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Unser Herz schlägt österreichisch!

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Jouri Chteine hat seine österreichische Identität entdeckt. Der Kernphysiker aus Jekaterinburg gräbt nach seinen Wurzeln und bittet uns um Hilfe.

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Jouri Chteine hat seine österreichische Identität entdeckt. Der Kernphysiker aus Jekaterinburg gräbt nach seinen Wurzeln und bittet uns um Hilfe.

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dieFurche: Sie haben in Jekaterin-burg, das von 1924 bis 1991 Swerdlowsk hieß, der Stadt, in der die Familie des Zaren Nikolaus II. 1918 erschossen wurde, einen Altösterreicher-Bund gegründet Welche Verbindungen zu Österreich haben Sie?

Jouri Chteine: Vor nicht allzu langer Zeit wurde mein Großvater Vassilij, der aus politischen Gründen 1929 von der Ukraine in den Ural in ein Konzentrationslager bei Sulikamsk im Perm-Gebiet ausgewiesen und dort 1931 erschossen wurde, rehabilitiert. Aus seinen Unterlagen erfuhr ich, daß sein Vater Konrad hieß, Katholik war und 1848/49 mit einem Husarenregiment in die Ukraine gekommen war und dort geheiratet hatte. Konrad war gebürtig aus Steinamanger, heute Szombathely - er stammte also aus der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Ich machte mich auf die Suche nach meiner Identität und kam darauf, daß meine Wurzeln österreichisch sind, das heißt, daß meine Vorfahren aus dem heutigen Burgen-land stammen. Die Ahnen dieser „Burgenländer", damals Ungarn, waren katholische Friesen, die vor den Protestanten nach Österreich geflüchtet waren. Sie stammten aus dem Dorf Hude, weswegen sie in Westungarn als die „von der Hude" genannt wurden. In den napoleonischen Kriegen nach Bußland gekommen, wurden aus ihnen die Hudenski - mein eigener Name. Ich habe mich aber mittlerweile davon verabschiedet und den Namen meiner Mutter, Stein, französisch geschrieben „Chteine", angenommen. Auf der Suche nach dem Grab meines erschossenen Großvaters bin ich auf meine österreichische Herkunft gestoßen. Die Stelle, wo er erschossen wurde, liegt auf dem Gräberfeld bei der Wasserscheide der Flüsse Kama und Petschora im Ural, wo ungefähr 35.000 Kriegsgefangene aus dem Ersten Weltkrieg begraben liegen, darunter viele aus Österreich-Ungarn. Die Kriegsgefangenen sollten damals einen Kanal zwischen den beiden Flüssen graben, um den Transport von Erz aus dem Ural nach England zu sichern. Die Auswertung des Gräberfeldes stachelte mein Interesse an Österreich weiter an. Daher habe ich 1993 den offiziellen Altösterreicher-Bund in Jekaterinburg gegründet. Zu seinen Mitgliedern gehören nicht nur Nachfahren der wegen ihrer „teutonischen Abstammung" unter Stalin Verfolgten, sondern auch Nachkommen von Österreichern, die wegen der Ereignisse des Jahres 1934 fliehen mußten.

dieFurche: War die Metamorphose der letzten Jahre für sie sehr schwierig?

Chteine: Mein Herz ist dreigeteilt: ukrainisch, russisch, österreichisch. Als Kleinkind wurde ich von meiner Mutter aufgezogen - da wurde nicht sehr viel russisch gesprochen, sondern hauptsächlich deutsch, daneben auch französisch. Erst nachdem meine Eltern 1937 verhaftet worden waren,' übernahm meine russische Großmutter die Erziehung. Bei ihr lernte ich aus alten russischen Kirchenbüchern die Sprache. Meine Eltern kamen ins Lager im Ural, meine Schwester starb während des Krieges. Mich hat ein Jude unterstützt, dem ich bis heute dankbar bin. Über meinen Vater, der im Krieg dann Divisionskommandeur war und bis Leipzig kam, konnte ich die Technische Universität in Jekaterinburg besuchen, ich sollte mithelfen, den Kernschild für Buß-land zu bauen. Also wurde ich Kernphysiker. Mit 43 hatte ich einen Herzinfarkt, wohl infolge der ständig ausgesetzten Bestrahlung. Immer wieder muß ich deswegen einen Blutaustausch vornehmen lassen. Während der Perestrojka habe ich als Biophysiker gearbeitet. Es galt, die Psychologie künftiger Businessmen zu erforschen. Das war sehr interessant, unsere Tätigkeit war auf die Errichtung von Spitälern und Erholungsheimen für die neue Zeit ausgerichtet. Anfänglich dachten wir, es werde kein wilder Kapitalismus, sondern etwas Anständiges kommen: eine kapitalistische Wirtschaft mit sozialer Orientierung. Heute ist es ganz umgekehrt. Niemand braucht mehr, was wir gemacht haben. Bei uns gibt es 99 Prozent ganz Arme und ein Prozent Superreiche - und die fahren nicht mehr ans Schwarze Meer.

dieFurche: Was will die Gesellschaft der Altösterreicher in Jekaterinburg?

