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Unruhiges Nordafrika

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Eine der gegenubrtigen großen Sorgen Frankreichs bildet heute Nordafrika. Die Unruhe steigert sich in diesen Gebieten da und dort bis zum Kleinkrieg. Unser nordafrikanischer Mitarbeiter schöpft seine Darstellung aus persönlichen Erfahrungen, die ihm die Bereisung dieser Länder vermittelt. Die

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Eine der gegenubrtigen großen Sorgen Frankreichs bildet heute Nordafrika. Die Unruhe steigert sich in diesen Gebieten da und dort bis zum Kleinkrieg. Unser nordafrikanischer Mitarbeiter schöpft seine Darstellung aus persönlichen Erfahrungen, die ihm die Bereisung dieser Länder vermittelt. Die

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S. S., Algier, 1. März

Bei der Beurteilung der nordafrikanischen Begebenheiten müssen vor allen Dingen zwei Faktoren berücksichtigt werden: Dem Drang der afrikanischen Völker nach Selbständigkeit, Freiheit und Gleichberechtigung begegnet auf der anderen Seite die Trägheit, mit der man an die Probleme herangeht, zögernd, unter großen Opfern erworbenen Besitz preiszugeben. Diese Haltung wird besonders durch jene Kreise gestützt, die materielle Interessen im nordafrikanischen Raum besitzen.

Nordafrika, seit Jahrhunderten mit Europa verbunden, bildet ethnographisch und geographisch eine Einheit, verwaltungstechnisch, im gewissen Sinne auch staatsrechtlich ist es in drei Gebiete (Algerien, Tunesien, Marokko) unterteilt.

Nordafrika zählte 1921 11 Millionen Einwohner, heute sind es 20 Millionen. Nur 1,5 Millionen Europäer wohnen in diesem ausgedehnten Gebiet. Frankreich vollbrachte hier ohne Zweifel eine gewaltige kolonisatorische

Arbeit, auch in der Hebung des sozialen und geistigen Niveaus der Bevölkerung. Durch eine moderne Gesundheitsfürsorge wurde die Kindersterblichkeit so erfolgreich bekämpft, daß ein starkes Anwachsen der Bevölkerung zu verzeichnen ist. Jährlich steigt die Einwohnerzahl um 400.000. Mit dieser enormen Zunahme hat bisher die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Urbarmachung des Landes und die Industrialisierung nicht vollen Schritt halten können. Trotz großer finanzieller Opfer Frankreichs gelang es nicht, genügend Arbeitsgelegenheit für die in stürmischem Tempo herandrängende junge Generation zu schaffen. Die latente, oft nicht erfaßbare Arbeitslosigkeit und der im Vergleich zu den Europäern noch sehr niedrige Lebensstandard nähren die ständige Unzufriedenheit. Doch sind noch nicht alle Hilfsquellen erschlossen.

Nordafrika besitzt mit seinen fruchtbaren Gebieten an der Küste und im Landesinneren, mit seinem durch das Klima bedingten Reichtum an Obst und Gartenbauprodukten, mit seinen Naturschätzen und Rohstoffen eine wirtschaftliche Bedeutung ersten Ranges. Nordafrika bringt heute jährlich schon über 5,7 Millionen Tonnen Getreide auf, es liefert die verschiedensten Erze in großen Mengen (u. a. 5 Millionen Tonnen Erz, 7,5 Millionen Tonnen Phosphate usw.). Kenner sind überzeugt, daß sich in den Gebirgen und in der Sahara noch unent-deckte, ergiebige Lagerstätten von Kohle und Erz befinden. Das sind Besitztümer, die Bedeutung für die Wirtschaft und die Ernährung Europas haben. Die Blockade im zweiten Weltkrieg zeigte, daß Europa ohne die afrikanischen Rohstoffquellen und den Getreidereichtum zur Hungersnot verurteilt gewesen wäre. Der Krieg zeigte übrigens auch Nordafrikas strategische Bedeutung. Heute benützt die französische Armee bedeutende Stützpunkte für die Ausbildung ihrer Einheiten, die Amerikaner haben in Marokko drei Luftstützpunkte angelegt und sind jetzt daran, einen vierten zu bauen.

In Europa ist man vielfach geneigt, Nordafrika als ein Ganzes zu behandeln, übersieht aber dabei, daß die Entwicklung in den einzelnen Gebiete ganz verschieden ist und deutliche Unterschiede bestehen zwischen Algerien, das seit 120 Jahren unter französischem Einfluß steht, Tunesien, das seit 80 Jahren französisches Protektorat ist, und Marokko, in dem eigentlich erst nach dem ersten Weltkrieg der europäische Einfluß deutlich wurde.

