6696076-1963_07_16.jpg
Digital In Arbeit

Vabanquespiel mit Frontbreiten

Werbung
Werbung
Werbung

Der Plan „Barbarossa“, das heißt, der militärische Angriff auf Sowjetrußland wurde der Obersten Wehrmachtsführung am 18. Dezember 1940 bekanntgegeben. Im OKH in Zossen fand zur gleichen Zeit eine vorbereitende Planübung zu „Barbarossa“ statt, für die Paulus, damals im OKH tätig, die Operationsstudien ausgearbeitet hatte; Endziel des Angriffs sollte die Linie Archangelsk-Wolga sein — obwohl Ende August 1939 ein Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Rußland abgeschlossen worden war. Das Ergebnis der Planübung war die Erkenntnis, daß die deutschen Kräfte für diese großräumige Operation zu schwach seien, besonders, daß keine Reserven mehr vorhanden wären. Im Gegensatz zu dieser seiner Erkenntnis vom Dezember 1940 hat Paulus im Juli 1942 sich nicht energisch dagegen gewehrt, daß zwei Stoßkeile nach Osten angesetzt werden sollten, einer nach Stalingrad zur Wolga, und der andere zum Kaukasus. Dabei hatte Paulus im Winter 1941/42 es an Ort und Stelle miterlebt, daß die 6. Armee am Donez 800 km Front kaum hatte halten können — es kam immer wieder zu russischen Durchbrüchen — und nun sollten die deutschen Kräfte zum Endpunkt der Sommeroffensive 1942 eine über 4000 km lange Front halten ... Daß Paulus zu diesem Vabanque-Spiel seine Zustimmung gab, indem er an führender Stelle mitwirkte, ist seine Schuld.

Nach der Einkesselung hätte Paulus zweimal, gleich am 19. November (bevor noch irgendein Befehl Hitlers vorlag) und zwischen dem 19. und 23. Dezember 1942 die Entschlußkraft aufbringen müssen, selbständig zu handeln. Nach dem 17. Jänner 1943 wurden entscheidende Teile der Roten Armee durch die Stalingradkämpfer nicht mehr gebunden; Paulus hätte also die wiederholten 'Aufforderungen der Russen zur Kapitulation befolgen können, da weiterer Widerstand nicht nur aussichtslos, sondern auch sinnlos geworden war. Paulus rechtfertigte jedoch 1957 sein Durchhalten in Stalingrad mit der Motivierung:

„Es steht auch dahin, ob ich durch ein befehlswidriges Verlassen der Position Stalingrad nicht gerade

Hitler die Argumente in die Hand gespielt hätte, die Feigheit und den

Ungehorsam der Generäle an den Pranger zu stellen und ihnen die ganze Schuld an der sich immer drohender abzeichnenden militärischen Niederlage aufzubürden. Einer neuen Legende, nämlich der des Dolchstoßes von Stalingrad, hätte ich den Boden bereitet, zum Nachteil des Geschichtsbildes unseres Volkes und der ihm so nottuenden Erkenntnisse aus diesem Krieg... Vor den Truppen und den Truppenführern der 6. Armee sowie vor dem deutschen Volk trage ich die Verantwortung, daß ich die von der Obersten Führung gegebenen Durchhaltebefehle bis zum Zusammenbruch durchgeführt habe. Friedrich Paulus.“'

Paulus war ein gewissenhafter Generalstäbler, dem entschlußfreudige Übernahme eines Risikos auf eigene Initiative nicht lag. Ohne das große

Risiko des Ausbruchs am 19. November oder am 23. Dezember blieb aber nur die andere Alternative: völlige Vernichtung der 6. Armee.

Ein Hinweis darauf, daß es Paulus im Verlaufe der Jahre nicht leichter geworden ist, diese Verantwortung und Gewissensnot zu ertragen, mag sein Sterbetag sein: genau 14 fahre nach dem Ende von Stalingrad, am 2. Februar 1957.

2. Manstein:

Der Chef des Generalstabes des Heeres, Zeitzier, hat wiederholt den Ausbruch der 6. Armee mit der Motivierung gefordert, eine Versorgung auf längere Zeit sei unmöglich. Das gleiche verlangte auch der spätere Feldmarschall von Weichs, den am 28. November (also neun Tage nach erfolgter Einkesselung) Feldmarschall von Manstein ablöste. Aber beide hatten ihre Überzeugung zu wenig energisch durchzusetzen versucht.

Manstein versprach Paulus, ihn zu decken, wenn er zum Schein Hitlers Wunsch erfülle, einen Korridor zu bilden (Deckname „Wintergewitter“), dann aber, während der Operation, zu erklären, er müsse nun raschestens ausbrechen und Stalingrad aufgeben (Deckname „Donnerschlag“), wenn nicht alles verloren sein soll, was sich noch an deutschen Soldaten im Kessel befindet. Als jedoch Paulus am 23. Dezember mit Fernschreiben dringend die Erlaubnis Mansteins zur Einleitung von „Donnerschlag“ erbat, vertröstete ihn Manstein, indem er erklärte, diese Vollmacht dürfe er jetzt noch nicht geben... Manstein hätte in den Kessel einbiegen oder seinen Chef des Stabes oder sonst einen über alles orientierten Offizier zu Paulus beordern müssen, um mit diesem ganz klar über den Ausbruch zu sprechen. Manstein wünschte den Ausbruch, aber er getraute sich nicht, ihn zu befehlen. Überdies scheint festzustehen, daß Manstein das sachlich unanfechtbare Dokument des kommandierenden

Generals von Seydlitz nicht an Hitler weitergeleitet hatte.

