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Unsere Geburt aus dem Tode

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In den Märztagen des Jahres 1938 begann die Geburt eines neuen Österreich.

Ein Mensch hat nur einen Geburtstag. Wenn er ein kanonisierter Heiliger der Kirche ist, hat er zwei Geburtstage: als sein geistlicher Geburtstag wird sein Todestag im Heiligenkalender festgehalten. Ein Volk, eine Nation werden nicht an einem Tage geboren. Viele Geburtstage müssen sich da aneinanderreihen, bis aus lockeren Verbänden, Sippen, Länder, ein Volk, ein Staat erwachsen: mit dem gesunden Selbstbewußtsein, in dem allein die Widerstandskraft in Krisen und Katastrophen wurzeln kann.

Der Österreicher hat alle guten Gründe, dieses Wachsen eines neuen Selbstbewußtseins und das Wissen um die eigene Kraft zu bewundern: am Werden und Wachsen der Schweiz und der Niederlande etwa.

Geburtstag reiht sich da an Geburtstag: von Jahrhundert zu Jahrhundert. Immer dichter, immer bewußter wird das zusammenwachsende Leben, in der Eidgenossenschaft, in den Landen der Generalstaaten, aus denen die Niederlande hervorgehen.

Wie sieht es um die Geburtstage unseres heutigen Österreich aus? Die leidige Debatte um die Gestaltung des „Tages der Fahne“, die innenpolitischen Auseinandersetzungen um die geschichtliche Kontinuität in Nachfolge des alten Österreich bezeugen fast täglich, daß die Entwicklung unseres Staatsbewußtseins noch nachdrücklicher Pflege bedarf.

Hinter den unerfreulichen und im Hintergrund recht verbissenen Kämpfen um die Neubildung einer österreichischen Regierung steht im letzten auch diese Frage: Österreich wohin? Wohin, in diesem März 1963?

Mit schöner Offenheit hat in großen, schlagenden Lettern jene Partei, die als ihre Hauptaufgabe eine Sammlung der deutschnationalen Kreise betrachtet, in diesen Tagen verkündet: „FPÖ hat ihr Ziel erreicht: Wien auf EWG-Kurs.“

Wir können hier fragen: Welche EWG ist gemeint? Welche innere und äußere Verfassung der EWG? Welches Europa ist gemeint?

Wir werden uns über diese lebenswichtigen Fragen nur noch gegenseitig mehr verunklären (und uns verwirren lassen), wenn wir nicht die entscheidende Vorfrage uns stellen: Welches Österreich?

Schweizer, Skandinavier, Engländer, Amerikaner, Deutsche (ja, besorgte bundesdeutsche Demokraten!) fragen uns in diesen letzten Wochen immer besorgter: Wohin in Wien?

Welches Österreich? Das ist die Frage! Lautstark präsentiert sich uns in den letzten Jahren ein „Österreich“ von Männern, die stolz ihre Auszeichnungen aus einem Kriege tragen, in dem mit vielen anderen Völkern Österreich mit zu Grabe getragen werden sollte und viele hunderttausend Österreicher ums Leben gekommen sind. Ein Österreich, in dem unverhohlen in Zeitschriften und anderen Publikationen die Mörder und Totengräber Österreichs in den Jahren vor 1938 gefeiert werden. Ein Österreich, in dem jeder österreichische Patriot, der damals nicht für den „Anschluß“ war und heute nicht für einen anderen Anschluß ist, sich tagtäglich gefallen lassen muß, als „Wegbereiter des Kommunismus“ denunziert zu werden.

Es gehört zu den nicht geringen Irrtümern des persönlich so achtbarten und ehrenwerten letzten Kanzlers des Staates Österreich vor der Besetzung im März 1938, daß er sich durch eben diese Denunziation ins Boxhorn jagen ließ: Er weigerte sich, die wiederholten, immer dringender werdenden Angebote demokratischer österreichischer Sozialisten, tatkräftig in gemeinsamer Verteidigung von Volk und Staat in höchster Gefahr zusammenzuarbeiten, anzunehmen, da er ein allzu offenes Ohr für die ebenso dringenden und drängenden Vorstellungen der anderen Seite hatte: Von Berlin und München wurde ihm lautstark durch die nationalsozialistische Presse, durch gewisse (auch katholische) Rechtskreise zwischen Wien und Salzburg und Graz wurde ihm im Ton leiser, aber nicht weniger drängend vorgestellt: mit den Sozialisten kann man nicht zusammenarbeiten. Erst diese innerste mentale Selbstfesselung des damaligen österreichischen Bundeskanzlers öffnete den bösartigen Denunziationen den Raum: Österreich stehe vor einer kommunistischen Machtübernahme; schon verbrüdere man sich in der Vaterländischen Front mit den „Kommunisten“. Genau das und nichts anderes hat man dem damaligen Bürgermeister von Wien Richard Schmitz (dem ersten Generaldirektor des Verlages „Herold“ nach 1945) nach seiner Verhaftung nachgesagt.