Algerien, ehemals französische Kolonie, wurde im Jahre 1947 der französischen Republik als gleichberechtigter Teil einverleibt. Der Algerier erhielt die französische Staatsbürgerschaft und volle Freizügigkeit sowie Arbeitsmöglichkeit in Frankreich. Das Land erhielt ein Statut, in dem die Gleichberechtigung, das Wahlrecht und die Errichtung autonomer Gemeinden und Bezirke garantiert wurde. Die Verwirklichung dieses Statuts ließ jedoch auf sich warten, sie ist bis heute noch nicht vollzogen. Die vielen Regierungswechsel in Paris verhinderten eine Planung auf längere Sicht. Hindernisse kamen auch aus einer Opposition jener Kreise, die mit dem Fall des alten Kolonialsystems eine Beeinträchtigung ihrer materiellen Interessen in Algerien befürchten. Mendes-France hatte vergeblich einen Versuch unternommen, das Statut zu verwirklichen. Begreiflicherweise erhielt die nationalistische Propaganda in Algerien, die auf die Selbständigkeit des Landes hinzielt, durch die Verzögerung der Reformen neue Nahrung, zudem gefördert durch eine regsame Kommunistische Partei. Der Guerillakrieg, der im algerischen Bergland im November 1954 einsetzte und auch heute noch andauert, ist eine ernstzunehmende Erscheinung. Die Freischärler üben auf die Bevölkerung einen materiellen, mehr noch einen moralischen Druck aus; die Partisanen gebärden sich als die Träger der nationalen Freiheit. Sie werden eines Tages von der Bevölkerung zu nationalen Helden erhoben werden, falls nicht eine rechtzeitige Befriedung durch Reformen eintritt.

In dem Fürstentum Tunesien, einem Protektorat Frankreichs, ist die Situation anders geartet. Der Protektoratsvertrag besagt, daß Frankreich diese Schutzherrschaft so lange auszuüben habe, bis das Volk für die Selbstverwaltung reif geworden sei. Die nationaltunesische Bewegung, die in der Partei des „Neo-Destour“ verkörpert ist, beruft sich darauf, daß das Volk während dieser 80 Jahre französischer Schutzherrschaft seine Reife erreicht habe und das Recht besitze, die Verwaltung des Landes in die eigenen Hände zu übernehmen. Als einzige nationale Partei besitzt der „Neo-Destour“ einen radikalen, sehr einflußreichen Flügel, der weitgehende Forderungen nach völliger Unabhängigkeit stellt und mit den Guerillas sympathisiert, die im verflossenen Jahr in Mittel- und Südtunesien regelmäßige Feldzüge unternommen haben. Mendes-France hatte bald nach seiner Ernennung auch die tunesische Frage regeln wollen. Tunesien sollte nach seinem Plane volle Autonomie erhalten. Die Vertretung dem Ausland gegenüber, die Finanzen und die militärischen Angelegenheiten sollten Frankreich vorbehalten bleiben. Die französisch-tunesischen Verhandlungen zogen sich jedoch in die Länge, immer wieder erschwert durch neue Forderungen des radikalen tunesischen Flügels und der wachsenden Opposition der in Tunesien ansässigen Franzosen. Der Sturz Mendes-Frances brachte die Verhandlungen zum Stillstand.

Im französischen Protektorat Marokko ist die Spannung stärker als in den anderen Gebieten Nordafrikas. Hier stehen Technik und Urzustand hart nebeneinander. Kamele neben neuen amerikanischen Autos, uralte hölzerne' Pflüge neben modernen landwirtschaftlichen Maschinen, Wolkenkratzer unmittelbar neben elenden Eingeborenenhütten — das sind alltägliche Bilder. Seit dem ersten Weltkrieg verrichtete die französische Verwaltung eine beispielhafte zivilisatorische Tätigkeit, die die Anerkennung der Welt verdient. Aber der Kontakt mit den Errungenschaften der Neuzeit hat auf die noch in mittelalterlicher Lebens- und Arbeitsweise befangenen Marokkaner wie ein Schock gewirkt. Sie sehen sich einer fremden Welt gegenüber. Erst die kommenden Generationen werden den Sinn der Technik verstehen und sich mit ihr befreunden.

Die städtischen Massen haben sich ihrer Umgebung entfremdet. In den Städten, in denen nach dem Kriege die Industriebetriebe wie Pilze aus der Erde schössen, ist eine eingeborene Arbeiterschaft entstanden. Mit ihr eine Fülle sozialer Probleme, die nach einer Lösung drängen. Die Arbeiterschaft zieht Vergleiche mit den europäischen Verhältnissen und verlangt ungeduldig die gleichen Rechte und Möglichkeiten, wie sie der Europäer hat. Für geschickte Agitatoren sind diese unzufriedenen, wurzellosen Massen eine leichte Beute.