Chteine: Aus der Situation, in der ich mich befand, auf der Suche nach meiner Identität, und aus dem Bemühen, für die Altösterreicher im Ural, durchwegs arme l^eute, Bauern, etwas zu tun, entstand ein humanitäres Engagement, bei dem mir mein Freund Ernst Florian Winter sehr geholfen hat. Ich habe Winter in Wien in der griechisch-katholischen Kirche kennengelernt, habe die Ideen seines Vaters Ernst Karl Winter entdeckt - und daraus ist die Stiftung „Menschenwürdige Ökologie: Zum Andenken an Ernst Karl Winter" entstanden. Es geht uns Altösterreichern im Ural erstens um eine Verbindung zu unserer Urheimat. Keine Angst - niemand will auswandern, aber wenigstens erfahren, ob es noch entfernte Verwandte in Wien, in Österreich gibt. Zu einer Zeit, da wir unsere Identität unterdrücken mußten, ja nicht einmal kennen durften, wurden die Gräber unserer deutschsprechenden Vorfahren auch von Bussen liebevoll gepflegt. In der gesamten Ural-Begion leben bis zu 600.000 deutschsprechende Menschen, darunter viele aus den ehemalig österreichisch regierten deutschen Ländern. Wir als Altösterreicher sind zwar Mitglieder des hiesigen deutschen Bundes, aber wollen nicht von Deutschland aus „betreut", sondern von Österreich anerkannt werden. In uns lebt das alte Österreich in Bußland fort. Österreichische Kultur reicht bis in ärmliche Wohnzimmer in Jekaterinburg. Für die ärmsten Bauern unserer Gegend haben wir eine Landwirtschaftsförderung aufgebaut, dazu gehört die Versorgung mit Saatgut, gehören Praktikumprogramme in Österreich, Unterweisung im biologischen Landbau und in der Vermarktung. Die Gemeinde Wien und CABE-Österreich haben uns da schon sehr geholfen. Die Verbreitung der österreichischen Kultur ist eine weitere große Aufgabe von uns. Leider war das österreichische Außenministerium, das sehr EU orientiert ist, bisher nicht an uns interessiert: Kein Geld, hieß es in der Auslandskultur immer. Aber wir wollen uns nicht vom deutschen Goethe-Institut helfen lassen. Wir haben in Österreich unsere Wurzeln.

dieFurche: Wie groß ist Ihre Gruppe?

Chteine: In unseren Versammlungen kommen 100 bis 120, zum größten Teil junge Leute aus Jekaterinburg. Sie sind katholisch. Ein polnischer, gut ausgebildeter Priester, Georg Pat-schulski, ist unser Pfarrer. Wir unterstehen dem Bischof von Nowosibirsk, der flächenmäßig größten Diözese der Welt. Bischof Joseph Werth ist auch bei den Orthodoxen sehr anerkannt. Die meisten Katholiken wurden in der kommunistischen Zeit liquidiert. Jetzt gibt es wieder einen Zustrom zu uns. Aber noch haben wir keine Kirche, die alte ist gesprengt worden. Die Gottesdienste finden im Kammersaal eines größeren Hüttenbetriebes statt. Früher haben wir heimlich zu Hause immer christliche Bücher auf deutsch gelesen. Das ist ganz tief in unseren Herzen drin, auch unsere Minderheitsidentität. Deutsch war verboten, gerade deswegen haben wir es können müssen.

dieFurche: Was brauchen Sie am dringendsten?

Chteine: Natürlich gute Schulbücher aus Österreich - für Schüler wie für Studenten. Seit der Perestrojka fehlt jede Art neuerer Literatur, kein einziges Zeitungsabonnement ist in den hiesigen Instituten mehr erneuert worden - und der Westen schickt nichts. Unserer Wissenschaft und Technik fehlt alles. Von Österreich haben wir einmal eine Büchersendung bekommen, aber die wurde unserer Administration übermittelt. Wir brauchen direkte Hilfe, von Mensch zu Mensch. Es muß uns auch geholfen werden, die gegenseitige Entfremdung, gezüchtet in der kommunistischen Ära, zu überwinden.

Mit dem Kernphysiker

Jouri Chteine sprach Franz Gansrigier.

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