Nun, wir kennen heute die Sozialdemokraten, die in den Jahren 1935 bis in den März 1938 hinein um Verständnis, dann in höchster Staatsnot, um eine Art Koalition am und um den Ballhausplatz warben. Es sind die Männer, die 1945 an die Spitze der neuen Sozialistischen Partei traten. Einer der führenden Repräsentanten der Wiener sozialistischen Arbeiterschaft, die damals den schwierigen und schwieligen Weg zu Schuschnigg suchten, war Franz Olah.

„Kommunistenwirbel in Wien“, „Kommunistische Unruhen in Österreich“: so „beschrieb“ damals die nationalsozialistische Presse im späten Februar und frühen März das erste öffentliche, gemeinsame Auftreten von Gruppen der Vaterländischen Front mit sozialistischen Arbeitern und Jugendlichen.

Merk's Wien! Merk's Österreich — im März 1963.

Wir gedenken in diesen Tagen in Schmerz, Sorge und Hoffnung der Märztage des Jahres 1938: in jenen Tagen haben sich die Totengräber demaskiert, in jenen Tagen haben sich aber auch Österreicher, die jähre-, ja jahrzehntelang als politische Feinde gegenüberstanden, als österreichische Patrioten begegnet, ja entdeckt.

Tod und Geburt: Wie nah sind sie da beieinander in jenen Märztagen von 1938, unvergeßlich in ihrem zarten, jähen Frühling, von dem ein Hauch, ein Schimmer selbst durch das Gitter mancher Gefängniszelle drang.

Tod und Tötung: Es wurde viel und rasch getötet (und in den Tod, in den Selbstmord getrieben) in jenen Tagen. Erstaunlich groß auch die Zahl der Totengräber: Wie mancher hohe Staatsbeamte, der eben noch sich als „vaterländisch“ deklariert hatte und an sehr hoher Stelle (etwa im Bundeskanzleramt) saß, offenbarte sich als „Illegaler“. Nicht die vielverspotteten „Märzveilchen“, Menschen, die in großer (berechtigter) Angst und in panischer Stimmung sich ein Hakenkreuzchen ansteckten, sind ein staatspolitisches Problem. Wohl aber jene vielen, die da plötzlich ihre wahre Gesinnung enthüllten und sich laut zu rühmen begannen, wie oft und wie wirksam sie diesen eben verendeten Staat unterwühlt hatten.

März 1938: Das ist der Tod, das sind die Totengräber, das ist die Schändung, das ist der beginnende Exodus: Austreibung der Juden, Verschickung von Österreichern aus allen nichtnationalistischen Lagern ins „Lager“. Dachau. Zunächst.

März 1938: Das sind Geburtstage des neuen Österreich. Konkret: der Zweiten Republik, die von 1945 bis zu dieser Stunde auf der Zusammenarbeit von Menschen aus den beiden großen politischen Heerlagern beruht, die sich 1918 bis 1938 so oft feindlich gegen-

überstanden. Auf dieser breiten Grundlage allein beruht bis heute, innenpolitisch, unser Staatsgefüge: auf Menschen, die aus der Bürgerkriegssituation 1918 bis 1938 gelernt und die Erfahrungen von 1938 bis 1945 nicht vergessen haben. Herzlich willkommen sind dazu alle die anderen, aus anderen Lagern, die ebenfalls in den Jahren 193 8 bis 1945 „mit“gelernt haben. Wir wollen sie nicht missen. Gerade jene „Nationalen“ nicht, die aus ihren bitteren Erlebnissen vom März 193 8 an zu den ersten aktiven Vorkämpfern eines neuen Österreichs gehören. Dies aber ist nicht zu übersehen; wer das tut, schielt und sieht scharf an der Wirklichkeit vorbei: Di in der österreichischen Passionszeit im März 1938 begonnene erstmalige Begegnung zwischen „Schwarzen“ und „Roten“ bildet bis heute das breite Fundament innerpolitischer Konsolidierung und Stabilisierung in Österreich. In diesem Sinne haben wir die Märztage 1938 als Geburtstage des neuen Österreich zu feiern: in Schmerz, Sorge und Hoffnung.

Unser Schmerz gilt unseren Toten (unseren Toten aller Farben!). Unsere Sorge gilt unserer Gegenwart. Unsere Hoffnung gilt unserer Zukunft.

