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„Unser Präsident hat uns belogen"

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Versprochen, nicht gehalten: Chiracs Politik trägt die Hauptschuld an der Misere in Frankreich. Muß Juppe resignieren?

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Versprochen, nicht gehalten: Chiracs Politik trägt die Hauptschuld an der Misere in Frankreich. Muß Juppe resignieren?

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Eine sehr gefährliche Lage ist es zu glauben, daß man versteht", schrieb ehmal der Dichter Paul Valery. Als Premierminister Alain Juppe am 15. l^ovember seinen Plan zur Reform de: französischen Krankenkasse vor dem Parlament verteidigte, fanden die meisten Experten und Beobachter, es sei ein guter und tapferer Plan. Auch links war man eher dieser Meinung. Etwa eine Woche später fing der Streik an, und am Mittwoch, 15. Dezember, wurde seit 20 Tagen ununterbrochen gestreikt. Eine schnelle und endgültige Lösung ist keineswegs auszumachen. Niemand, nicht einmal Juppe, glaubt, die Lage noch zu verstehen.

Wie kam es so weit, was ist eigentlich passiert? Mm kann entweder mit Zahlen oder nit vernunftwidrigen Angstgefühlen intworten. Beides hat zweifellos zu dieser wirtschaftlich für Frankreich sehi schlimmen Lage beigetragen. Geben wir zuerst eine soziologische Erklärung und lassen wir Zahlen später sprechen

Im Mai 199f haben die Franzosen Jacques Chirac zum Präsidenten gewählt. Er hatte Vieles und Schönes versprochen - und die Leute, wie war das möglich?, glaubten daran. Er versprach weniger Steuern, mehr Arbeit, mehr Solidarität, weiiger Unterschied zwischen Arm und Beich. Kurz: Chiracs Wahlkampagne wurde mit den Werten des Linksgaullisten Philippe Seguin gestalte;; aber sobald Chirac das Land in die Hand genommen hatte, ernannte er Juppe zum Premier. Diesei brauchte sechs Monate, um festzustellen, daß er nichts anderes könne, alsdie Politik seines Vorgängers, Edouard Balladur, zu betreiben. Aber die Bevölkerung, und das hatte sie ja klar in den Urnen ausgedrückt, wollte Balladur nicht, sie hatte für den ande-en votiert.

Ende Novenber 1995 ging den Franzosen also ein Licht auf: Sie wollten ihren Präsidenten lieben und dieser hatte sie beogen. Dieser und sein Begierungschei sanken also in den Umfragen sehr, sehr tief.

Nehmen wir jetzt die Zahlen her: Der Krankenkcsse fehlen jedes Jahr sieben Milliarden Francs. Der Steuerpflichtige in Frankreich zahlt monatlich 23 Prozent seines Verdienstes an den Staat. Darunter 2,4 Prozent für die CSG (Contribution sociale Genera-lisee: Genereller Sozialbeitrag), eine Steuer, die der Sozialist Michel Bocard erfunden hatte und alle anderen natürlich weiterführten.

Da Juppe diese Steuer nicht einfach endlos erhöhen konnte, erfand er eine neue, die die gleiche ist, aber diesmal BDS genannt wird - für Bem-boursement de la Dette Sociale, Rückzahlung der sozialen Schulden. Der Name schon, man fühlt es, ist nicht gut. Er gibt den Leuten nicht viel Hoffnung für die Zukunft und er klingt auf Französisch genauso schlecht wie auf Deutsch. Diese neue Steuer soll ein Aufschlag von 0,5 Prozent sein. Anders gesagt, der französische Steuerzahler hätte also statt 23 Prozent 23,5 Prozent seines Verdienstes abliefern müssen. Aber nicht deshalb haben die Eisenbahner und gleich danach die Arbeiter der Pariser U-Bahn den Generalstreik angefangen. Es war, weil Juppe auch vorhatte, ihre Privilegien zurückzunehmen: Pension mit 50 für alle fahrenden Angestellten.

Als sie diese Privilegien bekamen, im Jahre 1947, war es eine schlimme Sache, Zugfahrer zu sein. Man hätte auch denken können, daß die Bevölkerung eine solche Forderung nicht unterstützen würde. Falsch! Als ganz Paris am Dienstag, 4. Dezember, total immobilisiert war durch einen 600-Kilometer-Stau, standen die Pariser lächelnd hinter den Eisenbahnern. Sie verstanden deren Forderungen. Obwohl jeder zahlen muß, obwohl kein Zug im Lande und keine Metrö in Paris fuhr, unterstützte man die Eisenbahner.

Premierminister Juppe brauchte 17 Tage, um zu verstehen, daß er nicht ganz verstanden hatte. Aber am Sonntag, 10. Dezember, sprach er endlich im Fernsehen das Wort aus, das er so lange nicht aussprechen hatte wollen: Ne-go-ciations: Verhandlungen! Und am Montag dieser Woche fing man an, zu verhandeln. Mit allen Gewerkschaften. Aber die schwierigste Verhandlung für Juppe wird zweifellos die mit dem Syndikat F.O., Force Ou-vriere (Arbeiterkraft), werden, dessen Chef Marc Blondel heißt. Und dieses Syndikat führt lediglich die französische Krankenkasse.

Der Premierminister wollte dieser Führung ein Ende machen, indem er die Kasse den Abgeordneten im Parlament übergeben wollte: Sie sollten den Haushalt führen und nicht mehr Gewerkschaft und Staat zusammen. Das war so gut, wie Marc Blondel seinen Knochen wegzunehmen. Eine gesunde Maßnahme für die Krankenkasse.

Und doch war das Land auf den Straßen. Und Juppe fing an zu verstehen, daß es nicht länger vernünftig wäre, Mut mit Starrsinn zu verwechseln. Er machte also einen Schritt zurück, was die Forderungen der Eisenbahner betrifft, aber keineswegs, was die Krankenkasse anbelangt.

Am Sonntagabend, 10. Dezember, hat er im Parlament sogar eine sehr unpopuläre Maßnahme getroffen: Er machte einen Zugriff auf Artikel 49,3 der Verfassung, einen Artikel, der der Begierung erlaubt, ohne Abstimmung im Parlament gewisse Maßnahmen zu treffen.

Juppe wird also nicht verhandeln über die Krankenkasse. Wie werden die Franzosen darauf reagieren? Das wird wahrscheinlich die Straße sagen. Aber letzten Sonntag schrieb ein Vertreter der Gewerkschaft CGT (kommunistisch gesinnt und sehr stark bei den Arbeitern repräsentiert) folgendes: „Was wir wollen, ist Juppes Bücktritt. Würde er abdanken, dann könnten wir reden. Jedermanns Ehre und Ehrgeiz wären gerettet, nur nicht, was ihn betrifft. Aber das ist nicht unser Problem."

Nein, das ist Präsident Chiracs Problem. Und zur Zeit hat er keinen anderen möglichen Begierungschef. Außerdem, würde Chirac sich heute von Juppe trennen, so würde er im In-und Ausland seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen.

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