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Ungarn heute

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Nicht nur von Hitlers deutschem Joch wurde Ungarn befreit, auch einer tausendjährigen geschichtlichen Entwicklung wurde der Schlußpunkt gesetzt, als die Truppen der Sowjets Buda eroberten.

Die blindwütige Zerstörerwut- der Geschlagenen und die naturgemäße Zerstörung durch die Dreinschlagenden entblößten das Land fast aller materiellen Güter.

Die Organisation des gewesenen Staates bedeutete für den Sieger mit Recht das rote Tuch; die Träger und Lenker dieser Organisation erblickten in den hunderttausende-weise aufblitzenden fünfzackigen roten Sternen das Fanale des Weltunterganges: sie flohen mit den wohl auch von ihnen gehaßten Fliehenden oder sie verkrochen sich in auswegloser Finsternis eines lähmenden Schreckens. Die Räder des Staatsapparates standen still und zerbrachen wie die Räder seiner Eisenbahnen. Es gab keine Lokomotiven, aber auch keine Staatsbeamtenschaft. Still stand die Uhr der ungarischen Geschichte und das Land lag ausgebreitet dem zu Füßen, dessen Hand das Pendel wieder in Bewegung setzen würde.

Das einzige Wort, das damals die Ungarn laut, ohne Angst aussprechen zu dürfen glaubten, war das russische Wort „Towa-risch“. „Towarisch“ war das Zauberwort, das die Gewißheit verschaffte, daß man noch lebt und ein sprechendes Wesen ist; „Towarisch“ war die Mauer, an die gelehnt man wieder den einen Fuß vor den anderen zu setzen begann; „Towarisch“ galt als der einzige Talisman. Das Wundermittel, das uns in namenlosem Schrecken vor Aberglauben bewahren würde, ist noch nicht erfunden.

Die Hand, die das Pendel wieder in Bewegung setzte, war, wie so oft in der Geschichte der Menschheit, ein Wort. In Ungarn lautete es „Bodenreform“. Die weitere Geschichte wird es erweisen, ob es wiederum bloß ein Wort bleiben wird. Daß die Bodenreform in Ungarn von einer Partei, die sich überwiegend auf das städtisch-industrielle Proletariat stützt, deren Führer wohl kaum eine Kuh von einem Ochsen, eine Hafersaat von Klee unterscheiden können, ausgeführt wurde, dies ist eine geschichtliche Tatsache. Es gehört nicht viel dazu, zu erkennen, daß es sich hiebei in erster Linie um ein Politi-kum handelte. Man gesteht es auch in Ungarn ehrlich und offen ein. Bis zu einem gewissen Punkt ehrlich, bis zu einer gewissen Parteilinie offen. Denn das kommunistische Rundschreiben, worin davon die Rede ist, wie die neuen Bauern, die von dem erhaltenen Boden unmöglich selbständig existieren könnten, nach und nach, Schritt für Schritt in Kolchosen zusammengefaßt werden sollen, dieses reservate Rundbekenntnis erhielten nur hundertprozentige Parteimitglieder, nicht aber die, die es angeht, die neuen und alten Jauern.

In keinem Lande Europas war eine Reform der Bodenverteilung notwendiger als in Ungarn. Während aber seinerzeit in Rußland die Parzellierung der Großgrundbesitze mit offenem kommunistisch-kollektivistischen Visier durchgeführt wurde, geschah dies in Ungarn unter der Marke „Demokratie“. Denn nur so war es möglich, die Partei der Unorganisierten, die Partei der Programmlosen, aber die Partei der überwiegend größten Massen des Landes, die Kleinlandwirtepartei, vor den Karren der „Bodenreform aus Budapest“ zu spannen.

Während das Land von „Bodenverteilung“ widerhallte, wurden in lautloser, aber emsiger Stille alle, alle herrenlos gewordenen Machtpositionen besetzt, neue geschaffen und besetzt, besetzt, besetzt. Im Bajonettschatten besetzte die Partei der neugebackenen ungarischen „Towarisch'-, auf die indessen die echten und erprobten Sowjet-Towarisch mit begreiflicher Verachtung herabschauten, vor allem die drei tatsächlichen Machtpositionen im machtlosen Staate: Polizei, Justiz und Presse. Denn, daß ein ungarisches Ministerium des Äußern in der Gegenwart nur eine Farce sein kann, dies leuchtet auch dem Ignoranten ein. Dieses Ministerium ist die unangetastete „Machtposition“ der Kleinlandwirtepartei.

