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US-Mann und rote Mondfrau

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Das Urteil sachlicher Vernunft läßt keinen Zweifel daran, daß alle denkbaren Weltmim-Projekte, zusammengenommen, den praktischen und ideellen Nutzen nicht bringen können, der die unerhörten Anstrengungen bei ihrer Realisierung rechtfertigen würde, gleichgültig ob sie von den USA oder der UdSSR unternommen werden. Die militärischen Erwägungen aller Art, die immer wieder zu hören sind, haben zwar gute Gründe, doch sind die aktivierten Affekte auf beiden Seiten weit überdeterminiert. Die propagandistische Wirkung der sensationellen Leistungen auf technisch minderentwickelte Länder steht in keinem Verhältnis zu den Erfolgen, die man bei ihnen durch direkte Investition der Geldmittel erreichen könnte, und die Forschungsergebnisse sind, verglichen mit dem Aufwand, von unverhältnismäßig geringem Wert.

Um in die tiefere Motivation des Raketen-wettlaufs einzudringen, müssen wir uns daher die affektiven Investments in Erinnerung bringen, welche die Bevölkerung der UdSSR und der USA, besonders aber die Politiker beider Staaten, vollziehen, und vor allem die affektive Ausgangslage der Sowjets den Amerikanern gegenüber betrachten, denn die Sowjets waren es, die den Wettlauf eröffneten.

DER RUSSISCHE STALIN-KOMPLEX

Aus dem bisher Entwickelten ist leicht zu verstehen, daß die Sowjets den Amerikanern gegenüber ganz allgemein in einem ausgesprochenen Konkurrenzkampf stehen. Er zielt darauf ab - und diese Bestrebungen werden mit viel Zuversicht an die große Glocke gehängt -, die USA auf den verschiedensten Gebieten einzuholen oder zu übertreffen: in der Fleischproduktion, in der Aluminiumerzeugung und in der Herstellung von Kunststoffen. Während jedoch die Überholung in der Fleischproduktion noch einige Zeit auf sich warten lassen wird, haben sich die Sowjets mit einem anfänglich geheimgehaltenen gewaltigen Anlauf an die Spitze der RaketefflpredBtiWiwetzt; die Rakete wurde zum Idol, zum Grundprinzip des Überholdrangs, unÄ Söwjetmenschen mußten viel dafür opfern. Die Rakete soll, expressis verbis, die „Überlegenheit“ des sozialistischen Systems beweisen.

Obwohl die Konkurrenzhaltung, wie sie sich im Raketenwettlauf äußert, in der menschlichen Gesellschaft weit verbreitet ist, kann man sie doch nicht als normal bezeichnen. Im Gegenteil, es ist durchaus abwegig, wenn man einen Kühlschrank nicht nach Notwendigkeit und Neigung anschafft, sondern weil ihn der Nachbar auch hat oder weil dieser sich ihn nicht leisten kann.

Man bringe sich die Infantilität des Einholdrangs dadurch ins Bewußtsein, daß man sich vorstellt, wie die Bevölkerung in einem Wahlkampf in Österreich reagieren würde, wenn eine Partei etwa mit der Parole antreten würde, die CSR oder die Schweiz in der Schuh-, Butteroder Strumpfproduktion einzuholen. Die Bevölkerung würde nur lachen. Wir finden den verkrampften Einholdrang besonders häufig beim zweiten Kind der Familie, dessen stereotype Wendung „ich auch“ genügend bekannt ist, und wir finden, wie wir wiederholt zeigten, den Konkurrenzkampf in der ödipalen Konstellation, im Streben des Sohnes, den Vater zu übertrumpfen.

Bevor wir hierauf näher eingehen, müssen wir uns daran erinnern, daß die Konkurrenzsucht des Kleinen gegenüber dem Großen (Bruder oder Vater) immer auch eine heimliche Bewunderung bestätigt, die von den führenden Schichten in Rußland den USA gezollt wird und die alle Amerikaimitation anderswo in den Schatten stellt. Wir haben dies ja an Hand der Autotypen und des Baustils gezeigt. Die Sowjets sind gegenüber den USA in der Sohn-Vater-Relation fixiert. Ihr Kampf gilt einem Bild vom amerikanischen „Kapitalismus“, das längst keine Realität mehr hat, nämlich dem Monopolkapitalismus, der vielleicht vor fünfzig Jahren existierte — ebenso wie der Neurotiker an ein Bild des Vaters gebunden ist, das ziemlich alt und durch die psychische Entwicklung des Vaters oft längst überholt ist.

DER ZUG ZUR ROTEN MONDFRAU

Der Gegensatz zwischen „Kapitalist“ und „Proletarier“, analog dem von „Juden“ und „Ariern“ im Nationalsozialismus, beherrscht die sowjetische Affektivität. Dabei nimmt, wie wir ebenfalls schon genügend zeigten, der „Kapitalist“, also der Industrielle, gegenüber dem

„Proletarier“, also dem Arbeiter, eines Vaterstellung ein, und zwar insofern, als er eine Reihe von Überlegenheiten aufweist, die durchaus auch der Vater gegenüber dem Kind hat: er ist Befehlender, „Reiner“, Überlegener, Besitzender, Freiverfügender, während der Arbeiter ein Gehorchender ist, einer, der wenig besitzt, ein Unterlegener, ein Schmutziger. Der Industrielle ist der „Große“, der Arbeiter der „Kleine“.

Wir bringen nochmals in Erinnerung, daß die Eigentümlichkeiten des Wirtschaftssystems der USA einerseits und der UdSSR anderseits nun weiter dazu führen, daß die gesamten USA, und somit auch jeder US-Amerikaner, einen „kapitalistischen“, jeder Sowjetbürger einen „proletarischen“ Anstfich erhält, oMfehf Jkifrniich wirkt, daß ein amerikanischer Laufbursche „kapitalistisch“, ein Sowjetmillionär dagegen „proletarisch“ sein soll. Mit dem Versuch des „sozialistischen Systems“, das „kapitalistische“ zu übertrumpfen, stellt sich nun zwischen dem Sowjetstaat und den USA eine Relation her, die ein Investment individueller Vater-Sohn-Komplexe möglich macht. Daß ausgerechnet die Sowjets in den bürgerlich-kapitalistischen Konkurrenzkampf eintreten, der eigentlich der sogenannten „freien“ Wirtschaft zusteht, ist besonders merkwürdig.

Wir wissen im einzelnen nicht, wessen individuelle Vaterkomplexe bei den Sowjets zunächst in den Raketenwettlauf investiert wurden, ob es die Chruschtschows oder die anderer Sowjetpolitiker waren. Jedenfalls wurden fast alle Verantwortlichen angesteckt: das ist nur möglich, wenn bei allen verwandte Investmög-lichkeiten vorhanden sind. Im Sowjetsystem wird der Versuch unternommen, alle infantilen Autoritätsaggressionen gegen die Kapitalisten zu mobilisieren.

Man darf dabei nicht übersehen, daß die

Krankhaftigkeit der Situation nicht nur auf einer Seite zu suchen ist. Die US-Amerikaner haben schon beim ersten sowjetischen Anlauf ohne Zögern mitgespielt und pflegen seitdem den Raketenwettlauf mit einer mitleiderregenden Erbitterung. Wenn es zum „Sohnkomplex“ der Väter gehört, daß die Väter die Söhne „klein“ und „unten“ halten wollen, so demonstrieren die US-Amerikaner diesen Sohnkomplex gegenüber den Sowjets geradezu meisterhaft. Wir wollen diesmal noch weiter ins Detail gehen: Das vorläufige Zielobjekt des Konkurrenzkampfes ist eindeutig der Mond. Es fragt sich, welche Symbolbedeutung der Mond besitzt.

Auch hier wollen wir keineswegs leugnen, daß das Anzielen des Mondes als erstes Objekt auch sachlich astronomische Gründe hat. Doch aktiviert das Erscheinungsbild und die gesamte Tradition, wenn es um den Mond geht, wesentliche Affekte, deren Anreiz unterschwellig bleibt. (Dasselbe gilt und gälte von Sonne, Venus, Mars u. a., viel weniger jedoch von einem unsichtbaren Stern, der nur eine hohe Nummer hat.)

Solange noch kein Mensch seinen Fuß auf die Oberfläche des Mondes gesetzt hat, ist er in diesem Sinn außerdem noch „jungfräulicher“ Boden. Allerdings bedeutet das Auftreffen der sowjetischen Rakete am 13. September 1959 bereits eine Änderung dieses Zustands.

Nicht umsonst verkündeten schon anläßlich der sowjetischen Rakete vom 2. Jänner 1959, welche den Mond gar nicht traf, lärmende Lautsprecherwagen in den Straßen Pekings und in den Gärten des Kaiserpalastes, daß die Rakete bald ihr Rendezvous mit der Mondjungfrau haben werde. Denn nach einem alten chinesischen Märchen lebt auf dem Mond ein wunderschönes Mädchen...

Eine interessante Karikatur, „Die Mondsüchtigen“, setzt den Drang zum Mond, welcher die Sowjets und die US-Amerikaner beseelt, mit dem Nachtwandeln in Beziehung.