3. Göring:

Der Reichsmarschall hat aus Geltungsbedürfnis leichtfertig zugesagt, 600 Tonnen pro Tag einfliegen zu können, und damit wahrscheinlich den Ausschlag dafür gegeben, daß Hitler die 6. Armee nicht ausbrechen ließ. Angesichts der gleichzeitigen Beanspruchung der deutschen Lufttransportflotte auf dem afrikanischen Kriegsschauplatz war es aber nicht möglich, die für einen täglichen Nachschub von 600 Tonnen nötigen etwa 2000 Maschinen samt Besatzungen für Stalingrad bereitzustellen. Das wußten natürlich auch die Luftwaffengeneräle, die ihre klare Kenntnis der Dinge bei Hitler zuwenig energisch vorgetragen haben — etwa mit Rücktrittsdrohung, um zu zeigen, daß sie die Verantwortung nicht übernehmen können. So waren zum Beispiel im wichtigsten Abflughafen, Tatzinskaja, wo sich das Armeenachschublager befand, im November 324 Nachschubflugzeuge (Ju 52 und He 111) eingesetzt, von denen 126 abgeschossen wurden. Nur wenige Besatzungen waren friedensmäßig ausgebildet, die meisten hatten nur während des Krieges einen „Schnellsieder-kurs“ mitgemacht und konnten darum trotz all ihrer Aufopferung nicht „zaubern“; gerade das wäre aber beim Hineinfliegen und beim Starten in Pitomnik notwendig gewesen, wie mir erst vor wenigen Tagen ein Fliegerhauptmann versicherte, der 34mal nach Stalingrad eingeflogen war. Immerhin brachten die bis zur letzten persönlichen Hingabe einsatzbereiten Besatzungen im Tagesdurchschnitt knapp 100 Tonnen hinein und etwa 30.000 Verwundete und Kranke heraus — aber mit etlichen hundert Flugzeugen kann man eben bei ständig größeren Entfernungen nicht das schaffen, wozu etwa 2000 Flugzeuge notwendig gewesen wären.

4. Hitler :

Als grundlegend für das Maß der Verantwortlichkeit gilt wohl allgemein: Je höher einer steht, um so größer ist seine Verantwortlichkeit; denn um so weniger kann er in die Rolle (oder Ausrede) eines einfachen Befehlsempfängers flüchten. Hitler hat am 6. Februar 1943 Manstein gegenüber zubegeben:

„Für Stalingrad trage ich allein die Verantwortung! Ich könnte vielleicht sagen, daß Göring mir ein unzutreffendes Bild über die Möglichkeiten der Versorgung durch die Luftwaffe gegeben hat, und damit zum mindesten einen Teil der

Verantwortung auf ihn abwälzen. Aber er ist mein von mir selbst bestimmter Nachfolger, und deshalb kann ich ihn nicht mit der Verantwortung für Stalingrad belasten.“ Der irdischen Verantwortung hat sich Hitler durch Selbstmord entzogen.

Hitler war in seinem Handeln weitgehend von den Gedankengängen eines Nietzsche beeinflußt; letztlich stehen also über dem tragischen Geschehen von Stalingrad die dämonischen Züge des „Übermenschen“, der die Vielen nur als „Menschenmaterial“ gebraucht oder „verheizt“. Hitler hat offenbar von einem bestimmten Ze;t-punkt an (etwa vom 20. Dezember 1942 an) die Vernichtung der 6. Armee bewußt geplant, um eine noch größere Katastrophe und damit den völligen Zusammenbruch seines „Feldherrnruhms“ zu verhindern. Das Wesen des „Übermenschen“ ist sein Hochmut: Darum läßt er sich von keinem Fachmann dreinreden; er bleibt selbst dann unbeeindruckt, wenn Augenzeugen in das 2000 Kilometer vom Kessel entfernte Führerhauptquartier nach Ostpreußen kommen. E r weiß in Rastenburg besser, welche Höhe in Stalingrad unbedingt verteidigt werden muß. Außerdem trägt die Stadt an der Wolga den Namen seines Gegners, und Hitler hat sich nun einmal in seiner Rede am 9. November darauf festgelegt, daß Stalingrad in deutscher Hand sei und der deutsche Soldat diesen Boden nicht mehr aufgeben werde...

Erkenntnis der Überlebenden

Viele der bisherigen Stalingrad-Bücher und -Berichte blieben im rein Militärischen stecken, ohne auf die letzten Hintergründe dieser Tragödie einzugehen. Soll unsere Erinnerung daran nach 20 Jahren nicht nur ein resignierendes Zurückschauen sein, dann müssen wir aus dieser Niederlage der deutschen Wehrmacht lernen.

Die Wende des zweiten Weltkrieges wird so — über eine schmerzliche Erinnerung vieler Familien hinaus — zu einer ernsten Mahnung an alle Völker, was sie erwartet, wenn sie ihr Schicksal einem Nihilisten anvertrauen. Die Waffen eines etwaigen dritten Weltkrieges würden es einem solchen „Übermenschen“ ja ermöglichen, nicht „bloß“ 200.000, sondern zwei Milliarden Menschen in einen frühen Tod zu schicken. Stalingrad wäre dann nur die Einleitung zu einem schaurigen Requiem für den größten Teil der Menschheit gewesen, das Nietzsche, der Philosoph des Nihilismus, schon vor 80 Jahren prophezeit hat:

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung