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Unter zwei Sonnen

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Nur wenige werden sich am 27. Jänner des Mannes erinnert haben, dessen 104. Geburtstag auf dieses Datum fiel, Kaiser Wilhelm II., und noch weniger werden sich der Zeichnung entsinnen, die er mit seiner eigenen allerhöchsten Hand angefertigt hatte. Das Bild war von der damaligen Hauptfrage der Weltpolitik inspiriert und es hatte zur Überschrift: „Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güterl“ Man sah darauf Deutsche und Franzosen, Briten und Russen friedlich zu kriegerischer Abwehr der „gelben Gefahr“ vereint. An eben demselben 27. Jänner 1963 veröffentlichte das Sprachrohr der chinesischen Regierung in Peking „2en-Min-2i-Pao“ einen inspirierten Artikel, der die kommunistischen Völker aufforderte, sich zur Wahrung ihrer heiligsten Güter gegen die Gefahren des Revisionismus zu vereinen.

Die Gegenüberstellung ist nicht zufällig. Sie führt in die verborgenen Tiefen des Gegensatzes, der sich innerhalb der Kommunistischen Welt mit schicksalhafter Notwendigkeit herausgebildet hat. Diese wird uns aber auch davoT bewahren, eben diese Gezweiung in ihrer allseitigen Auswirkung zu überschätzen. Der Hohenzoller dachte und sprach in den Kategorien und in der Terminologie seiner Zeit, oder noch eher, früherer Epochen, denen er geistig verhaftet war. Für ihn, der nur die weltanschaulichen, die politischen und noch etwa, im Unterbewußtsein, die rassischen Gegebenheiten als historische Triebkräfte kannte, war in jenen Jahren des Boxerkrieges die weiße, die christliche Welt, ein Ganzes, dem die Obgewalt auf dem Erdenrund vermöge einer höheren Gesittung, Moral und Kraft zustand. Dieser Aufgabe getreu, hatten die Nationen ihre Rivalitäten als Familienzwiste zu begraben oder mindestens zurückzustellen. Was dem einen seine Eule, ist dem andern seine Nachtigall. Von China her gesehen, sah die Sache wiederum so aus: die rothaarigen Teufel, die barbarischen Ji, dringen ins blumige Reich der Mitte, wie anderwärts in das ihnen an wahrer Kultur hoch überlegene Asien ein; sie plündern es aus und rauben ihm, mit der Unabhängigkeit, die Möglichkeit, nach eigener Fasson selig zu werden.

Inzwischen sind zwei Generationen vergangen. Diesmal ist die Lage zugleich ähnlich und umgekehrt. Man gebärdet sich so, als ob überhaupt alles nur vom Wirtschaftlichen her zu begreifen sei. Die Welt gliedert sich in zwei Hälften, eine kapitalistische, die sich als die freie bezeichnet, und eine kommunistische, die sich selbst sozialistisch und demokratisch nennt — welches zweite Attribut auch von den Kapitalisten in Anspruch genommen und den Kommunisten versagt wird. Die Kommunisten aber, die während beinahe eines halben Jahrhunderts sich als monolithischer Block den unter sich hadernden Ausbeuterstaaten gegenübergestellt hatten, zeigen seit etwa einem Lustrum immer deutlicher Merkmale einer wachsenden Aufspaltung. Selbstverständlich wird auch sie von den marxistisch-leninistischen Theoretikern wesentlich auf wirtschaftliche Ursachen zurückgeführt. Es sind nämlich beide aus Partnern zu Widerparten werdende Antagonisten der reinen Lehre Marx' und Lenins getreu um den weiteren Ausbau des Sozialismus und um den Triumph des Kommunismus bemüht. Sie geraten jedoch übereinander, weil der eine den andern und der andere den einen auf Abirrungen vom einzig richtigen Weg ertappt hat; weil keiner sich bekehren lassen will und weil jeder bei seinen Irrtümern beharrt. Ja noch mehr, weil die beiden Protagonisten, die noch miteinander reden könnten, hartnäckig kleine Anhängsel mit sich schleppen, die noch weit bösartiger sind, als die Prinzipale; Verbündete (oder wenigstens in einem Fall: Schützlinge), die den Ehrennamen Sozialisten nicht verdienen. So erweiterte sich die Kluft zwischen der Sowjetunion, der großen Freundin Titos, und China, dem Protektor En-ver Hoxhas, immer mehr. Allen gegenseitigen Friedensbeteuerungen zum Trotz. Es kann gar nicht anders sein.

Denn wie der Deutsche Kaiser in seiner schimmernden Wehr nur an erhabene und strahlende Dinge dachte und wie seine weit weniger über den Wolken schwebenden Berater und faktischen Teilhaber an der Macht auch nur im Lesebuchstil deklamierten, so ignorieren, oder geben vor das zu tun, die kommunistischen Koryphäen in Moskau und in Peking, daß in der kommunistischen Völkerfamilie die alten Rivalitäten zwischen großen Reichen Wiederaufleben, deren jedes seine eigenen Traditionen, sein eigenes machtpolitisches Interesse, seinen eigenen — bitte, nicht erschrecken! — Imperialismus besitzt. Ja es regten sich vereinzelt — nochmaliges Ersuchen um Verzeihung! — sogar rassische Instinkte und das Bewußtsein, daß man in Rußland doch eher manches mit Europa-Amerika gemeinsam hat; in China, daß man die erste der nichtweißen Nationen, mit der ältesten, glänzendsten, eigenständigen Zivilisation ist.

