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Unmut kann Realität werden

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Man kann aber auch nicht das offensichtliche Entgegenkommen der Sowjetzonenregierung übersehen. Schon vor der Einigung über die Ausgabe von Passierscheinen war Ost-Berlin offensichtlich für den Besuch aus dem Westen herausgeputzt worden. Am Brandenburger Tor brannte zum erstenmal wieder ein Tannenbaum. In den Verhandlungen zeigte sich der gute Willen der Ost-Berliner Behörden. Auch später, als die Verhältnisse unter den Schlange stehenden Menschen an den sechs Ausgabestellen immer unerträglicher wurden, zeigten sie Verständnis und schickten statt knapp hundert, schließlich mehr als zweihundertfünfzig Postler, obwohl das im Grunde gar nicht in ihrem Interesse war. Ein Großteil der Schwierigkeiten ging ja, wenn man einmal von der Grundtatsache der Mauer absieht, auf den West-Berliner Senat und seine Bemühungen zurück, alles zu vermeiden, was als Anerkennung der DDR ausgelegt werden könnte. In den durch stundenlanges, nicht selten auch vergebliches Warten in eisiger Kälte zermürbten Menschen staute sich daher mancher Unmut an, der nicht nur Ulbricht galt. Er kann eines Tages zu einer höchst unbequemen Realität werden, wenn die verlockenden Angebote aus dem Osten weniger harmlos sind wie diesmal.

Allerdings sitzen, so, wie die Dinge jetzt laufen, Abusch und Brandt sozusagen in einem Boot Für beide ist jeder Zwischenfall, der an der Mauer geschieht, höchst gefährlich. Für die Ost-Berliner Regierung, weil sich während der Verhandlungen deutlich zwei Richtungen abzeichneten, von denen die eine die ganze Passierscheinfrage offenbar strikte ablehnt. Allerdings scheint Moskau mit der Passierscheinaktion einverstanden zu sein. Nicht weniger gefährlich ist die Lage für Brandt. Er hat sich zwar Rückendeckung in Bonn geholt, die ihm bereitwilliger gegeben wurde, als dies wohl unter Adenauer der Fall gewesen wäre, aber Erklärungen des ehemaligen Ministers für gesamtdeutsche Fragen, Lemmer, im Berliner Abgeordnetenhaus und seines Nachfolgers Barzel in Bonn zeigen, daß starke Kräfte innerhalb der CDU nur auf den Augenblick warten, wo irgend etwas in der Passierscheinaktion schief läuft. Zwar hat vor den scharfen Erklärungen der SPD und FDP im Berliner Abgeordnetenhaus die CDU den Rückzug antreten müssen, aber Barzels fatale Bemerkung, die Berliner nähmen von den Amerikanern die Sicherheit, von Bonn das Geld und vom Osten die Passierscheine, zeigt, daß starke Kräfte in Bonn die strikte und durch keinen Kompromiß belastete Einhaltung der Nichtanerkennung des Zonenregims für wichtiger halten, als die Aufrechterhaltung menschlicher Kontakte in beiden Teilen der geteilten Stadt.

Hier aber zeigen sich die eigentliche Schwierigkeiten: Am 3. Januar sollen die letzten Passierscheine ausgegeben werden. Mann und Frau, Eltern und Kinder, Braut und Bräutigam sollen danach wieder auf unbestimmte Zeit voneinander getrennt sein. Läßt sich das überhaupt durchführen? Kann man Hoffnungen wecken und dann wieder zerstören? Der gefundene Kompromiß läßt sich aber auf unbestimmte Zeit nicht verlängern. Weder ist es möglich, Postbeamte auf die Dauer ihrem eigentlichen Zweck zu entfremden, noch kann die gefundene Kompromißformel eine Dauerlösung darstellen. Bei den Verhandlungen, was künftig geschehen soll, werden Brandt und mit ihm die Bundesregierung große Schwierigkeiten vorfinden, größere jedenfalls, als im Dezember 1963. Mit einigem gutem Willen werden auch sie überwindbar sein, aber Brandt und Erhard werden mit einer harten Opposition aus den Reihen der CDU rechnen müssen. Von dem, was in Berlin in den ersten Jännertagen geschieht, wird daher viel für die deutsche Innenpolitik abhängen. Werden sich die Tore wieder schließen oder wird sich eine Formel finden lassen, bei der Westdeutschland und West-Berlin das Gesicht wahren können? Kann die Regierung von Pankow noch einmal auf eine indirekte Anerkennung verzichten, oder wird die dortige Opposition darauf bestehen? Das sind Fragen, deren Beantwortung nicht einfach ist.

Die Gespräche Erhards mit dem neuen amerikanischen Präsidenten Johnson sind durch diese neu aufgetauchte Frage mit Problemen be- ' lastet, von denen man zum vorgesehenen Zeitpunkt des Erhard-Besuches bei Kennedy noch nichts wußte. Ein Stein ist ins Rollen geraten, der nicht leicht wieder zum Stehen gebracht werden kann. Es wird viel Geschicklichkeit verlangen, wenn man Lösungen finden will, die den Berlinern Erleichterungen bringen und doch den Standpunkt der Bundesregierung nicht verwässern. Gelingt das, so kann das Jahr 1964 für die deutsche Innenpolitik eines der wichtigsten Jahre seit 1945 werden.

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