Unsere Sorge: Wir leben im wesentlichen in einem „schwarz-roten“ Frieden, der, bei aller schwarz-braunen, rot-braunen, blau-roten Einfärbung eben auf der Koalition der beiden Regierungsparteien beruht.

Nicht erst die langwierigen Kämpfe um die Regierungsbildung haben ' gezeigt, daß diese Koalition weder zu ritualisieren, noch auch als ein heilskräftiger Fetisch Österreich in Gegenwart und Zukunft salvieren kann. Österreichs Innen- und Außenpolitik wird von Tag zu Tag mehr von Menschen mitbestimmt, die keine Erfahrung an den März 193 8 und seine Folgen haben oder die nur sehr fragwürdige „Erinnerungen“ haben. Nicht wenige von damals sind gestorben, nicht wenige sind verbraucht, nicht wenige haben seelisch und geistig zu sehr Fett angesetzt. Nicht wenige sind innerlich verholzt, wenn nicht versteinert.

Wie werden wir also jüngeren Generationen die Lehren und Erfahrungen des März 1938 übermitteln?

In einem beachtenswerten Leitaufsatz in den „Tiroler Nachrichten“ nimmt am 16. Februar dieses Jahres der Landeshauptmannstellvertreter Professor Dr. Hans Gamper zu gegenwärtigen Situationen in Österreich Stellung. Sein Artikel trägt den Titel „Dem Abgrund entgegen“. Gamper schildert ungeschminkt in direkter Ansprache der Verhältnisse, die zum März 1938 geführt haben, eine heutige Situation der Manipulierung des Volkes. „Ist nicht wiederum das Volk weitgehendst ausgeschaltet? Nicht einmal die gewählten Volksvertreter sind im Parlament seit 1945 zu ihren vollen verfassungsmäßigen Rechten gekommen. Gehen wir wirklich wiederum Zuständen entgegen, an die wir uns mit Grauen zurückerinnern?“

Schuschnigg, ein Mann einsamer Entschlüsse, hatte jenseits des Volkes „regiert“, und Österreich außenpolitisch in weitestgehende Isolierung einsacken lassen. In den letzten Monaten frügen sich viele Österreicher: Was wird eigentlich mit uns gespielt? Wer spielt mit uns? Ist das Geschick unseres Landes in die Hand einiger Parteisekretäre und einiger zahlenmäßig kleiner Klüngel und Cliquen gelegt?

Die Erfahrungen, die zum März 193 8 geführt haben, und die wir in den letzten Monaten vor dem März 1963 machen mußten, lehren beide: In schwierigen Zeiten müssen — gelinde ausgedrückt —breitere Schichten des Gesamtvolkes mit der politischen Willensbildung befaßt werden. Sonst wachen wir eines Morgens auf und erfahren aus einer Zeitung, daß unser Staatsschiff einen Kurs gewählt hat, in der Nacht, den kein Patriot verantworten kann.

Das Bewußtsein, ausgeschaltet zu sein von politischer Mitsprache, und das Gefühl einer täglich mehr schwindenden Rechtsstaatlichkeit in vielen privaten und öffentlichen Verhältnissen, schaffen eine Atmosphäre der Resignation für die Gutgesinnten, und jene prickelnde Luft, in der politische Hasardeure, Casinoagenten und Falschmünzer sich so wohl fühlen.

Gamper schlägt vor: „Es würde meiner Auffassung für den Anfang ein Fähnlein von sieben Aufrechten genügen. Hitler war einstens Mitglied Nr. 7 in der unseligen Bewegung, die Millionen Menschen ums Leben gebracht und zur Teilung Deutschlands führte. Wer will heute der Siebente sein in einer Gegenbewegung zum Guten? Wenn sieben sich zusammenfinden, dann werden es am übernächsten Tag sieben mal sieben sein und in zwei bis drei Monaten sieben zur Dritten, das wären 343 Aktivisten, mit 343 unerschrockenen Aktivisten aber stellt man ganz Tirol auf den Kopf.“

Hören wir auf die Mahnung aus Tirol. In Tirol hat sich der österreichische Widerstand 1945 zur Aktion verdichtet. Wir wollen nicht Österreich auf den Kopf stellen, sondern auf die Beine: auf die Beine eines gesunden österreichischen Selbstbewußtseins und Selbstbehauptungswillens.

März 1938 — März 1963: Es ist an der Zeit, daß die wachen Überlebenden von 1938 sich mit den erwachenden Österreichern von 1963 zusammenschließen: entschlossen, einem sauren Terror von Links und einem süßen Terror von Rechts die Stirne zu bieten. Es ist Zeit, die österreichische Aktion zu beginnen.

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