Der Konflikt zwischen Moskau und Peking hat sich zuerst an Albanien entzündet. Der Duodez-Stalin von Tirana, Enver Hoxha, hat mit sehr viel Mißvergnügen die Wiederannäherung Titos an die Sowjetunion verfolgt. Ihm paßte die ganze Richtung Chruschtschows nicht. Er suchte und fand Wege nach China, wo man das strategisch wichtige Land an der Adria gern als Vorposten benützte, um von dort aus Jugoslawien und der Dritten Kraft unangenehm zu werden; wenn es sein mußte, auch der UdSSR. Vom Kreml her wurde die Errichtung eines chinesischen Satellitenstaates auf dem Balkan mit erhöhter Freundlichkeit für Tito beantwortet. So wie das ein kaiserliches Rußland getan hätte, wollte auch die Sowjetunion nicht dulden, daß irgend jemand, und wäre es der andere große Bruder aus der sozialistischen Völkerfamilie, sich innerhalb der Moskauer Interessensphäre festsetze. Mit gar schelen Augen verfolgte Chruschtschow die Bestrebungen der Chinesen, in den europäischen Volksdemokratien, wo Stalinisten sich am Ruder behauptet hatten, engere Fäden anzuknüpfen: in der DDR, in der Tschechoslowakei, in Bulgarien vor allem. Endlich war es dem jetzigen Gebieter im Kreml besonders unangenehm, daß von Peking aus Verbindung zu Chruschtschows zwar gebändigten, doch nicht liquidierten Feinden in der Sowjetunion selbst bestand, etwa zu Molotow, und daß die Chinesen trachteten, die Opposition gegen Gomulka in Polen, gegen Kädär in Ungarn aufzumuntern.

LImgekehrt sahen Mao Tse-Tung, Liu Schao-Tschi und Tschu En-Lai Ostasien, Südostasien und Hochasien als ihr Einflußgebiet an, über das sie, wie einst die chinesischen Kaiser, ihre unmittelbare oder mittelbare Oberhoheit auszuüben hatten. Die beiden kommunistischen Weltmächte stießen da überall aufeinander: in der Äußeren Mongolei, in Nordkorea und in Nord-Vietnam. In der ersten dieser Volksrepubliken war Molotow eine Zeitlang als sowjetischer Botschafter tätig gewesen. Darüber, was er dort mit chinesischen Sendlingen und mit den „örtlichen Führern ausgekocht hat, ist in Europa nicht viel laut geworden.

Jedenfalls ist es dem Kreml in der letzten Zeit gelungen, den ganz Chruschtschow ergebenen Cedenbal als alleinigem Machthaber fest in den Sattel zu helfen. Nordkorea scheint bisher fest auf seiten der Chinesen zu verharren. Ho Tschi-Min aber, der hochgeschätzte Gebieter über Nordvietnam, sollte durch eine Sondermission des gewiegten sowjetischen Diplomaten Andropov Mitte Jänner für Moskau gekapert werden, und bei einem sofort darauf anschließenden Besuch des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Novotny schien das in förmlichen Erklärungen formellen Ausdruck zu finden. Seither erwies es sich freilich, daß der weise Ho nach wie vor zu Mao hielt. Daß diese sowjetischen Bemühungen in Peking Zorn erweckten, ist begreiflich. Am ärgsten aber gerieten die chinesischen Parteiführer und Staatslenker in Wallung, als die Sowjetunion im Konflikt zwischen Peking und Neu-Delhi eine den Wünschen und Auffassungen der zweiten kommunistischen Weltmacht widersprechende Haltung einnahm.