Es ist eine absolute Wahrheit, wenn von ungarischer Seite immer wieder betont wird, daß die Wahlen in Ungarn gewiß frei waren. Abgesehen von Propagandamitteln — und diese gelten bekanntlich nicht als Beeinträchtigung des freien Ermessens —, wurde auf niemanden ein Zwang ausgeübt. Die Wahl erbrachte eine starke Zweidrittelmehrheit für die Kleinlandwirtepartei. Wie ist diese Mehrheit innerlich beschaffen?

Es scheint, man könnte keinen besseren Vergleich ziehen, als wenn man sie mit dem Aufbau des Allindischen Kongresses gleichstellt, wobei den Kommunisten die Rolle Englands zukäme. In ihr, in dieser Mehrheit, sind die heterogensten Wünsche und Seufzer, Sehnsüchte und Träume vereinigt. Aber außer der Negation nach links verbindet keine zehn Leute etwas gemeinsam Positives in ihr. Neben dem wirklichen Landwirt, der weitab der Politik zu stehen gewohnt ist, ist heute jeder „Kleinlandwirt“, der früher einmal von den Bauern kaum mehr wußte, als daß sie die Leute mit einen Stall-gerudi und zuweilen großen Stiefeln sind. Vom Fabriksbesitzer herunter zum eingefleischten Amtsdiener, vom Universitätsprofessor bis zum Straßenpropheten astrologischer Zukunftsdeutung ist heute jeder unter den Wählern der „Kleinlandwirtepartei“, falls er noch nicht „erfaßt“ ist. In der Partei selbst kann von einer Erfassung weder in geistigem noch physischem Sinne gesprochen werden. In der Kommunistischen Partei dagegen sind beide Komponenten Tatsachen, mit denen jedes kommunistisdie Parteimitglied zu rechnen hat, in blutigem Ernst zu rechnen hat. Es ist klar, daß eine straff organisierte Minderheit wie die Kommunistische Partei, mit einem unorganisierten Haufen wie die Kleinlandwirtepartei machen kann, was sie will; sie könnte mit ihr auch dann madien, was ihr gutdünkt, wenn sie, eine verschwindend kleine Partei wäre. Dem ist aber nicht so. Und sie wächst mit jedem Tag. Und daran ist die Zusammensetzung der Kleinlandwirtepartei schuld.

Das Vorhandensein gewisser Grüppdien in der Kleinlandwirtepartei lassen die neugebackenen Bauern befürditen, daß die Dinge wieder umgekehrt würden, irn Moment, wo jene von „ihren“ Freunden, den Westmächten, dazu instand gesetzt würden. Da es von dieser westlichen Seite aus bis jetzt unterlassen wurde, glaubt die große Masse der „Beteilten“, im „Westen“ nur ihren Feind, im „Osten“ nur ihren Beschützer erblicken zu müssen, und hängt ihr Schicksal an dasjenige der Kommunistischen Partei. Widerwillig, lustlos, aber dennoch. Je mehr aber die neuen Bauern sich krebsrot verfärben, um so größer wird der Argwohn in den Herzen der alten Bauern. Und hier sind die neuen Trümpfe für die Spieler mit dem Land.

Das alte „Divide et impera!“ ließ den Dorfbauern, der mit seinen paar Joch mitunter ein ärmerer Teufel war als der Lohnarbeiter des Feudalherrn, seit jeher gerne mit unbegründetem Besitzstolz auf den „Bcresch“ herabblicken. Heute fürchtet er in ihm den Waffenbruder der „neuen Herren“. Die Furdit der Unwissenden aber — und Jahrhunderte sorgten hier dafür, daß der Bauer unwissend blieb — geht stets in Haß über. Ist es einmal so weit und stoßen die beiden Klassen zusammen — und es kann nicht mehr allzu lange dauern —, dann — oh, es ist ein schlimmes, drohendes Dann.

Man werfe einen Blick auf die ethnographische Karte Europas und man wird sofort verstehen, worum es in Ungarn geht; warum es in Ungarn immer wieder „Verschwörerprozesse“ gibt; warum das Land in stetiger, hirn- und nervenzermalmender Aufregung gehalten wird.