Im Landesinneren hingegen herrscht noch das alte feudale System. Die Familien- und Stammesoberhäupter üben hier die unumschränkte Befehlsgewalt über ihre Mitglieder aus. Je größer die Entfernung von der Stadt, um so ausgeprägter ist der Gegensatz. Im Gebiet des Atlas und Antiatlas und gar auf den von der Zivilisation unberührten Osthängen spielt sich das Leben wie vor tausend Jahren ab. Der hier herrschende Feudalismus ist auf unbedingtem Gehorsam begründet. Für diese Menschen ist der Europäer noch der Herr. Eine zweite Kluft trennt die Araber von den Berbern. Sie ist zwar nicht so tief, wie sie von den Gegnern Frankreichs oft hingestellt wird, kam aber in der jüngsten Geschichte Marokkos zum Ausdruck.

Eine umfassende nationalistische Bewegung, wie in Algerien und Tunesien, besteht in Marokko nicht. Das Volk ist noch zu ungeschult, um eine Sinndeutung nationaler und demokratischer Freiheit richtig zu erfassen. Immerhin besteht eine nationalistische Partei, die, vor zwei Jahren verboten, jetzt ihre Tätigkeit unterirdisch fortsetzt, unterstützt von arabischen Auslandsorganisationen und seit einigen Monaten vielsagend durch die Propagandasendungen des Radio - Budapest. Die ständigen Anschläge auf Europäer und franzosenfreundliche Marokkaner gehen zum Teil auf die Absetzung und Verbannung des Sultans Mohammed Ben Joussef im Sommer 1953 zurück, Akte, die eine tiefe Erregung in die Bevölkerung trugen. An seine Stelle trat Mohammed Ben Arafa, ein alter Mann, der auch bei den Gegnern Achtung genoß. Er vermochte sich nicht durchzusetzen. Heute haust er einsam in seinem Palast, den er aus Angst vor Anschlägen nicht mehr verläßt. Es sei dahingestellt, ob die Absetzung des Sultans ein Fehler war oder nicht. Breite Kreise sehen in dem Geschehnis .die Ursache allen Uebels. Ein Zurück gibt es nicht mehr, denn eine Rückberufung Ben Jous-sefs wäre ein gefährlicher Autoritätsverlust für Frankreich. Einer der Urheber der Absetzung Ben Joussefs war der Pascha von Marrakesch, El Glaoui, der unbeschränkte Feudalherr der Berber des Atlas, sozusagen der ungekrönte König über den Süden des Landes, und treuer Anhänger Frankreichs.

Angesichts dieser Lage entschloß sich Frankreich zu Reformen. Die Gleichstellung der Eingeborenen mit den Europäern und eine Sozialgesetzgebung waren die wesentlichsten Punkte des Reformplanes; sie stellten ein Minimum a notwendigen Zugeständnissen dar. Der Regierungswechsel in Frankreich, zum Teil auf die Opposition in Marokko ansässiger und materielle Verluste fürchtender Franzosen zurückgehend, verhinderte die Durchführung: Bis heute wartet das Volk auf Reformen. Indes hält der Terror unvermindert an.

Die künftige Entwicklung Marokkos hängt gänzlich von der Durchführung der Reformen ab. Zögert man noch länger, entschließt man sich nicht zum Handeln, so besteht geringe Hoffnung auf Ruhe und Ordnung. Es ist zu befürchten, daß dann die Unzufriedenheit auch die bisher loyalen Elemente erfaßt. Der für Europa wirtschaftlich und strategisch so wichtige Teil Afrikas wird dann, wenn er weiterhin sich in latenter Erregung befindet, einer großen Gefahr ausgesetzt sein. Es ist aber das eminenteste Interesse Europas, daß dieses Absatz- und Rohstoffgebiet erhalten bleibt. Europa hat alles Interesse daran, Frankreichs Bestrebungen, seine nordafrikanische Stellung zu halten, zu unterstützen. Noch ist es nicht zu spät. Die Eingeborenen haben die europäische Zivilisation kennen und werten gelernt. Ihr Geist ist auf Europa ausgerichtet, und sie sind sich — soweit es sich um die führende intellektuelle Schicht handelt — dessen bewußt, daß Nordafrika der europäischen Führung nicht entbehren kann. Läßt Frankreich jedoch, freiwillig oder gezwungen, diese Gebiete im Stich, dann tritt dort an die Stelle des heutigen Terrors das Chaos. Und dieses Chaos wird zum Zusammenbruch führen. Aus den Trümmern, die zurückbleiben werden, wird — und darüber kann kein Zweifel bestehen — ein System geboren werden, das Europa feindlich gegenüberstehen wird.

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