USA-ÜBERMÄNNLICHES

Nun könnte man meinen, diese Karikatur sei völlig belanglos, besonders, da sie österreichischen Ursprungs ist. In Wahrheit pflegt der Witz, wie Freud überzeugend zeigte, häufig un-eingestandene Triebtendenzen schlaglichtartig zu beleuchten. Wenn nun hier ein quasi unkontrollierbarer und unbewußter Drang zum Mond gezeigt wird, ein, intellektuell gesehen, „blinder“ Drang, dann ist dies beileibe nicht unsinnig. Die Sehnsucht zum Mond hin ist, wenn man sie als überdeterminiertl betrachtet in ihrem unbewußten Anteil sehr wohl zu erklären. Es ist also durchaus nicht sinnlos, die Anregung der vorliegenden Witzzeichnung aufzunehmen und sich mit dem volkstümlich als „Mondsucht“ bezeichneten Nachtwandeln zu befassen. Der Kern der in dem Ausdruck „Mondsucht“ enthaltenen Wahrheit liegt in der unbewußten Identifikation von Mutter und Mond. Was wissen wir nun tiefenpsychologisch über die „Mondsucht“? Über den Nachtwandel finden wir zwei tiefenpsychologische Arbeiten vor, eine von Sadger: „Über Schlafwandel und Mondsucht“, und eine von G. H. Grabner über „Psychoanalyse und Heilung eines nachtwandelnden Knaben“. Beide Autoren kommen zum grundsätzlich gleichen Ergebnis:

Das unbewußte Motiv des Nachtwandeins ist der Wunsch, zur Mutter zu gelangen. Die motorischen Antriebe, welche sich gewöhnlich in Träumen erschöpfen, setzen sich dabei in zielvolle Bewegung um.

In diesem Stadium der Entwicklung steht die Bemühung, durch die Kraft der Raketen zu imponieren, im Vordergrund. Die Sowjets erwiesen sich als Meister, was Größe und Gewicht betrifft, und zeigten damit ihre urwüchsig gewaltige Potenz, aber auch eine bemerkenswerte Parallele zu den Feststellungen des Kin-sey-Reports. Dort wird das Sexualverhalten unterkastiger Männer durch starke Kraft und Urwüchsigkeit, bei geringer Differenzierung des Reizspiels, das Sexualverhalten oberkastiger Männer jedoch durch verfeinertes Reizspiel und subtilere Raffinesse der Werbung charakterisiert. In ihrem Raketenprogramm legten die Sowjets besonderen Wert auf einen robusten Antrieb, die US-Amerikaner auf einen raffinierten Steuermechanismus: der Raketenbau der Sowjets bzw. der US-Amerikaner zeigt Tendenzen des unter- bzw. oberkastigen Sexualverhaltens.

Inzwischen scheinen die Sowjets die US-Amerikaner jedoch auch noch in der Vollkommenheit des Steuermechanismus überholt zu haben, doch wird von Seiten der USA mit ganz großen Mitteln der Versuch gemacht, auf beiden Gebieten den sowjetischen Vorsprung wieder aufzuholen. Zur Zeit haben die Sowjets jedoch eine Überlegenheit in beiden Bezügen.

Als zusammenfassende Darstellung unserer Analyse kann die sowjetische Karikatur zu ihrer eigenen Rakete betrachtet werden. Der Mond zeigt hier das dralle Gesicht einer sowjetischen Panjinka, mit stilechtem proletarischem Kopftuch. Sie lächelt der auf sie zufliegenden sowjetischen Rakete freundlich entgegen und bietet ihr Salz und Brot als Willkommengruß an. Die Frau Mond empfängt also mit unverkennbarer Erwartung die sowjetische Rakete.

Wir sehen, daß die Raketenkonkurrenz bis in Details hinein dem oben skizzierten ödipalen Kampf zwischen dem Kind (proletarische Sowjets) und dem Vater (kapitalistische US-Amerikaner) um die Mutter (Mond) entspricht, wobei die Welt durch diesen „friedlichen Wettstreit“ insofern entlastet wird, als man den Kampf um die „Mutter Erde“ nicht mehr mit der gleichen Heftigkeit zu führen braucht, da man den Mond als Ersatzobjekt benützen kann. Als nächstes Kampfobjekt steht ja bekanntlich die Venus auf dem Programm.

Die Milliardenprojekte der USA und der UdSSR zur Eroberung des Weltraums erweisen ihre Unterlagerung durch infantil fundierte Triebreaktionen mit entsprechenden Rationalisierungen, und die Erkenntnis dieser Tatsache sollte für Ost und West gleich heilsam sein.

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