Das Beschwerderegister Pekings ist in dieser Hinsicht lang: Lieferung von Flugzeugen an Neu-Delhi, ungeachtet dessen heftigen Konflikts mit China; Verheißen weiteren Kriegspotentials, obgleich ein neuerliches Aufflammen der Kämpfe am Südfuß des Himalaya gar nicht ausgeschlossen war; ostentativ herzlicher Empfang in Moskau für den zu bedeutsamen Verhandlungen dort weilenden Generalsekretär des indischen Außenministeriums Nehru (einen Verwandten des Premierministers); ermunternder Trinkspruch Gro-mykos aus Anlaß des indischen Nationalfeiertags; Reise des polnischen Außenministers Rapacki nach Indien, nicht ohne daß dieser eine Zwischenstation in Moskau gemacht hätte. Wir brechen ab; die Liste könnte aber noch ergänzt werden. Der Besuch Rapackis, zweifellos des geschicktesten und angesehensten Diplomaten des Ostblocks, bietet besonders Stoff zur Aufmerksamkeit. Liest man die vielen Reden, die er zwischen 20. und 25. Jänner in Indien gehalten hat und die, mit denen er jeweils begrüßt und beantwortet wurde, dann sind der doppelte Zweck seines Aufenthalts und damit die Ziele der Indien-Politik Moskaus klar: moralische, fühlbare militärische und wirtschaftliche Hilfe für Indien; doch zugleich dessen Festhalten an einer Neutralität und Verhüten seines Abgleiten ins westliche Lager. Dazu tritt als Drittes: Rat zur Mäßigung im China-Streit, wodurch eine Erneuerung blutiger Kämpfe vermieden würde, während dennoch tiefes Ressentiment gegen den Agressor zurückbliebe, was wiederum die Bande zu Indien verstärke. Diese Gedankengänge hat, Hintergründiges selbstverständlich verschweigend, Chruschtschow in seiner Glüchwunschdepesche zum indischen Nationalfeiertag ausgedrückt, in der er „die bestehende enge Freundschaft und allseitige Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern (China und Indien)“ als Grundlagen des Weltfriedens rühmt. Und um ein Pünktchen dem I aufzusetzen, lobte der sowjetische Staatspräsident Breshnjew in seinem Telegramm die „gemeinsame Anhänglichkeit beider Völker an die Prinzipien der friedlichen Koexistenz“. Man vergleiche damit die seit vielen Monaten täglich ertönenden Stimmen aus China, die den Äther durchschallen oder in bitterbö^n- Charakteren aufs geduldige Papier gedruckt werden.

Es führte zu weit, außer der Hauptkriegsschauplätze des freundschaftlichen eiskalten Bruderkriegs zwischen Moskau und Peking auch der zahlreichen Nebenkampfplätze zu gedenken. Sie erstrecken sich über die gesamte Welt. Nur selten, wie in manchen lateinamerikanischen Ländern oder bei kommunistischen Parteien „kapitalistischer“ Staaten in Asien und Afrika, haben die Chinesen die Oberhand. Bei allen den spektakulären Zusammenstößen, die sich auf den großen Parteikongressen ereigneten — in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Italien und in der DDR — stand eine kompakte Mehrheit zu Chruschtschow. Der chinesische Delegationsführer Wu Hsiu-Tschuan hat sich bereits eine lehrreiche Praxis erworben, die ihm, zusammen mit seiner nationalen Tugend der Selbstbeherrschung, erlaubt, den orchestrierten, stürmischen und feindseligen Kundgebungen auf den Kongressen der Bruderparteien mit gleichgültiger, unbeweglicher Würde zu begegnen.

Freilich, und jetzt sei einmal ein Operettentext aus dem „Land des Lächelns“ zitiert: „Immer nur lächeln, immer vergnügt..., was auch das Herz dir betrübt..., doch wie's da drinnen aussieht, das geht niemand was an.“ Man muß aber kein überprofunder Herzspezialist sein, um das zu erraten. Und da kommt die Literaturgeschichte zu Hilfe. Die beiden Fürsten der polnischen romantischen Dichtung, Mickie-wicz und Slowacki, konnten einander nicht ausstehen, obzwar sie jeder das Genie des andern bewunderten. Für ihre Unvertragbarkeit aber fanden sie die stolze Formel: Zwei Götter auf einander entgegengesetzten Sonnen. Der Poet Mao Tse-Tung (er hat großartige Lyrik verfaßt) vermag es nicht hinzunehmen, daß von einer andern Sonne her Chruschtschow ihn überstrahle.

Unter diesem Gesichtspunkt des geschichtsnotwendigen Gegensatzes, nicht etwa zwischen Persönlichkeiten, sondern zwischen zwei Weltreichen, wird man die jüngsten Versuche beurteilen, die Einigkeit im kommunistischen Lager wieder herzustellen. Angesichts der wachsenden chronischen, und zumal der nach dem Bruch in Brüssel wie der Absage de Gaulies an die Briten akut gewordenen, Krise der westlichen Allianz finden es die klugen Machthaber in Moskau und in Peking angezeigt, das Streitbeil zeitweise zu begraben. Man mag zu einem sino-so-wjetischen Treffen auf höchster Ebene kommen, mit dazugehörigem Lächeln, Umarmungen, pathetischen Erklärungen der wechselseitigen Freundschaft und Einmütigkeit. Eine Art allkommunistischer Weltkonferenz wird vielleicht dazu den Rahmen bilden oder der Begegnung Mao Tse-Tungs mit Chruschtschow sei es vorangehen, sei es ihr folgen. Aufgeschoben ist dennoch nicht aufgehoben. Der Kampf um die Führung im leninistischen Block und, gemäß der Überzeugung der Marxisten, in der gesamten Welt, wird neuerlich aufleben. Er gehorcht einem stärkeren Gesetz als allen von den kommunistischen Ideologen verfochte-nen wirtschaftlichen Theorien: der geschichtlichen und politischen Logik.

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