Die oberste Hierardiie der ungarischen Kommunistisdien Partei ist die Stelle, wo wirklidi entsdiieden wird, von wo aus die Weisungen nadi allen Teilen des Landes ergehen — denn die Parlamentsfraktion der Kommunistischen Partei mit ;hren Männern nadi Muster „Meine Abgeordneten! Männer des Deutsdien Reichstages!“, die zählen da wahrhaftig nidit mit —. Es ist eine große und gesdiiekte Generaldirektion, gegen die die Unternehmungen der Fugger, der Rotschilds fast nur als armselige Greislergeschäfte erscheinen.

Und wieder ist jede Freiheit verstummt. Denn ein Wort, eine Geste genügt, daß einer vorerst auf eines der verlassenen Sdilösser zu versdiwinde. Zweifellos sind unter den „Verschwörern“ — zur Versdiwörung kann in Ungarn jedes beliebige Tisch-, Straßen-, Eisenbahngespräch gestempelt werden — auch solche, die das Prädikat „reaktionär“, „volksfeindlich“, „antidemokratisch“ voll und ganz verdienen. Aber in der Generaldirektion, in der wahrlich keine Dummköpfe sitzen, weiß man genau, wie ungefährlich diese Leute sind. Kein Mensch in Ungarn wünscht die Wiederkehr der Zeiten, wo in einem Zimmer vier Gutsklavenfamilien hausen mußten, während das Bild des Erlöserheilandes gezwungen wurde, auf all jenes unsagbare Elend herabzuschauen. Jene gegenüber schwerem sozialen Unrecht verständnislose Großherren sind in Ungarn nun einmal entwurzelt und völlig ungefährlich geworden. Um die geht es auch gar nicht in den nun sdion chronisch gewordenen „Versdiwörer“-Prozessen. Sie sind nur der Vorwand zum Vorgehen gegen die, die dem „Großen Konzept“ wirklich gefährlich werden könnten, die, aus dem Volk stammend, mit dem Volk nodi verbunden sind, deren Blick sich geweitet hat; denen es klar geworden ist, daß es ein ungebundenes, persönliches Sdiicksal außerhalb des eigenen Volkes nicht gibt. Um die wirklich unga-risdi-fortschrittlichen Elemente geht es, um die wirklidien Demokraten. Die müssen wenigstens außer Landes geschreckt werden, wenn die große Gesdiäftsredinung stimmen soll.

Der Ministerpräsident und der Präsident der größten Partei des „demokratisch-parlamentarisdi“ regierten Staates sind heute außer Landes und viele andere sind ihrem Beispiel gefolgt. Der in neuen Schrecken versetzte Haufe der Kleinlandwirtepartei gab bereitwillig neue Konzessionen. Neue Positionen wurden wieder erobert, die wieder ausgebaut, gesichert und gefestigt werden. Die „Verstaatlidiung“ der Banken bedeutet die völlig einseitige Orientierung der ungarischen Wirtschaft. Das kleine, schwache Ungarn ißt von nun an aus einer Schüssel gemeinsam mit der riesigen mächtigen UdSSR Kirschen.

In Ungarn erhofft man trotz allem eine Wendung zum besseren, und diese Hoffnung reicht tief bis in die Schichten der Kommunistisdien Partei hinein. Es gibt immer noch einen gesunden, unverbrauchten Kern des magyarischen Volkes, das Bauerntum. Es geht ruhig seiner täglichen Arbeit nach, ißt seinen Paprikaspeck, trinkt seinen roten Wein, grüßt beim Vorbeigehen das Bild seines Herrn, des einzigen Herrn, den der ungarisdie Bauer seit je ohne Murren anerkannt hat, das Bild seines gekreuzigten Erlösers. In einem Dorf, das 291 erwachsene Männer hat, zählte ich in der Kirche 287 Kommunizierende. Dieser schwerfällige, mißtrauische Kern hat anno 1919 den Genossen Bela Kun allein durch seine Passivität gestürzt. Dieser sonst unglaublich geduldige Kern beginnt bereits sich zu regen. Wenn die Dinge so weitergehen, könnte es geschehen, daß er knallend aufbricht...

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