren Authentizität ebenso einwandfrei feststeht wie der von außen völlig unbeeinflußte Eifer des Autors, seine Lebensgeschichte möglichst vollständig zu Papier zu bringen.

Höß entstammte einer achtbaren und nicht un- begüterten bürgerlichen Familie, die im Laufe der Generationen viele Soldaten gestellt hatte. Sein Großvater war im Krieg 1870/71 als Regimentskommandant gefallen, sein Vater hatte, bevor er den Kaufmannsberuf ergriff, bei der deutschen Schutztruppe in Ostafrika gedient. Dieser Tradition entsprechend, wurde er zu strengster Pflichterfüllung erzogen; eine Maxime, die ihm, wie er schreibt, in Flqisch und Blut überging. Aber noch etwas anderes blieb ihm von seiner frühesten Kindheit bis an sein Ende treu: die Unfähigkeit zu einer menschlichherzlichen Bindung. Er achtete und verehrte seine Eltern, aber lieben konnte er weder sie noch seine drei Schwestern, die ihm sehr zugetan waren; seine Liebe gehörte den Tieren. Das Wesen, das dem Heranwachsenden gefühlsmäßig am nächsten stand, war sein schwarzes Pony. Mit 16 Jahren — der Vater war zwei Jahre vorher gestorben — sagte er sich von seiner Familie und dem tief Religiösen Milieu, in dem er auferzogen worden war, los und erwirkte seine Aufnahme in ein badisches Dragonerregiment, welches im Verband der türkischen Armee im Nahen Osten eingesetzt war. Nach Kriegsende 1918 fand er „wieder eine Heimat, ein Geborgensein in der Kameradschaft der Freikorps, die im Baltikum einen an Grausamkeit nicht zu überbietenden Privatkrieg führten. Der Parchimer Fememord, ein bestialisches Verbrechen, begangen an einem fälschlich des „Verrats“ Beschuldigten, hatte für Höß als Rädelsführer und Mittäter eine zehnjährige Zuchthausstrafe, von der er allerdings nur etwa die Hälfte abdienen mußte, zur Folge. Er haßte und verachtete die Weimarer Republik und ihre Regierung, aber trotzdem setzte er seinen Stolz darein, die ihm als Strafgefangenen auferlegten Pflichten vorbildlich zu erfüllen. Reue für seine Untat war freilich nicht dabei, im Gegenteil, er war damals, ebenso wie noch ein Vierteljahrhundert später, als er seine Erinnerungen niederschrieb, „fest davon überzeugt, daß dieser Verräter den Tod verdient hatte ... (so) richteten wir ihn nach einem ungeschriebenen Gesetz, das wir uns ... selbst gegeben hatten“. Auf Grund einer politischen Amnestie 1928 aus der Strafanstalt entlassen, trat er sofort den „Artamanen“ bei — Mitglied der NSDAP war er schon seit 1922 —, um in dieser „Gemeinschaft junger, volksbewußter Menschen ... aus der Jugendbewegung aller nationaldenkenden Parteirichtungen hervorgegangen ... zurückzukehren zum Lebensquell des deutschen Volkes, zur gesunden bäuerlichen Siedlung“. Doch seine bäuerliche Betätigung hielt nicht sehr lange an; die „Verlockung, wieder Soldat werden zu können“, war zu stark, zumal sie vom „Reichsführer SS“, Heinrich Himmler, selbst ausgegangen war. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ließ er sich von der allgemeinen zur aktiven SS übersetzen; im Herbst 1934 erfolgte seine Einteilung bei der späteren SS-Totenkopfstandarte Oberbayern, der damals noch unter der Bezeichnung Wachtruppe Oberbayern der „Schutz“ des Konzentrationslagers Dachau oblag. Er war also dort angelangt, wo eine gründliche Schulung in Unmenschlichkeit ihn dazu befähigen sollte, seine späteren Posten als Schutzhaftlagerführer in Sachsenhausen, als Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz und schließlich als Chef der politischen Abteilung der Inspektion der Konzentrationslager zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten auszufüllen. Wie heißt es doch in einer Notiz des Leiters des SS-Personalhauptamtes nach einem Besuch in Auschwitz im Mai 1943: „Höß ist unbedingt befähigt, in leitenden Stellen auf dem Gebiet des KZ-Wesens eingesetzt zu werden. Seine besondere Stärke ist die Praxis."

ln seinen Erinnerungen kommt Höß immer wieder auf die eiserne Härte zu sprechen, die Himmler von allen Mitgliedern der SS und vor allem natürlich von den Offizieren dieser Parteigarde verlangte. Daß es dem Protege des „RFSS“ nicht sehr schwer fiel, sich das Geforderte anzueignen, zeigt unter anderem die beiläufige Art, in der er die erste Exekution im Konzentrationslager Sachsenhausen erwähnt, an der er persönlich beteiligt war. Die Hinrichtung, es handelte sich um einen staatenlosen kommunistischen Arbeiter der Junkers-Werke, der nach Kriegsausbruch Luftschutzarbeiten verweigert hatte, war von Himmler ohne irgendein Gerichtsverfahren angeordnet worden und mußte binnen einer Stunde durchgeführt werden, „ln der Sandgrube auf dem Industriehof wurde schnell ein Pfahl eingegraben. Und schon kamen auch die Wagen angefahren. Der Kommandant bedeutete dem Verurteilten, daß er sich an den Pfahl zu stellen hätte. Ich führte ihn hin. Ruhig stellte er sich bereit. Ich trat zurück und gab den Feuerbefehl — er sank in sich zusammen und ich gab ihm den Fangschuß. Der Arzt stellte drei Herzdurchschüsse fest. . .“ Für Höß gab es nur eines, was Gültigkeit hatte: der Befehl. Ob es um den Vollzug einer barbarischen Prügelstrafe ging oder die Hinrichtung eines einzelnen Häftlings oder die Errichtung möglichst leistungsfähiger Anlagen zur Massenvertilgung von Menschen, sein höchster Ehrgeiz lag darin, den empfangenen Auftrag genauestens und pünktlichst auszuführen. In seinen Memoiren hält er mit mancherlei Beschwerden nicht zurück. Er beklagt den Mangel an Disziplin und Ordnung und die unhygienischen Zustände in den Konzentrationslagern; er jammert über die dienstliche Unzulänglichkeit und den Eigensinn mancher seiner Untergebenen; er empört sich über die Berufsverbrecher, mit denen er zu tun hatte, über die Menschen, „denen moralische Begriffe, wie Treu und Glauben, lächerlich sind“, über die „böswilligen, bösartigen, grundschlechten, rohen, niederträchtigen, gemeinen Naturen“ unter den KZ-Wächtem oder „Kapos“, die zur Befriedigung ihrer niedrigen Triebe die Gefangenen vorschriftswidrig drangsalierten. Aber darüber, daß er sich unmittelbar mitschuldig gemacht hat an einem der monströsesten Verbrechen der Weltgeschichte und persönlich verantwortlich war für die Vernichtung von mehr als zwei Millionen Menschenleben — um die genaue Zahl hat er sich nicht gekümmert —, sind ihm keine grauen Haare gewachsen. War der von ihm geleitete Massenmord „richtig“ oder „falsch"? Das war für ihn keine moralische Frage,

sondern einzig eine Frage der Zweckmäßigkeit; er war sich, mitunter nicht ganz sicher, ob die Massenliquidierung, ohne Unterschied des Alters und Geschlechts, von Juden, Zigeunern, Polen, Russen und anderen „rassisch Minderwertigen" den nationalsozialistischen Machtinteressen letzten Endes dienlich sein würde. Aber dieser Gedanke streifte ihn nur gelegentlich. Er hatte andere, wichtigere Sorgen. Da war zunächst die um die Beschaffung des „richtigen“, das heißt leicht erhältlichen und zuverlässig wirkenden Giftgases. Und dann das Problem, das ihm dauernd schweres Kopfzerbrechen verursachte: Infolge des durch den Krieg bedingten Materialmangels begegnete der immer wieder notwendig gewordene Ausbau der Verbrennungsanlagen in Auschwitz großen Schwierigkeiten, und zwei der Oefen, die ihm zur Verfügung standen, konnten in 24 Stunden nicht mehr als neuntausend Leichen (I) bewältigen, ohne Schaden zu nehmen ...

Rudolf Höß schließt seine Erinnerungen mit den Worten: „Mag die Oeffentlichkeit ruhig weiter in mir die blutdürstige Bestie, den grausamen Sadisten, den Millionenmörder sehen — denn anders kann sich die breite Masse den Kommandanten von Auschwitz gar nicht vorstellen. Sie würde doch nie verstehen, daß der auch ein Herz hatte, daß er nicht schlecht war.“ Diese Worte charakterisieren nicht nur den, der sie niedergeschrieben hat. Sie kennzeichnen die zwiespältige Natur, die sich bei so Vielen Deutschen findet; die verhängnisvolle Mischung in der Seele des deutschen Spießers, bei dem sich Gutmütigkeit, kitschige Sentimentalität und Anständigkeit in seinem bürgerlichen Leben mit der steten Bereitschaft verbinden, einen ideologischen Fanatismus zu entwickeln, der ihn jedes Gebot vergessen läßt, außer der „heiligen Pflicht“ blinden und unbedingten Gehorsams gegenüber dem erkorenen Götzen. Der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes ist kein Beweis, daß es nie wieder zu einer solchen Verirrung des deutschen Pflichtgefühls kommen kann.

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